Christi Himmelfahrt, 24. Mai 2001
Predigt über Johannes 17,20-23, verfaßt von Angelika Reichert

Vorbemerkung
Die Predigt bezieht sich ausschließlich auf den ersten Teil des vorgeschlagenen Predigttextes (Joh 17,20-26). Die Einschränkung auf V. 20-23 versucht, eine Überfrachtung der Predigt zu vermeiden. Sie erscheint vom Text her vertretbar, weil V. 20-23 eine klare Binnenstruktur aufweist und weil V. 24 mit der Vater-Anrede und mit dem betonten "ich will" dem vorangehenden Passus gegenüber neu ansetzt.

Liebe Gemeinde!

I.

Im letzten Jahr habe ich an einer Tagung teilgenommen. Das Thema lautete: "Kirche in der Zeitgenossenschaft". Konkret kamen z.B. folgende Themen zur Sprache: Müßte unsere Kirche nicht deutlicher auf die Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Mitglieder reagieren? Müßte kirchliche Arbeit nicht stärker unter dem Gesichtspunkt der Effektivität kontrolliert werden? Könnte Kirche nicht Entscheidendes von modernen Wirtschaftsunternehmen lernen, wenn sie die dort geltenden Gesetzmäßigkeiten in Betracht zöge? Kurz: Wird es nicht endlich Zeit für unsere Kirche, sich stärker dem zu öffnen, was man so "den Zeitgeist" nennt?

Eine kleine Beobachtung bei dieser Tagung steht mir noch lebhaft vor Augen: In einer der Morgenandachten sangen wir: "Jesus Christus herrscht als König" (EKG 123) – ein klassisches "Himmelfahrtslied". Dabei veränderte sich der Gesichtsausdruck der Singenden in eigentümlicher Weise. Es war, als habe das Lied ein Strahlen verbreitet, das in den Singenden etwas Helles, Klares und Bestimmtes aufblitzen ließ, ein Ausdruck von "Jawohl, so ist es und damit Punkt". Irgendwie lag so ein Hauch von verschwörerischer Verständigung im Raum, eben so ein heimliches "Trotzdem", das die Beteiligten auf unsichtbare Weise zusammenschloß. Bekanntlich kann man sich solche Eindrücke ja auch einbilden. Darum fragte ich abends beim Bier einen Bekannten, der auch auf der Tagung war, ob er meine Beobachtung irgendwie nachvollziehen könne. Seine Reaktion war überraschend: Ich brauchte gar nicht lange zu beschreiben, er wußte gleich, was ich meinte, und mehr noch, er hatte sofort eine Erklärung parat. Die lautete ungefähr so: "Das Lied bringt ganz massiv, ohne jedes wenn und aber, etwas zum Ausdruck, was eigentlich als verrückt gelten muß. Daß Christus eine der Welt übergeordnete Herrschaftsposition einnimmt, das widerspricht einfach aller Wirklichkeitserfahrung, das läßt sich auf gar keine Weise plausibel machen. Die Welt ist voll von Mächten und Kräften, die ungehindert Christus zuwiderhandeln, davon kann man sich durch einen Blick in die Tageszeitung überzeugen. Das Lied "Jesus Christus herrscht als König" ist wie ein Einspruch gegen diese Wirklichkeit. Es behauptet, daß weltliche Machtansprüche eben nicht das letzte Wort haben, daß die Wirklichkeit, die wir erleben, nicht die letzte Norm ist für unser Denken, Fühlen und Handeln, daß es etwas gibt, was ungleich viel mehr zählt. Wer diese Überzeugung teilt, ist eben froh, sie ab und zu wenigstens singen zu können. Sozusagen in geschlossener Gesellschaft, ohne den Druck, plausibel machen zu müssen, was sich nun einmal nicht plausibel machen läßt." "Vor allem dann ist man über solche Lieder froh", so fügte er noch leicht spitz hinzu, "wenn man für den Rest des Tages nach Übereinstimmungen zwischen Kirche und Zeitgeist suchen soll".

Diese Erklärung für die Beobachtung bei der Morgenandacht hat mir eingeleuchtet. Aber soll es damit nun sein Bewenden haben? Die Vorstellung behält doch etwas Komisches, vielleicht eher noch etwas bedrückend Unstimmiges: Da sitzt eine Gruppe von Christinnen und Christen zusammen, singt am Morgen mit glänzenden Augen und in heimlicher Verständigung "Jesus Christus herrscht als König" und sinnt für den Rest des Tages darüber nach, ob sich unsere Kirche nicht doch in höherem Maß als gewohnt auf den Zeitgeist einzulassen habe, ja ob nicht geradezu die Koalition mit dem Zeitgeist gesucht werden müsse. Wie geht das eigentlich zusammen: Christusherrschaft und unser Dasein in einer Welt, die von solcher Herrschaft nichts merkt, sondern eigene, sich immer rascher wandelnde Normen und Wertvorstellungen entwickelt?

