4. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli 2001
Predigt über Johannes 8,3-11, verfaßt von Paul Kluge

Geeignete Gesänge:
Aus tiefer Not, EG 299; Jesus nimmt die Sünder an, EG 353; Mir ist Erbarmung widerfahren, EG 355; Komm in unsre arme Welt (Wochenlied), EG 428

Liturgische Anregung:
Die folgenden Texte könnten in der Eingangsliturgie von mehreren Stimmen verlesen werden: 2. Mos. 20, 14 + 17; 3. Mos. 20, 10; Spr. 12, 4; Jer 23, 10; Mt 5, 28, 32; 1.Kor. 7, 2. Anschl.:
Laut Statistik sind in Deutschland fast zwei Drittel der verheirateten Männer und mehr als die Hälfte der verheirateten Frauen mindestens einmal fremdgegangen. Aber ist etwas dadurch schon richtig, dass es fast normal zu sein scheint? Andererseits: Angesichts solcher Normalität ist Vorsicht geboten, den moralischen Zeigefinger zu heben. Denn auch hier gilt: Es ist oft so, dass wir bei anderen bestrafen, was bei uns selber noch viel schlimmer ist. Aus fremden Augen ist gut Splitter ziehen - im eignen Aug der Balken ist die Brille.

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder,

"Geh," sagte Jesus, "und sündige nun nicht mehr." Doch die Frau ging nicht. Blieb stehen, wo sie stand, reglos, hilflos. Sie war nackt, hatte Wunden am Körper, war verschmutzt. Denn mancher Stein war schon geflogen auf dem Weg bis zum Tempel. Kleine, spitze Steine, die brennenden Schmerz verursachten. Angespuckt hatte man sie und in die Gosse gestoßen. So stand sie da, reglos, hilflos. Und Jesus malte im Sand.

Ihr Körper begann zu zittern, sie schluchzte, ließ sich zu Boden sinken, weinte und weinte. Jesus blickte sie an und ließ sie weinen. Zog einen Umhang aus seinem Bündel und gab ihn ihr. Dann winkte er einem Jungen, der in der Nähe spielte, und schickte ihn nach Wasser. Die Frau trank davon, wusch sich ihr Gesicht, kühlte ihre Wunden. Jesus malte im Sand.

"Ich habe nicht gesündigt!" stieß die Frau schließlich hervor, und das klang ebenso trotzig wie verzweifelt. Jesus sah sie an, aufmerksam, abwartend. "Ich wurde gezwungen," sagte sie leise. Schwieg dann, doch ihre unruhigen Hände, das Zucken in ihrem Gesicht verrieten, dass sie reden wollte. Jesus setzte sich halb neben sie und wartete. "Ich wurde gezwungen," wiederholte sie. "Ein Pharisäer war es. Er hat mich erpresst. Hätte sonst meinen Mann an die Römer ausgeliefert. Mein Mann treibt Zoll ein für die Römer, das grenzt für die Pharisäer an Hochverrat. Doch mein Mann gehört auch zur Widerstandsbewegung unseres Volkes. Was er an der Zollstelle erfährt, gibt er gleich an seinen Kontaktmann weiter. Eben jenen Pharisäer. Als der mal in unser Haus kam und mich sah, starrte er mich nur gierig an. Kam dann öfter, steckte mir kleine Geschenke wie Duftöl zu. Sachen, die ich mir nicht leisten konnte. Ließ keine Gelegenheit aus, mich zu berühren, machte anzügliche Bemerkungen. Anfangs fand ich ihn unsympathisch. Mit der Zeit wurde er mir richtig eklig. Eines Tages, mein Mann war an der Zollstelle, kam er und sagte, dass er mich wolle. Ich bat ihn zu gehen. "Überleg es dir gut," sagte er, legte einen Beutel Geld auf den Tisch und ging. Ein paar Tage später kam er wieder. Drohte mir, meinen Mann bei den Römern als Spion anzuzeigen. Die fackeln da nicht lange, kreuzigen lieber einen mehr als einen weniger. - Na ja, ..."

Die Frau machte eine Pause, Jesus wartete ab. "Als junge Witwe," dachte er, "hätte sie kaum Chancen gehabt. Die alte Sitte, dass ein Schwager sich um sie zu kümmern hätte, wird kaum noch praktiziert. Sie hätte betteln gehen müssen oder sich als Sklavin verkaufen. Ich kann sie verstehen. Sie hat es für ihren Mann und für sich selbst getan. Richtig war es trotzdem nicht. Das Verhalten des Pharisäers aber erst recht nicht. Dieses Schwein!"

