Pfingstsonntag mit Goldener Konfirmation, 3. Juni 2001
Predigt über 4. Mose 11, 4b-17. 24-25, verfaßt von Ulrich Nembach

Liebe Gemeinde und liebe diamanten und goldene Konfirmandinnen und Konfirmanden!

Heute ist ein Festtag, gleich ein doppelter Festtag, quasi eine Doppelhochzeit.
Es ist Pfingsten. Es ist diamantene und goldene Konfirmation.

"Und als der Tag der Pfingsten gekommen war,...wurden sie alle erfüllt von dem Heiligen Geist..." (Act.2,1,4). Gott greift ein. Darum geht es zu Pfingsten. Das ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Immer, wenn Gott eingreift, feiern wir, feiern wir mit gutem Grund: Weihnachten, Ostern, Pfingsten.

Von Gottes Eingreifen, vom Eingreifen seines Geistes, handelt Pfingsten. Das ist so im AT und auch im NT. Unser für den heutigen Pfingsttag vorgesehener Predigttext stammt aus dem AT. Der Text ist weitgehend unbekannt. Die Sache, um die es geht, ist weitgehend bekannt. Daß der Text unbekannt ist, liegt auch daran, dass er eine etwas komplizierte Geschichte durchlaufen hat, bis er so formuliert wurde, wie wir ihn heute in der Bibel lesen. Ich lese ihn nicht ganz vor, denn er ist sehr lang. Ich kürze ihn aber auch nicht so sehr, dass man gar nicht mehr versteht, worum es geht.

(Num. 11,4b-17, 24-25)

I.

Immer wieder gibt es Situationen, in denen wir nicht mehr weiterwissen. Die Gründe können ganz verschieden sein. Die Situation in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Politik hat sich geändert. Wir kommen nicht mehr mit. Wir wissen nicht mehr weiter. Das wissen bereits die Konfirmanden, die von heute wie wir von damals, von vor 50 Jahren. Wir lernen darum im Kleinen Katechismus den 3. Artikel. Dort heißt es vom Heiligen Geist: "Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Kraft an Jesus Christus meinen Herrn glauben, noch zu ihm kommen kann." Daß wir aber trotzdem glauben, ja, diesen Satz sprechen können, ist das Werk, die Arbeit des Heiligen Geistes.

Im AT kann Mose zwar an Gott glauben, aber das ist auch alles. Mose ist am Ende. Er kann die Kritik seiner Landsleute nicht mehr hören, ja, nicht mehr ertragen. Er bittet Gott um Sterbehilfe. Gott antwortet. Er reagiert aber ganz anders. Gott sagt nicht ja; er sagt nicht nein. Er diskutiert auch nicht. Gott spielt nicht das bei Kindern so beliebte Spiel des Diskutierens, wenn Kinder bei ihren Eltern etwas durchsetzen wollen. Gott handelt. Er erteilt Mose einen Auftrag, und dann gibt er seine Geist weiter. Damit ist alles klar. Wunderbar.

Es ist in der Tat außergewöhnlich, etwas besonderes, wenn Gott eingreift. Wenn eines Eingreifens feiern wir Weihnachten, Ostern, Pfingsten, wie gesagt. Zugleich ist es menschlich, wenn Gott eingreift. Wir Menschen geraten oft an Grenzen, wissen nicht mehr weiter. In solchen Situationen greift Gott ein. Gott kennt uns Menschen und handelt entsprechend, greift ein, um uns zu helfen. Ich nenne zwei Beispiele.

II.

Wenn sich zwei Menschen begegnen, ich meine: echt begegnen, wenn es plötzlich zwischen beiden funkt, wenn er sie auf einmal ganz anders sieht und wenn sie ihn blitzartig ganz anders betrachtet, obwohl sie sich vielleicht schon Bahnhof, in einem Flieger. Dann ist da aber eine, einer und auf einmal ist das die eine, der eine. Davon träumen alle. Neulich in einer Fernsehshow mit Alfred Biolek war ein altes Ehepaar da und eine junge Frau. Das alte Paar erzählte aus seinem Leben. Über 50 Jahre sind sie verheiratet. Die junge Frau hörte gespannt zu. Dann hielt es sie nicht mehr. Sie mischte sich ein und fragte, warum denn heute junge Leute so oft und so schnell auseinander laufen. Offenbar wünschte sie, das Geheimnis des Zusammenbleibens zu erfahren, um es nutzen zu können. Das alte Ehepaar war Walter Jens und seine Frau. Die junge Frau war Veronika Feldbusch.