II.

Wenn wir uns auf diese Frage einlassen, dann sind wir nicht die ersten. Von Beginn an haben Christinnen und Christen nach Antworten gesucht. Eine besonders deutliche Antwort bietet vor allem das Johannesevangelium. Hier wird in schneidender Schärfe der Gegensatz von christlicher Gemeinde und christusferner Welt hervorgekehrt. Manchmal legt sich sogar der Eindruck nahe, die Welt sei hier nichts weiter als die Gegenspielerin der christlichen Gemeinde, die sich dann ihrerseits nach Kräften abzugrenzen habe. Doch auch für den Johannesevangelisten ist damit noch nicht alles gesagt; das zeigt sich an unserem Predigttext. Es handelt sich um einige Verse am Ende eines langen Gebetes. Sprecher dieses Gebetes ist der in seinen Tod gehende Jesus, der seine Jünger in der Welt zurückläßt.

Joh 17,20-23

Nicht für diese allein aber bitte ich, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben,
damit sie alle eins sind, wie du, Vater, in mir und ich in dir,
damit auch sie in uns sind,
damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast.

Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben,
damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir,
damit sie vollendet sind zu Einem,
damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast.

Ein Ausblick und ein Rückblick treffen hier zusammen. Der Ausblick, der eine Bitte für die Jünger enthält, schließt diese zusammen mit allen, "die durch ihr Wort an mich glauben", also mit allen Generationen späterer Glaubender, also auch mit uns. Die Bitte drängt, drei Damit-Sätze türmen die Ziele der Bitte übereinander. Der Rückblick bezieht sich auf das nun fast abgeschlossene irdische Wirken Jesu. Wieder werden in drei Damit-Sätzen Ziele benannt, eben die Ziele des Wirkens Jesu auf der Erde. Die Zielbestimmungen in Ausblick und Rückblick stimmen beinahe völlig überein. Was Jesus jetzt von Gott erbittet, ist dasselbe wie das, was er auf Erden bewirken wollte. Das, was Jesus erreichen will, betrifft zuerst und vor allem die Seinen, also die damaligen Jünger und die Glaubenden aller Zeiten. Das, was Jesus erreichen will, betrifft aber auch die Welt. Wie verhält sich in der Absicht Jesu nun beides zueinander – die an ihn Glaubenden und die Welt?

III.

Für die Glaubenden wird Einheit erbeten, und für die Welt wird der Glaube an Jesus als den von Gott gesandten Offenbarer erbeten.

Der Zusammenhang scheint auf der Hand zu liegen: Nur eine geeinte Christenheit kann wirklich Zeugnis für ihren Glauben ablegen. Zwietracht dagegen verdunkelt unser Reden von Gott und verhindert so, daß die Welt zum Glauben kommt. Nur eine einstimmige Rede scheint stark genug, um sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Darum hängt die Einheit der Glaubenden mit dem Glauben der Welt zusammen. Das scheint nicht nur plausibel, sondern wie für unsere Situation geschrieben. Wann hätte es je ein solches Bemühen um Einigung zwischen den Konfessionen gegeben, und vor allem: Wann hätte solches Bemühen je so sichtbaren Ausdruck gefunden wie in unserer jüngsten Vergangenheit? Wie auch immer man inhaltlich zur "Gemeinsamen Erklärung" und deren Nachspielen stehen mag, von der Ernsthaftigkeit des Bemühens, die Gemeinsamkeiten im Verschiedenen zu entdecken, darf nichts abgemarktet werden. Ebenso unübersehbar ist das Bemühen, die Gemeinsamkeit "vor Ort" auch tatsächlich zu leben. Natürlich, da gibt es auch Widerstände und Härtefälle, aber das Gesamtbild können sie nicht verschieben. Darüber können und sollen wir uns freuen: Die ökumenische Bewegung, für die unser Johannes-Text von Beginn an eine entscheidende Rolle spielte, ist weitergekommen auf ihrem Weg.