Die beiden letzten Worte hatte er vor sich hin gemurmelt, und erschrocken fragte die Frau: "Meinst du mich?" - "Nein, den Pharisäer. Der gehört bestraft." - "Ach," sagte die Frau verächtlich, "ihm wird man alles glauben, und mir gar nichts. Magst du mir noch zuhören?" Jesus nickte, und sie erzählte weiter: Häufig sei der Pharisäer nun gekommen, wenn ihr Mann im Dienst war. Und eines Tages hätte ein Schriftgelehrter sie angesprochen. Er wisse von ihrem sträflichen Verhältnis zu dem Pharisäer, der selber habe es ihm beim Wein erzählt. Er, der Schriftgelehrte, würde es ihrem Mann berichten und sie dem Hohen Priester anzeigen. Sie wisse ja, was das bedeute: Tod durch Steinigung. Er würde ihr aber beides ersparen, wenn er sie ab und zu besuchen dürfe...

Aus Angst habe sie nachgegeben, habe einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Auch keinen Menschen gehabt, mit dem sie sich hätte beraten können. Heute nun sei erst der Schriftgelehrte gekommen, und kurz darauf der Pharisäer. Der sei nach draußen gelaufen und habe Zeugen gerufen. Eigenartig, dass gerade einige Pharisäer auf der Straße standen. Dann hätte man sie, wie sie war, durch die Straßen zum Tempel getrieben, immer mehr Männer, auch Frauen hätten sich angeschlossen, sie geschmäht und beschimpft, unterwegs schon Steine gesammelt und nach ihr geworfen. Einige Frauen hätten ihr ins Gesicht gespuckt, an den Haaren gerissen. Frauen, von denen sie wusste, dass sie Liebhaber hatten. Und der Pharisäer habe sie mehrfach so getreten, dass sie in die Gosse gestürzt sei. Im Tempelbezirk angekommen, habe sie nur noch sterben wollen. "Doch jetzt lebe ich noch," sagte sie, "und ich weiß nicht, wie es weitergehen kann. Mein Mann wird mich schlagen, vielleicht erschlagen. Jedenfalls verstoßen. Wo soll ich dann hin? Ich wäre wohl besser tot. Doch nicht als Täterin: Als Opfer. Du hast mich am Leben erhalten. Aber ich weiß nicht, ob ich dir dafür danken soll."

Jesus schwieg. Dachte an den blind geborenen Bettler, den er geheilt und damit um seine Einnahmequelle gebracht hatte. Wäre es besser, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen, statt helfend, rettend einzugreifen? War, was er für gut und richtig hielt, für andere auch gut und richtig? Oder müsste er mehr von dem erfahren, was die Menschen für sich wollten; ihnen geben, was sie selber brauchten? Hatte nicht auch er die Frau zum Opfer gemacht, zum Opfer seiner Absicht, die anderen als Sünder zu überführen, als Heuchler bloßzustellen?

Er kaute an seiner Unterlippe herum, überlegte, wie er das Gespräch weiterführen, eine Lösung für die Frau finden könnte. "Warum sagst du nichts?" fragte die Frau, "Was soll ich jetzt tun, wo soll ich jetzt hin, ich, die überführte Ehebrecherin? Zu meinem Mann kann ich nicht zurück. Der Pharisäer und der Schriftgelehrte sind beide verheiratet. Römische Soldaten zahlen gut, habe ich gehört. Ist das meine einzige Chance?" - "Ich könnte mit deinem Mann sprechen," bot Jesus an, "als Zöllner verrät er unser Volk, als Spion verrät er seinen Dienstgeber. Versündigt sich an beiden. Moralisch steht er nicht über dir. Wie all die anderen, die keinen Stein geworfen haben. Jeder hat Dreck am Stecken." - "Ja," unterbrach ihn die Frau, "und je mehr Dreck einer am Stecken hat, um so eher wirft er mit Steinen. Wer einen dicken Klumpen Dreck hat, wirft nach dem, der ein Krümel hat. Bestraft den anderen statt sich selbst und hofft, sich so vor seiner gerechten Strafe zu schützen. Wir leben in einer völlig verlogenen Gesellschaft, halten Maßstäbe hoch, an die sich niemand hält. Doch alle tun so, als wären sie die reinsten Moralapostel. Kennst du einen Mann, der nicht einer hübschen jungen Frau lüstern und gierig hinterher blickt? Der sie nimmt, wenn er sie kriegen kann? Weißt du, wie viele verheiratete Frauen die Abwechslung lieben und pflegen? Und wie viele Frauen wie ich erpresst werden? Ich sage dir, es sind mehr, als du dir vorstellen kannst."