Das andere Beispiel handelt nicht vom Gefühl, sondern von dem Verstand, unserem Verstand, meinem und Deinem. Aus gutem Grund beschäftigt uns heute die Biologie und die dazu entwickelte Technik, die Gentechnik. Die Konfirmanden von heute, die Mädchen und die Jungen, müssen sich fragen, was für Kinder sie später haben wollen. Die Mädchen stehen vor der Entscheidung, was für ein Kind wollen sie austragen und zur Welt bringen. Wir goldenen Konfirmanden konnten uns nur fragen, von wem wir ein Kind haben wollen. Die Eltern der heutigen Konfirmanden müssen sich fragen, was für Enkel auf ihrem Schoß sitzen werden. Wir älteren müssen uns auch umstellen: wollen wir blonde oder schwarzhaarige Urenkel, Jungen oder Mädchen, kleine oder große von 1,90m aufwärts. Gesund sollen die Kleinen sein. Das versteht sich von selbst. Und sonst? Bleibet es bei der Gesundheit? Wohl kaum. Die Technik kann mehr. ... und wollen wir nicht auch mehr? Ja, und was sagen wohl später die Kinder von sich selbst? Ist dann das Kind, das sich die Eltern mit über 1,90m Größe so sehr gewünscht haben, weil sie selbst klein sind, auch glücklich? Klagt es gar, weil es Höhlenforscher oder Ü-Boot-Fahrer werden möchte, aber mit dieser Größe Probleme hat?

Die Frage der Technik, was sie kann, was Menschen von ihr wollen, hat uns diamantene und goldene Konfirmanden seit unserer Konfirmation beschäftigt. Geändert hat sich nur der zur Diskussion stehende Bereich der Technik. Heute geht es um die Biologie und damals um die Physik. Die Technik hatte die Menschen sehr in Atem gehalten. Ich wünsche den heutigen Konfirmanden nicht eine solche Situation, fürchte aber, dass sie sich nicht vermeiden lassen wird.

Damals ging es, um die Physik, wie gesagt. Zunächst schwärmten die Physiker, was nun alles durch die Atomphysik möglich wäre. Einer träumte davon, nun Kanäle bauen zu können, große Wasserstraßen zu errichten. Jetzt ginge alles schnell, billig und gut. Große Erdmassen könnten bequem bewegt werden. Dann merkte man, dass das doch nicht so einfach sei. Alles wird verstrahlt, das neue Kanalbett, das Umland. Dann schwärmten die Militärs. Es kam der kalte Krieg. Ost und West bedrohten sich mit Atombomben. Hier dauerte es länger, bis auch die Menschen merkten, dass man Atombomben gar nicht anwenden kann. Die ganze Erde würde verstrahlt werden. Eine neue, große Eiszeit käme. Sie würde Jahrhunderte dauern. Sieger gäbe es darum nicht, nur Verlierer. Heute will niemand mehr Atommüll haben.

Ja, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Bei der Konfirmation war Adenauer gerade mal 1,5 Jahre lang Bundeskanzler. Die Berliner Mauer wurde erst 10 Jahre später gebaut, stand 28 Jahre und ist nun seit über 10 Jahren verschwunden. Aus unserer heutigen Sicht ist das gar nicht lange. Aber 50 Jahre sind 50 Jahre. Jedoch verändert sich der Blickwinkel, wenn man davor steht oder wenn man zurückblickt. Wer in den Harz fährt, sieht zunächst fast das ganze Gebirge, später nur einen Teil, dann vielleicht nur einige Bäume, später, oben vom Brocken – mindestens bei guter Fernsicht – liegt vor uns Werningerode, Braunschweig, Halberstadt ua. Orte. Der Blickwinkel ändert sich.

