Trinitatis, 10. Juni 2001
Predigt über 4. Mose 6,22-27, verfaßt von Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde

Je älter ich werde, desto mehr lerne ich die Liedstrophe wertschätzen:

Sing', bet' und geh auf Gottes Wegen,
verricht' das Deine nur getreu,
und trau' des Himmels reichem Segen,
so wird er bei dir werden neu.
Denn welcher seine Zuversicht
auf Gott setzt, den verläßt er nicht.

Als ich junger Mann war, ging mir diese Strophe nicht über die Lippen - ich sah in ihr den Ausdruck eines christlichen Duckmäusertums, das alles gottergeben hinnimmt und auf einen eigenen Willen fromm verzichtet. Ich glaube, da bin ich einer Täuschung erlegen. Denn liest man genau, so zeigt sich: Nach diesen Versen zu leben und zu verfahren, ist weder leicht noch bequem. Ja, diese Strophe zeichnet ein aus dem Rahmen fallendes Leben, das standhaft und zäh auf Gott ausgerichtet ist in Gehorsam und Vertrauen, im Tun und im Lassen, in Beharrlichkeit und Ergebung, ein Leben, das Kraft und Richtung erwartet und empfängt aus Gottes Segen.

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Wir wünschen ihn uns, wir sprechen ihn zu bei Gratulationen, wir ersehnen ihn. Wir spüren und ahnen, daß Gottes Segen alles zum Guten wendet und allem Guten Entfaltung gewährt. Und irgendwie steckt tief in vielen von uns die Überzeugung: Wo Gottes Segen waltet, da wird unsere Welt heil, da werden wir selber heil; da verkümmern krumme Sachen; da stellt sich Friede ein. Wo Gottes Segen wirkt, gedeiht das Leben.

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Ist es die Kraft, die uns singen läßt auch auf Gottes Wegen - und auf denen kommt man bekanntlich nicht sehr weit, erntet man wenig Anerkennung und ist ständig in der Minderheit, nicht selten auch unter Frommen. Ist diese Kraft Gottes Segen?

Oder ist er das Vermögen, beten zu können aus einer kaputten Welt in einen leeren Himmel hinein, in dessen abgründigen Weiten auch der lauteste Schmerzensschrei und der tiefste Ruf der Verzweiflung, wie es scheint: ungehört verhallen. Ist dieses Vermögen Gottes Segen?

Erweist Gottes Segen sich in den Kraftreserven, auf Gottes Weg zu verharren, auch wenn die Mehrheit und zumal die Klugscheißer in Wissenschaft und Medien mit Fingern zeigen und den Vorwurf erheben, man wäre von gestern, altbacken, ja fortschrittsfeindlich. Erkennen wir hier Gottes Segen?

Oder wirkt er sich darin aus, daß wir das Unsere getreulich tun - man achte einmal darauf, wie es denen in Ämtern und auch in den Kirchen ergeht, die sich so verhalten und die sich entziehen bei Kungeleien und Durchstechereien; wahrlich, die nicht mitmachen, die haben Gottes reichen Segen bitter nötig, um durchzuhalten und nicht zu resignieren oder zynisch zu werden!

Nochmals also: Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Indem wir nun in unseren Text hineinfragen, scheint unsere Frage ins Leere zu gehen: Hier wird ganz selbstverständlich vorausgesetzt, daß jeder weiß, was Gottes Segen sei. Das soll uns jetzt nicht stören. Wir verfahren vielmehr so: Da unser Text die direkte Antwort auf unsere Frage verweigert, versuchen wir, die Antwort gleichsam hinten herum zu gewinnen. Und da stoßen wir als erstes auf etwas, was nicht in unser Denken paßt:

Man spricht Gottes Segen nicht einfach so zu. Gottes Segen kann und soll zugesprochen werden daraufhin, daß Gott den Priestern durch den Mund seines Dieners Mose die Segensformel anvertraut. Also Segen aufgrund von Gottes Befehl durch hierfür besonders ausgewählte Menschen in genau befohlenen Worten.

Wie gesagt, das paßt nicht in unser Denken, und in unseren Kirchen geht es denn auch vielfach erheblich lockerer zu, zumal bei "fortschrittlichen" Kirchenleuten, die wegen ihrer häufig legeren Art das Lob ernten, so "menschlich" zu sein. Ob man bei so lockerem Umgang wohl je gefragt hat:

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Wer aber diese Lockerheit so wundervoll findet, wie mag sich ein solcher Mensch wohl vorkommen, wenn - sagen wir: im Falle einer Steuererleichterung der Finanzminister den Hausmeister vor die Bundespressekonferenz schickte, daß er dort in ungelenken Worten - denn er hat weder Sachkompetenz noch Übung in freier Rede - diesen staatlichen "Segen" kundgäbe? Man würde sich veralbert fühlen und erbost sein. Es ist bei einem derartigen Anlaß selbstverständlich, daß zumindest der Staatssekretär oder der Pressesprecher erscheint, wenn der Minister sich's denn schon nehmen läßt, es selber zu verkünden.

