1. Sonntag nach Trinitatis, Ökumenischer Gottesdienst, 17. Juni 2001
Predigt über Lukas 7, 36-50, verfaßt von Hans Theodor Goebel

Wer ist wer?
Personen haben ihre "Programme". Sind die Programme bekannt und laufen ab, ist die Frage beantwortet.
Wir kennen und erkennen uns in unseren Programmen.

  • Ein Gerechter ist ein Gerechter.
  • Eine Schamlose ist schamlos.
  • Ein Unbelehrbarer unbelehrbar.
  • Mit dem stimmt es nicht, das wussten wir ja eh schon.

Das Evangelium, so wie es in der katholischen Kirche am heutigen Sonntag bei Lukas gelesen wird, erzählt von einer Begegnung:
Drei Menschen bekommen miteinander zu tun. Ein neues Programm spielt sich zwischen ihnen ab und die es mitkriegen, fragen sich verwundert:
Wer ist wer?

Die erste Szene
Ein Mann bittet Jesus zu Tisch in seinem Haus.

Der Mann gehört zur Gruppe der Pharisäer, die pünktlich den Willen Gottes in ihrem täglichen Leben beachten, die Gerechtigkeit tun, die eher mehr Geld für religiöse Zwecke geben als gesetzlose Geschäfte zu machen - Menschen, die sich so rüsten auf die große Wende, die Gott herbeiführen wird. Denn sie nehmen Gottes Verheißungen ernst.
Von denen, die Gottes Gesetz nicht kennen und befolgen, halten die Pharisäer sich fern.

Vielleicht ist der Mann, der Jesus einlädt, einer von den führenden Köpfen, die das Gesetz Gottes und seine Auslegung ein Leben lang studiert und disputiert haben und die Nachkommenden lehren, indem sie selber immer wieder bei diesem Gesetz in die Schule gehen.
Vielleicht will er auch von Jesus noch lernen. Oder will er ihm auf den Zahn fühlen, um zu prüfen und zu urteilen, was für einer dieser Jesus ist?

Jesus folgt seiner Einladung. Er kommt in das Haus des Pharisäers und legt sich an der festlichen Tafel nieder.
Wie man im Altertum bei festlichen Mählern zu Tische lag.

Da tritt von hinten her eine Frau an Jesus heran. Wie sie herein gekommen ist, wird nicht erzählt. Sie steht da auf einmal hinten bei seinen Füßen.
Die Frau ist in der Stadt bekannt - als Sünderin. Wir können uns mühelos denken, was für eine sie ist.
So verhält sie sich auch.
Sie hat sich ein Alabastergefäß mit Myrrhe besorgt. Ein kostbares Parfum zum Einsalben. Sie weint. Ihre Tränen laufen auf Jesu Füße. Da öffnet sie ihr Haare, trocknet mit ihnen Jesu Füße ab, küsst seine Füße ohne Aufhören und salbt sie mit dem Parfum.

Was die Frau da tut, überschreitet die Grenze zur Schamlosigkeit. Das ist alles ziemlich unerhört für damalige Verhältnisse. Lauter erotische Gesten, die die Frau da vollführt. Darin kennt sie sich ja aus.

Der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, sieht das und sagt bei sich selbst:
Dieser, wenn er ein Prophet wäre, hätte er erkannt, wer und was für eine die Frau ist, die ihn berührt - dass sie ein Sünderin ist.

Mit solchen Gesten hätte er sich von der ja dann wohl nicht berühren lassen.

Wer ist wer?
Ein Prophet Gottes, bei dem man lernen kann, ist dieser Jesus wohl nicht. Sagt der Pharisäer und urteilt nach den Programmen, die er kennt und von denen er gerade eins hat ablaufen sehen. Die Sünderin ist eine Sünderin und von solchen hält der Gerechte sich fern.