Aber: Denkt Jesus in seinem Gebet eigentlich an solch einen langen Weg durch die Geschichte, einen Weg, auf dem die Glaubenden schrittweise ihrer schließlichen Vereinigung entgegengehen? Offenkundig nicht: Jesus bittet nämlich für die Einheit der Glaubenden aller Zeiten; die Glaubenden aller Zeiten sollen eins sein, nicht eins werden. Einheit ist hier nicht das Ende eines langen Weges von Bemühungen, die schrittweise darauf zuführen, etwa so, wie sich die deutsch-deutsche Einigung 1989 im Rückblick als das Ziel zeigt, auf das viele kleine Schritte vorher hingeführt haben. Darum wird in diesem Gebet auch der erbetene Glaube der Welt nicht als Folge unserer kirchlichen Einheitsbemühungen in Aussicht gestellt. Hier wird gar nichts ans Ende eines Weges verschoben, unsere Einheit nicht, und auch nicht der Glaube der Welt. Beides – unsere Einheit und der Glaube der Welt – kann immer geschehen, in jeder geschichtlichen Situation, in jeder Generation. Darum, daß dies jeweils geschieht, darum bittet Jesus seinen Vater.

IV.

Was ist das nun für eine Einheit, die sich nicht irgendwann, am Ende eines langen Prozesses von Einigungsbemühungen, ereignet, sondern die jetzt und immer geschehen kann? Das Jesus-Gebet bietet eine Antwort auf diese Frage, und diese Antwort ist präzise und zugleich ungemein abgehoben. Die Einheit der Glaubenden, unsere Einheit, entsteht, weil wir einbezogen sind in die himmlische Einheit zwischen Gott und seinem Sohn: "damit sie alle eins sind, wie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie in uns sind." Das hört sich nicht nur abgehoben an, das ist tatsächlich abgehoben, abgehoben von unserer Erfahrungswelt, nicht zu veranschaulichen durch Vergleiche oder Bilder. Zu Himmelfahrt – so könnte man zynisch bemerken – geht es eben nicht ohne das "Eia-Popeia" vom Himmel. Wenn denn schon nicht direkt von Christi Himmelfahrt die Rede ist, dann wenigstens von "unserer Himmelfahrt", von unserer Einbeziehung in die himmlische Gemeinschaft von Vater und Sohn. Mag sein, daß es zu Himmelfahrt und sonst nicht ohne den Himmel geht, wohl aber geht es ohne jenes Eia-Popeia, das auf ein fernes Jenseits vertröstet. Die himmlische Gemeinschaft Gottes mit seinem Sohn meint nämlich nichts anderes als das grundlegende Kommunikationsgeschehen, mit dem sich Gott uns Menschen zugewandt hat. Jesus ist nach dem Johannesevangelium das "Wort", in dem wirklich Gott selbst spricht. Jesus ist das einzige, was Gott zu uns Menschen sagt, außerhalb dieses Wortes kommt Gott nicht vor. Gott kommt uns nicht vor, aber in seinem einzigen Wort Jesus kommt er für uns uns wirklich vor. In dieses Kommunikationsgeschehen, in dieses Vorkommen Gottes in Jesus, sollen wir, nein falsch: sind wir der Bitte Jesu nach einbezogen. Wir gehören mit hinzu zu diesem einzigen Wort, mit dem sich Gott an die Welt wendet. Diese Zugehörigkeit macht die Einheit von Kirche aus, sie ist ihr Ein-und-Alles. Anders herum ausgedrückt: Wo immer diese Zugehörigkeit geschieht, da ist Kirche. Das die Menschen anredende Gotteswort, das sich in Jesus gezeigt hat, ist ihre einzige Bestimmung.

V.

Wir hätten's nun gerne konkreter. Jesus, das anredende Gotteswort, als einzige Bestimmung der Kirche – wie wirkt sich das nun für den Glauben der Welt aus, der hier ja schließlich auch erbeten wird? Unser abgehobener Text wird in diesem Punkt nicht konkret. Das macht aber nichts aus, weil uns in diesem Fall unsere Erfahrung mit menschlichen Worten weiterhilft. In diesem einen Punkt gleicht nämlich das Gotteswort den menschlichen Worten: Beides wirkt, beides verändert die Angesprochenen, wie auch immer. Liebeserklärungen z.B. verändern, manchmal sogar sichtbar. Die Veränderungen mögen bei den angesprochenen Personen unterschiedlich ausfallen – ein Siebtklässler verändert sich nach einer Liebeserklärung anders als eine gestandene Mittdreißigerin. Wirkungslos bleibt eine Liebeserklärung aber nicht, übrigens nicht einmal dann, wenn sie abgelehnt wird. Dabei brauchen wir uns nicht auf die besonders herausgehobenen Worte zu beschränken, wie es Liebeserklärungen nun einmal sind. Kein Wort ist, als sei es nicht gesprochen. Wer schon einmal erlebt hat, wie es ist, wenn der ganz normale Tagesgruß nicht erwidert wird, weiß, daß das stimmt.