Verstehen wir? Was Gottes Segen ist - wir fangen an, es ein wenig zu begreifen, wenn uns aufgeht: Er ist zu groß, zu gewichtig, zu heilig, als daß man ihn so irgendwie handhaben, daß man locker-flockig mit ihm umgehen könnte. Wo das nicht deutlich ist, bleibt Gottes Segen leeres Wort. Gottes Segen als fromme oder rasche Floskel ist - eben: Floskel, mehr nicht.

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Er ist so groß, so gewichtig, so heilig, daß nur eigens Bevollmächtigte ihn in besonderen Worten und auf Gottes Geheiß zusprechen können.

Indem wir uns noch einmal in den Text vertiefen, stoßen wir als zweites auf einen kunstvoll aufgebauten dreizeiligen Spruch: Im hebräischen Original hat die erste Zeile drei Wörter, die zweite fünf und die dritte sieben. Mit den Wörtern wird also gleichsam gemalt, wie Gottes Segen sich immer weiter und ausladend entfaltet, wie er uns zunehmend umschließt, so daß wir schier in ihn eintauchen können. Was ist's, das dieser Segen zueignet?

Der Herr segne dich und behüte dich: Gott möge den Gesegneten Lebenskraft und Schutz vor allem Übel gewähren.

Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig: Gott möge sein Gesicht über den Gesegneten strahlen lassen - wie Vater oder Mutter über ihr Kind strahlen und ihm alles zuwenden oder wie ein Lehrer über den Schüler strahlt, der seinen Weg so gut macht, und ihn nach Kräften fördert. Und Gott möge gnädig sein - verengen wir das nicht im Sinne dessen, daß Gott den Sünder begnadige; es ist viel mehr gemeint. Gott ist gnädig, indem er seine Gunst zuwendet. Gut, wir gebrauchen das Wort nicht mehr. Aber jeder von uns weiß, was ein Günstling ist. In der Tat, so etwas ist hier gemeint: Gott möge die Gesegneten als seine Günstlinge nehmen.

Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden: Gesagt ist damit in feierlicher Sprachform, daß Gott die Gesegneten wahrnehme und nicht an ihnen vorbei- oder über sie hinwegsehe; nein, daß er sie im Blick habe. Wissen Sie, wie das ist, nicht gesehen zu werden? Sich immer melden zu müssen: Hier, mich gibt's auch noch? Wieder und wieder die Demütigung zu erfahren, daß man mich übergeht, mich nicht auf der Rechnung hat, denn ich zähle nicht? Der Herr habe dich fest in seinem göttlichen Blick, wird hier zugesprochen; was das bringt und bedeutet, sagt die Fortsetzung: Er habe dich so im Blick, daß du Frieden hast. Indem ich dem nachsinne, erinnere ich mich daran, wie wir uns in den 40er Jahren in den Bombennächten und dann gegen Kriegsende, als wir hungern mußten; wie wir uns in dieser schlimmen Zeit ausmalten, wie es sein würde, wenn wieder Friede wäre. Friede! Keine Bomben! Satt zu essen! Richtige Kleidung! Genügend Wohnraum! Abends keine Verdunklung! In den Geschäften wieder alles zu kaufen! Zu Verwandten und Freunden fahren können, wenn einem danach ist, einfach nur so! Was das ist: Friede, und: Frieden zu haben, in Frieden zu leben - denken wir nur einmal an die Fernsehbilder aus Krisengebieten oder auch an die schrecklichen Bilder von einzelnen, denen man nachstellt, und uns ahnt, was das heißt, was das bedeutet: Friede. Wo wirklich Friede ist, brauche ich keinen Schutz und keinen Schlüssel: Denn mir passiert nichts. Ich kann mich loslassen rundherum entfalten.

Das also ist es, was der Segen durch die Befugten und Beauftragten den Gesegneten zuspricht. Wenn wir also noch einmal fragen:

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

dann können wir jetzt feststellen: die umfassende Lebensmöglichkeit und Lebensentfaltung unter Gottes Liebe, Schutz und Wohlgefallen.

Wir - wir wären damit am Ziel, hätten uns dann freilich damit noch zu plagen, daß das so oft und durchaus ernsthaft zugesprochen und dennoch nach unser aller Erfahrung so bedrückend selten erfahren wird. Unser Text freilich ist hier noch nicht fertig, sondern gibt uns ein drittes zu erkennen. Das steckt in dem eigenartigen Schlußsatz, der das Ganze bündelt:

Denn ihr sollt meinen Namen auf die Kinder Israel legen, daß ich sie segne.

Dieser Satz faßt die Segensformel zusammen und ist uns darin befremdlich: Ein Name, auch der Gottes, ist doch kein Gegenstand, den man auf jemand legen könnte; und manche kluge Leute haben hier ihre Phantasie wuchern lassen und mit ernster Miene manches vorgeschlagen, was hier gemeint wäre, nur weil der Satz über ihren Horizont hinausgeht. Seien wir unsererseits lieber nicht dummschlau, sondern reiben wir uns einmal an dem Gedanken und kauen wir auf ihm: daß Gottes Name auf Menschen gelegt werden soll und wir darin seinen Segen empfangen.