Sie hatte sich in Fahrt geredet, jetzt machte sie eine Pause. Sah Jesus abwartend an. Der malte wieder im Sand herum. Was die Frau ihn da gefragt hatte, konnte er nicht beantworten. Wollte es auch gar nicht wissen, es würde ihn nur deprimieren. Würde seinen Glauben an das Gute im Menschen erschüttern. Oder müsste er es nicht sogar wissen, müsste er nicht eigentlich die Menschen kennen und akzeptieren, wie sie wirklich sind? Doch müsste dann nicht so manches Gesetz novelliert, so manche gesellschaftliche Regel verändert, so manche moralische Norm überholt werden? Brauchten die Menschen etwa maximale Forderungen, um ein Minimum einzuhalten? Aber dann würden sie ständig als Versager und mit schlechtem Gewissen herumlaufen. Wo bliebe denn da die Freude am Leben! Er würde sich darüber mit seinen Jüngern beraten. Wo waren die überhaupt? Hatten die sich auch als überführte Sünder, als bloßgestellte Heuchler verdrückt? So war es wohl, und er hoffte, dass sie zurückkämen.

Er hatte wohl zu lange geschwiegen und nachgedacht; die Frau jedenfalls lag im Sand und schien zu schlafen. Ein fremder Mann näherte sich, blieb in einiger Entfernung stehen und winkte Jesus zu sich. Der stand vorsichtig auf und ging zu dem Fremden. Es war der Zöllner. Er habe gehört, was passiert sei, erzählte er, nun wolle er seine Frau nach Hause holen. Er wisse schon länger, dass und wie seine Frau ihn schütze. Habe nichts dagegen unternehmen können, ohne seine Frau und sich zu gefährden. Wolle schon lange aus seinem Doppelspiel aussteigen. Nun habe er einen Grund, in einen anderen Ort zu ziehen und neu anzufangen. Zusammen mit seiner Frau.

Er ging zu ihr. Hatte Kleider für sie mitgebracht, legte sie über sie. Die Frau öffnete die Augen, der Mann streichelte ihr übers Gesicht. "Komm nach Hause," sagte er, und an Jesus gewandt: "Sei du heute unser Gast." Amen

Gebet:
Als man eine Ehebrecherin zu Jesus brachte, dass er sie verurteile, malte er gelangweilt im Sand. Guter Gott, uns mangelt es oft an Nachsicht mit menschlicher Schwachheit, und wir neigen zu harten Urteilen besonders dann, wenn wir bei anderen unsere eigenen Schwächen aburteilen oder uns die eigenen Schwächen nicht eingestehen können. Darum bitten wir dich: Lass uns nicht ungerecht gegenüber anderen werden, um selbst als Saubermänner dastehen zu können.
Als man eine Ehebrecherin zu Jesus brachte, dass er sie verurteile, schickte er sie nach Hause zurück. Guter Gott, du schenkst uns immer wieder Chancen des neuen Anfangs, gibst uns Gelegenheit, begangene Fehler nicht zu wiederholen. Das setzt freilich voraus, dass wir unsere Fehler zugeben, sie uns und anderen eingestehen, dass wir die Mühen eines neuen Anfangs auf uns nehmen. Für diese Chancen sagen wir Dank, denn mit ihnen sagst du uns, dass wir trotz unserer Schwächen, unserer Fehler, unserer Schuld in der Gemeinschaft mit anderen weiterleben dürfen.
Als man eine Ehebrecherin zu Jesus brachte, dass er sie verurteile, verurteilte er sie nicht und vergab ihre Schuld. Guter Gott, du vergibst uns immer wieder unsere Schuld und ermutigst uns, unsern Schuldigern zu vergeben. Oft aber fehlt uns diese Größe und wir bleiben im kleinlichen Rechten und Richten stecken, haben bisweilen unsere Freude an Rache. Guter Gott, du hast nicht nur uns, sondern auch den an uns schuldig gewordenen die Schuld vergeben. Darum können wir frei von Rachegedanken sein, darum brauchen wir keine Richtsprüche zu fällen. Lass uns im Umgang miteinander dessen immer gewiss sein und in Gedanken, Worten und Werken deine Vergebung weitergeben. Amen

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
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