Ändert sich aber auch unser Denken? Denken ist Denken. Davon handelt ein Theaterstück von dem Schweizer Dürrenmatt. Es wurde 1962 in Zürich uraufgeführt und sorgte damals für viel Furore. Wir würden das Stück heute vielleicht einen Psychothriller oder einen Horrorkrimi nennen. Ja, das gab es schon damals. Nur die Bezeichnung bzw. der Blickwinkel hat sich geändert. 3 Physiker – es ging damals um die Physik, wie gesagt, sitzen im Irrenhaus. Sie müssen dort bleib, weil sie 3 Krankenschwestern umgebracht haben, jeder eine. Sie sind freiwillig in das Irrenhaus hineingegangen. Sie haben nur so getan, als ob sie verrückt wären. Einer, der damit anfing, heißt "Möbius". Er ist ein genialer Physiker, echt. Er hat die Formel gefunden, die dem ganzen Weltall zugrunde liegt. Die Formel ist die Basis für alles. Bald aber merkt er, was er mit seiner Entdeckung getan hat. Die Formel kann für alles Mögliche und Unmögliche missbraucht werden. Er sieht also sehr bald die Gefahren, die die Kenntnis der Formel in sich birgt. Möbius bekommt deshalb Angst. Er flieht und meint, Schutz in der Irrenanstalt zu finden. Seine Formel nimmt er mit und vernichtet sie dort. Politiker aber haben von seiner Entdeckung erfahren. Sie schicken 2 Agenten hinter ihm her, die beiden anderen Physiker. Sie geben sich ebenfalls als Irre aus. Dann überstürzen sich die Ereignisse. Die leitende Irrenärztin entdeckt das Spiel der Dreien. Sie kopiert die Formel, bringt die Drei dazu, je eine Krankenschwester zu ermorden, um sie an sich zu binden, indem sie die Mörder als angeblich Kranke vor der Justiz, d.h. vor dem Gefängnis zu schützen. Sie selbst, die Ärztin, verwertet die Formel weltweit als Supergeschäftsfrau. Möbius erkennt: ein Gedanke, der gedacht wurde, kann nicht zurück genommen werden. Einmal in der Welt bleibt der Gedanke in der Welt und wirkt. Stimmt das? Hat Möbius recht?

III.

Gehen wir zurück zu unserem Text. Mose und das Volk können nicht nach Ägypten zurück. Sie haben den Gedanken der Freiheit gedacht und realisiert. Nun bedroht Mose zusätzlich das eigene Volk. Mose flieht deshalb zu Gott, um von ihm den Tod, das Ende zu erbitten. Er bittet um Sterbehilfe. Aber Gott, sein Geist, denkt weiter und handelt.

Im NT ist das Aber des Geistes Gottes so stark, dass er die Männer und Frauen dazu bringt, dass sie, die Männer und Frauen, die sich vor Jesu Tod am Gründonnerstag versteckten, nun auftreten, öffentlich sich zeigen, Reden halten, sagen, was Sache ist. Später werden große Gebäude erreichtet werden wie dieses, in dem wir zur Zeit uns befinden. In diesen Gebäuden, unseren Kirchen, werden sich 15-Jährige und 65-Jährige zu Gott bekennen, werden gemeinsam öffentlich über die Straße ziehen.

Das ist Pfingsten. Unser Denken und unser Fühlen erkennen, begreifen: da ist jemand, der helfen kann, wo wir am Ende sind, der weitersieht als wir, der anpackt, wo wir keine Ideen, nicht eine einzige haben, wo und wie man anpacken könnte.

November 1989, eine schlechte Jahreszeit in Deutschland. Es treffen sich Menschen zahlreiche Menschen in Kirchen, die vorher Sonntag für Sonntag leer geblieben sind. Diese Menschen ziehen anschließend mit brennenden Kerzen in die dunklen, kalten, windigen Novemberabende hinaus, und die Berliner Mauer, die best befestigte und bewachte Grenze der Welt fällt.

Eine unglaubliche Geschichte, aber wahr. Von solchen unglaublichen Geschichten leben wir, ohne sie könnten wir gar nicht leben. Mose wäre tot.

Luther, der die schon zitierten Worte niederschrieb: "Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Kraft nicht an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben, noch zu ihm kommen kann, dichtete auch: Mit unserer Macht ist nichts getan. Es streit für uns der rechte Mann." Gott greift ein!

Amen

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach, Göttingen
E-Mail: unembac@gwdg.de