Verdeutlichen wir's uns am Gegenbild! Auf Menschen werden gelegt: Lasten, Verpflichtungen, Dienstbarkeiten, Zugehörigkeiten - oft bleibend in die Haut geschrieben durch Tätowierung oder Brandmal - , auch Schuld und Sühne, Leid und Kampf. Und lassen Sie uns einen kleinen Augenblick einmal daran denken, was alles auf uns selbst gelegt ist -

Und nun soll durch diese Segensformel Gottes Name auf die Gesegneten gelegt werden. Ich glaube, uns ahnt, was das bedeutet: Es heißt, daß Gott und sein Name uns und unser ganzes Leben kennzeichnen, prägen, bestimmen, regieren, durchdringen soll. Es heißt also, daß, wo man uns begegnet, sieht, hört, etwas erkennbar sein soll von Gott, von seinem Schutz und Schenken, von seinem Strahlen und seiner Liebe, von seinem Aufmerken und seinem umfassenden Frieden. Das freilich klingt eher erschreckend: Wer könnte, wer sollte das leisten?

Wer? Wir nicht! Wir, wir sollen es nur tragen - mit dem Namen das tragen, was dieser Name enthält, verbürgt, wofür er steht, was von ihm ausgeht. Wir sollen den Namen tragen, nachdem er mit dem Segen, nachdem er als Segen auf uns gelegt wurde. Tragen wir ihn, dann macht er sich geltend, auch an uns und in uns. Wir haben es ja vor Augen; denn einst trug einer den Namen Gottes auf sich und war von diesem Namen so bestimmt und durchdrungen, daß er von sich sagen konnte: "Ich und der Vater" - also: ich und Gott; "ich und der Vater sind eins." Und auf ihm und seinem Wirken lag und liegt Gottes Segen und geht von ihm aus - bis zum heutigen Tag.

Sein Segen und also sein Name wird auf uns gelegt in der Taufe. Die ist darum ein feierliches, förmliches, der Willkür entzogenes Geschehen. Seither tragen wir seinen Namen auf uns und können es wagen, uns Christen zu nennen. Und wer Christ ist und heißt und sich dem nicht entzieht, von dem geht in der Tat Unerwartetes und zuweilen Unerhörtes und Unglaubliches aus - immer wieder auch zur eigenen Überraschung.

Gottes Segen - was ist Gottes Segen?

Darin ist Gottes Segen an und über uns real, lebendig und erfahrbar: Daß wir seinen Namen tragen und deswegen und hieraufhin etwas von den Kräften seines Segens in unsere Umgebung und Welt hineintragen. Man wird es uns nicht nur danken; im Gegenteil: Man wird es uns immer wieder zum Vorwurf machen, uns dafür verdächtigen, verleumden, gegen uns intrigieren, uns mit Spitzen und Schikanen vielfältiger Arten piesacken, versuchen, uns mundtot zu machen. Ebendarum brauchen wir's umso mehr, uns darin bergen zu können:

Daß der Herr uns segne und behüte, sein Angesicht über uns leuchten lasse und uns gnädig sei, sein Angesicht über uns erhebe und uns Frieden schenke. Brauchen wir's, daß er uns selber etwas von dem schmecken lasse, was er durch uns will wirksam sein lassen. Und er läßt es uns kosten, so wahr sein Name auf uns liegt.

Amen.


Nachwort:
Mir ist bewußt, daß die Predigt für den Sonntag Trinitatis ist. Der Text allerdings paßt für diesen Sonntag ebenso wie für den Reformationstag, Heiligabend oder Neujahr, will sagen: Er ist im Blick auf das Kirchenjahr unspezifisch. Ihn nunmehr auf Trinitatis zu "trimmen", wäre zwar in einem (neu-) platonischen Gesamtrahmen naheliegend; innerhalb eines solchen Zusammenhangs hat auch der Bezug des Trishagion (Jesaja 6) auf die Trinität Plausibilität. Tempi passati - auch wenn es, wie es scheint, noch nicht begriffen ist von jener Weisheit, die den aaronitischen Segen ob seiner drei Zeilen dem Fest der Dreieinigkeit zuordnet. Es liegt mir fern, diese Weisheit ergründen, gar kritisieren zu wollen. Folgte man ihr jedoch, es würde zweierlei geschehen, was theologisch a limine ausgeschlossen ist: Zum einen würde dabei der Text um sein Eigenes gebracht. Und zum anderen machte man dabei das hohe Mysterium von Gottes heiliger Dreifaltigkeit zu etwas, was man beiläufig mit behandeln dürfte. Solcherart oberflächliche Willkür im Umgang mit Gottesdienst und Predigt scheidet Kirchliches vom Geistlichen. (Um allfälligen Schlaubergereien im voraus zu antworten: Auf EG 369,7 stieß ich aufgrund der Exegese bei meiner Suche nach einem eingeführten deutschen Stück, das möglicherweise das aus dem Text Erhobene enthielte oder ausdrückte.) Demut geziemt gegenüber dem Text und Gottes herrlichem Geheimnis, nicht jedoch - bleibendes Vermächtnis der Reformation - gegenüber Menschensatzungen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net