Musikgruppe: Melodie "Ins Wasser fällt ein Stein"


Die zweite Szene
Jesus antwortete und sagte zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber spricht: Lehrer, sag es!
Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben ? Simon antworte und sprach: Ich nehme an, dass es der ist, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Richtig hast du geurteilt.

Jesus antwortet den Gedanken des Pharisäers, die er wohl kennt. Und der lässt sich - wenigsten der höflichen Form nach - drauf ein.
Simon - Jesus nennt ihn jetzt bei seinem Namen - ich habe dir etwas zu sagen. Und der: Lehrer, sag es!
Dann erzählt Jesus diese kleine Geschichte, fragt den Simon nach seinem Urteil. Und der antwortet ihm.

Wer ist wer?`
Wer ist hier der Lehrer und wer ist der Lernende? Ist der Pharisäer doch noch nicht fertig mit seinem Urteil über Jesus? Der hat ihn jedenfalls nicht aufgegeben, sondern müht sich, sein Urteil zu gewinnen?
Und Simon kann sich der Einsicht gar nicht verschließen:
Die größte Entschuldung ruft die größte Liebe hervor.

Wer ist wer? Der größte Schuldner der am meisten Liebende.

Wer in unserm Leben erlässt schon die ganze Schuld?
Ob Simon ahnt, dass hinter der Gestalt des Gläubigers, der den Schuldnern alles schenkt, Gott sichtbar wird, der mit ihm und mit dieser Sünderin zu tun hat?

Musikgruppe: Melodie "Ins Wasser fällt ein Stein"

Dritte Szene
Und Jesus wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon.

Sonderbar: Zu der sieht er hin und den redet er an.
Aber er spricht zu Simon von dieser Frau. Will ihm an ihr etwas zu verstehen geben. Noch immer ist es der Pharisäer, um den er sich müht:
Siehst du diese Frau?

Du hast mir kein Wasser gegeben für meine müden Füße, keinen Willkommenskuss, kein Öl für meinen Kopf - wie man es doch geachteten Gästen gibt.
Sie aber hat mir das alles gegeben. Sie hat es mir auf ihre Weise gegeben, so wie sie es versteht. Die stadtbekannte Sünderin und weiß umzugehen mit Tränen und offenen Haaren, Küssen und duftendem Salböl. Wo doch die Liebe ihr Geschäft ist.

Deshalb sage ich dir: Vergeben sind ihre vielen Sünden, denn sie hat viel geliebt. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
So sagt Jesus zu dem Pharisäer.

Als die Frau erfahren hatte, dass Jesus im Hause war, da war sie gekommen. Als sie erkannt hatte: "Er ist da", hatte sie sich das Alabasterfläschchen besorgt und war von hinten her an seine Füße herangetreten.

Mit ihren Liebesbezeugungen reagiert sie auf sein Kommen. Ich weiß nicht, was sie von Jesus schon erfahren hatte. Was von seiner Reden und Tun, was von seinem vergebenden und heilenden Wort.

Ich verstehe ihr Verhalten in dieser Geschichte so, dass sie auf Jesu Kommen antworten will, aber auch von ihm alles erwartet. Sie gibt ihrer Freude Ausdruck, dass Jesus gekommen ist, - und zugleich der Not ihres Lebens, die sie ihm buchstäblich vor die Füße legt und hofft, er werde ihr helfen.
In den Tränen, die auf Jesu Füße tropfen und in ihren Küssen vermischt sich beides -
Dank und Vertrauen, vielleicht auch Trauer, dass ihr Leben bisher so schief gelaufen ist, und Bitte um Vergebung und ein neues Leben.

Die Liebe, die diese Frau Jesus entgegenbringt und dabei Grenzen überschreitet - sie kommt schon von Gottes Liebe her, die Jesus gebracht hat. Und sie ist doch noch ganz aus auf diese Liebe. Hungert nach ihr. Das Vertrauen dieser Frau - es ist schon erfüllt. Ihr ist schon viel vergeben und sie ist doch noch drauf aus.

