Pfingstsonntag, 3. Juni 2001
Predigt über 4. Mose 11, 11-12.14-17. 24-25, verfaßt von Georg Kretschmar

Liebe Gemeinde!

l. Wir feiern heute das Pfingstfest, das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes. In der Russischen Orthodoxen Kirche nennt man es Troize, Dreieinigkeit, weil damit die Offenbarung der Trinität zum Ziel kommt: Weihnachten offenbart Gott, der Vater, Seine Liebe zu uns dadurch, daß Er Seinen Sohn als kleines Kind in unsere Welt schickt. Ostern ist die Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes im Sieg des Gekreuzigten über den Tod. Und Pfingsten feiern wir den Geburtstag der Kirche: Gottes Heiliger Geist kommt über die Apostel und damit über uns alle.

Von diesen drei christlichen Hochfesten ist sicher Pfingsten das für unser Verstehen Schwierigste. Das zeigen schon die Bilder, die unsere Vorstellung so stark bestimmen. Das kleine Kind in der Krippe oder im Schöße Seiner Mutter, das ist uns allen vertraut. Wir sehen auch den Mann am Kreuz und vielleicht die strahlende Auffahrt des Auferstandenen zum Vater, wie sie etwa Matthias Grünewald gemalt hat. Aber bei Pfingsten müssen wir die Phantasie stärker anstrengen. Auf alten Bildern in der mittelalterlichen Buchmalerei sieht man manchmal die 12 Apostel im Kreis sitzen und jeder hat auf seinem Haupt ein kleines Flämmchen, das Zeichen des Heiligen Geistes.

Gerade dieses Bild kann eine Brücke zu unserem Bericht aus dem 4. Buch Mose schlagen. Denn hier erfahren wir ja, wie 70 (oder / 72) Älteste von Gott Anteil am Geist des Mose erhalten und in Verzückung geraten wie Propheten. Man könnte das gut so malen, daß eben 70 oder 72 Männer vor dem Zelt sitzen, in dem Gott Mose begegnet, der "Stiftshütte", alle mit einem kleinen Flämmchen auf dem Haupt. Aber damit endet doch wohl schon die Vergleichsmöglichkeit. Unser Text ist aus vielen Gründen schwierig. Schon deshalb, weil er so, wie er verlesen worden ist, gar nicht in der hl. Schrift steht. Dort ist er aufs Engste mit einer anderen Geschichte verschlungen, die eigentlich auch zum Verstehen dazugehört.
Es geht um eine Geschichte, wie sie sich auf dem jahrelangen Weg des Volkes Gottes durch die Wüste immer neu wiederholt. Das Volk murrt. Sie hatten nicht zu essen gehabt und Gott hatte ihnen das Manna gezeigt, kleine, weißliche, süße Kugeln, die man unter Tamarisken, einer Baumart, auf der Sinai-Halbinsel noch heute finden kann. Lange Zeit hatten sie davon gelebt, aber nun hatten sie es einfach über und träumten von den vielen Fischarten und dem saftigen Gemüse in Ägypten, im Nilland. Fische in der Wüste, das schien doch utopisch, so forderten sie von Mose nun Fleisch. Das alles ist verständlich und doch auch etwas undankbar. Jedenfalls ist es dieser Schrei nach Fleisch, der nun Mose murren läßt. Er hadert mit Gott in einer ganz ungewöhnlichen Sprache: Gott sei doch die Mutter des Volkes, nicht er, Mose. Gott, die Mutter, habe ihn, Mose wie ein Kindermädchen zu den ungebärdigen Israeliten geschickt. Er könne diese Last nicht mehr allein tragen. Zumindest brauche er, Mose, Hilfe. Die Antwort Gottes auf diesen Hilfeschrei, diese Bitte, ist die Geistes-Gabe an die 70 (72) Ältesten. Aber auch das Volk erhält Antwort. Gott schickt ihm große Vogelschwärme, Wachteln. Damit haben sie nun Fleisch die Fülle. Aber manche Familien haben sich dann gleich überessen, so daß viele starben. Das war Gottes Strafe für das Murren.