Menschliche Worte wirken, und Gottes Wort auch. Darum läßt sich das anredende Gotteswort als einzige Bestimmung der Gemeinde auch nicht verheimlichen. Es verändert, es markiert die, die sich davon ansprechen lassen, es macht sie auffallend, ja, es macht sie auch fremd. Das ansprechende Gotteswort, das Jesus selbst ist, will bei denen, die sich ansprechen lassen, bewahrt werden, aber es will hier nicht eingesperrt sein. Darum drängt es weiter, über die Grenzen der Gemeinde hinaus, und der Weg, den es dabei nimmt, geht über die Veränderung der von ihm erreichten Menschen. Über unsere Veränderung, die in der einzig von ihm bestimmten Gemeinde zusammengeschlossen sind.

Darum schließt sich an die Bitte um die Einheit der Gemeinde die für die Welt an: "damit die Welt glaubt, daß du mich gesandt hast"; damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und sie geliebt hast, wie du mich geliebt hast". Die von Gott Geliebten sollen und können nicht anders als der Welt erkennbar werden. Die Bitte für die Welt richtet sich auf die Ausstrahlungskraft des Gotteswortes, die durch die von ihm Angesprochenen und von ihm Veränderten hindurch geht.

Natürlich kann man sich gegen diese Ausstrahlungskraft auch immunisieren. Von dieser Möglichkeit und dieser Wirklichkeit weiß der johanneische Jesus sehr wohl, und er weiß auch, daß sich die Ablehnung des verwandelnden Gotteswortes verbindet mit Haß und Gefährdung der daran Glaubenden. Gleichwohl gerät ihm die Bitte für die Seinen doch auch zur Bitte um den Glauben der Welt. Das kann auch nicht anders sein, wenn er selbst das ansprechende Wort Gottes ist, das in der Gemeinde lebendig ist, an deren Grenzen aber nicht haltmacht, sondern ihr immer neue Weltmenschen hinzufügen will.

VI.

Sollen wir nun weitersingen "Jesus Christus herrscht als König" oder sollen wir uns um das Bündnis mit dem Zeitgeist bemühen? Sollen wir beides tun oder keins von beidem?

Nun, gegen das Lied spricht gar nichts. Nur täte es wohl gut, sich von unserem Text her immer wieder daran erinnern zu lassen, wie denn der erhöhte Christus eigentlich herrschen will: nämlich als das in der Gemeinde lebendige, schöpferische Gotteswort, das über die Grenzen der Gemeinde hinausdrängt und alle die anspricht, die es sich gefallen lassen. Vielleicht könnte das auch dazu verlocken, das Lied und andere Ausdrucksformen unseres Glaubens nicht so strikt in den Grenzen unserer geschlossenen Gesellschaften zu halten. Nein, wirklich, ich bin mir ganz sicher: Schön sah das aus und schön hörte sich's an, wie da bei der Tagung die Morgenmüden erwachten und singend das ausdrückten, was sie eigentlich schon lange mal sagen wollten.

Also eine klare Absage an den Zeitgeist (was immer das ist)? Sollen wir uns die Ohren verstopfen, und dann, wenn wir gerade mal nicht singen, pfeifen, z.B. auf sämtliche Wünsche und Erwartungen an unsere Kirche, pfeifen auf alle Effektivitätsgesichtspunkte bei der Regulierung kirchlicher Arbeit, und überhaupt: pfeifen auf alles, was "man" gegenwärtig so für wichtig hält? Besser nicht. Zum einen, weil das einfach dumm wäre: Wer sich dem Zeitgeist verschließt, hat bestimmt mit dem Geist einer früheren Zeit angebandelt, und ob das nun besser ist, steht noch dahin. Außerdem, und das ist noch viel wichtiger: Es ist wirklich so, daß das ansprechende Gotteswort nicht bei uns eingesperrt werden will. Wie könnten wir da in den Wahnsinn verfallen, seinem Weiterdrängen unnötige Stolpersteine in den Weg zu legen durch ein sektiererisches Abgrenzungsgehabe, das der Welt um uns herum keine Frage wert ist? Nur – und das ist wohl das Allerwichtigste: Der Verzicht auf die klare Absage an den Zeitgeist bedeutet noch lange nicht das Bündnis mit ihm. Jedenfalls so lange nicht, wie uns unser abgehobener Text im Ohr klingt. Er will uns wirklich abheben, indem er uns in dasjenige Bündnis stellt, in das wir einzig und allein gehören: "damit sie alle eins sind, wie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie in uns sind".

Amen

PD Dr. Angelika Reichert
Gneisenaustr. 76
33330 Gütersloh
E-Mail: reichert.angelika@t-online.de