So passen die Worte zusammen:
Das eine: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt. - Da äußert sich die Liebe in dem Vertrauen der Frau, Jesus möge ihr helfen.

Und das andere Wort: Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und umgekehrt: Wem viel vergeben wird, der liebt viel. Da äußert sich die Liebe im Dank für die Vergebung.

Musikgruppe: Melodie "Ins Wasser fällt ein Stein"

Vierte Szene
Bisher hat Jesus zum Pharisäer gesprochen und zur Frau hingesehen. Jetzt spricht er ihr auch selbst zu, was er dem Simon schon zu verstehen gegeben hat und sie hört es aus seinem Mund:

Dir sind deine Sünden vergeben.
Da fingen die an, die mit zu Tische saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt ?

Die Frage bleibt offen am Schluss dieser Geschichte.
Jesus aber sagt zu der Frau:

Dein Vertrauen hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Wer ist wer?

  • Jesus - ist er kein Prophet, wie der Pharisäer am Anfang geurteilt hatte, oder ist er Gottes eigenes Wort, das die Vergebung der Sünden zuspricht?
  • Der Pharisäer - ist er Lehrer, der das Gesetz Gottes kennt, oder muss er erst lernen, was nach Gottes willen die Liebe ist?
  • Die Frau - ist sie Sünderin oder von Gott geliebt?

Kann es sein, dass hier die Entgegensetzungen gar nicht stimmen -

  • und die ist Sünderin geliebt von Gott und liebt selber, wie es Gott gefällt,
  • der Gesetzeslehrer darf bei Jesus neu anfangen zu lernen
  • und Jesus wird verurteilt, aber gerade dieser Verurteilte hat Gottes Vollmacht, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben - dein Glaube hat dir geholfen - geh hin in Frieden!

Wer ist wer ?
Unsere Programme werden beweglich, die Vorurteile, mit denen wir Menschen festlegen, weichen auf, wo der lebendige Jesus mit uns zusammentrifft und wir zu tun bekommen mit ihm. Dann gibt es ein neues Programm. Ein neues Stück auf der Bühne des Lebens. Amen.

Musikgruppe/Lied: "Ins Wasser fällt ein Stein"


Die Predigt wird am 17. Juni 2001 in einem Ökumenischen Gottesdienst in Köln-Rath gehalten. Mit diesem Gottesdienst beginnt das Gemeindefest der evangelischen und katholischen Gemeinde am Ort. Als Predigttext wurde das für diesen Sonntag in der Katholischen Kirche vorgesehene Evangelium gewählt - allerdings ohne die Verse Matth 8,1-3, die, wenn ich recht orientiert bin, in der katholischen Kirche hinzu genommen werden.

Literatur:
Hans-Joachim Iwand, 11. Sonntag nach Trinitatis. Lk. 7, 36-50 (Predigtmeditation), in: Hans-Joachim Iwand, Predigtmeditationen, Göttingen 1963, 312-316.
Joachim Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 1958, zu Lukas 7, 41-43.
François Bovon, Das Evangelium nach Lukas, EKK III/1, Zürich und Neukirchen-Vluyn, 1989, 383-396.

Von F.Bovon habe ich den Gedanken der aufeinanderstoßenden "Programme" übernommen und den des Rollenwechsels. Auch die Einteilung des Textes in "Szenen". Auf dem Hintergrund der Textanalyse und der auch konfessionellen Kontroverse, ob die Liebe der Vergebung folge (V 47b) oder sie bewirke (V 47a), weist Bovon darauf hin, dass es für Lukas "keine göttliche Liebe ohne Reziprozität" gebe und dass Lukas "die Spannung in V 47 unausgeglichen stehen" lasse.

Dr. Hans-Theodor Goebel
E-Mail: GoebelH@Kirche-Koeln.de