2. Aber zurück zum Hilferuf Moses zu Gott. Als vor fast dreizehn Jahren die Zustimmung der Sowjetunion endlich vorlag, daß mein - nun schon lange in Gott ruhender - Vorgänger Harald Kalnins Bischof werden konnte, war ihm allein die ganze Verantwortung für die lutherischen Gemeinden von der Ostsee bis zum Pazifischen Ozean anvertraut. Er hätte reden können wie Mose. Natürlich konnte nicht ein einzelner diese Last tragen, Wir haben dann dies ganze riesige Gebiet Schritt für Schritt in Regionen aufgeteilt, nicht gleich 70, bis heute 7, und es
ist gerade gut 10 Jahre her, daß der erste geistliche Leiter für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Ukraine von einer dazu zusammengeladenen Synode gewählt und eingesegnet wurde. Dabei ist auf ihn - wie auch heute bei jeder Einsegnung eines Predigers oder einer Predigerin, bei jeder Ordination, bei jeder Bischofskonsekration - der Heilige Geist Gottes für seinen Dienst erbeten worden in der festen Gewißheit, daß Gott dies Gebet erhört. Das klingt wie der Bericht aus dem 4. Buch Mose. Aber es gibt einen ganz wichtigen Unterschied. Der neue Superintendent - so nannten wir damals den Geistlichen Leiter einer Regionalen Kirche - erhielt nicht ein Stück von dem Geist des Bischofs, sondern Gottes Geist, der Bischof Kalnins bei seiner Einsegnung zugesprochen wurde, sollte nun auch den Leiter der Regionalen Kirche bevollmächtigen, tragen und geleiten. Dieser Geist ist aber der Geist Jesu Christi.

Damit stehen wir endlich an dem Punkt, an dem die Berichte aus dem Alten Testament und die neutestamentliche Pfingstgeschichte miteinander verglichen werden können. An der Stelle des Mose steht jetzt Jesus Christus. Mose ist auf den Berg Gottes aufgestiegen und hat das Gesetz zurückgebracht. Jesus Christus, der Auferstandene, ist zum Vater aufgefahren und hat den Hl. Geist, den Geist Gottes und den Geist des Sohnes den Seinen geschenkt. So klingt es in vielen Schriften des Neuen Testamentes an. Der Epheserbrief beschreibt genau, daß dieser Geist Dienste und Ämter in der Kirche setzt. Was der Dienst der 70 Ältesten war, die den Geist des Mose empfangen hatten, wissen wir nicht. Sie tauchen nie wieder auf. Der Dienst der Apostel und aller ihrer Nachfolger ist klar: die Weitergabe des Evangeliums, der Dienst an und mit den heiligen Sakramenten. Davon lebt die Kirche.

Dieser Geist setzt verschiedene Gaben und Aufgaben. Er hat uns alle erreicht, die getauft sind und diese hl. Taufe im Glauben angenommen haben. Das hat er allerdings mit dem Geist des Mose gleich: er macht sich bemerkbar. Damals durch "verzücktes" Reden, an Pfingsten in neuen Sprachen. Auch bei uns sollte es so sein, daß die Menschen um uns etwas davon sehen, daß Gott uns den Heiligen Geist gegeben hat.

3. Lassen Sie mich schließen mit noch einer eigenen Erinnerung, auch wenn sie ein wenig absonderlich ist. Als Kind ging ich in die einklassige Schule des Dorfes, in dem mein Vater Pastor war. Der Lehrer hatte zugleich den kirchlichen Dienst die Orgel zu spielen, man nannte ihn Kantor. Dieser Kantor nahm mit uns die Pfingstgeschichte durch und gab ihr eine seltsame Wendung: Wie dumm waren doch die Leute, die Jesus ans Kreuz gebracht hatten. Den einen waren sie los geworden - durch den Tod und durch die Himmelfahrt. Dafür haben sie es nun mit 12 Männern zu tun. So würden wir die Geschichte Jesu nicht erzählen. Aber irgendwie hatte der Lehrer ja auch etwas Richtiges gesehen. Wie die 70 Ältesten dem einsamen Mose Lasten abgenommen haben, wissen wir nicht. Aber mit der Gabe des Heiligen Geistes beginnt der Schritt in die Weite. Und das Wunder, daß Gott, durch Seinen Heiligen Geist aus Wenigen Viele machen kann, das erleben wir auch heute. Vor Kurzem war ich in Kirgisien zur Jahressynode unserer Kirche. Dabei berichtete ein alter Mann vom Weg seiner Gemeinde. Vor zwei Jahren waren sie auf fünf Leute zusammengeschmolzen. Und dann kam ein junger Mann mit seiner Frau zurück, der vor Jahren nach Deutschland ausgewandert war und nun dem Bischof unserer Kirche in Kirgisien zu Hilfe gekommen ist. Und in dieser Gemeinde kommen nun jeden Sonntag 150 Menschen zum Gottesdienst, die Jugendarbeit blüht. Überall wuseln Kinder herum.

Gott will unseren Dienst auch heute, so wie Mose damals die Ältesten zusammenrief, wie der Heilige Geist die Apostel befähigte das Evangelium öffentlich zu predigen, so will Er, Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, auch unseren Dienst in unserer Gemeinde, in unserer Kirche, in Seiner ganzen Christenheit. Mose brauchte Hilfe, damit sein Volk satt würde. Bitten wir Gott darum, daß wir innerlich satt werden - und gewiß auch mit allem, was wir zum täglichen Leben brauchen.
Amen

Erzbischof Prof. D. Georg Kretschmar
Erzbischof der ELKRAS, St. Petersburg
E-Mail: kanzlei@elkras.convey.ru