Kantate, 13. Mai 2001
Predigt über Jesaja 12,1-6,
verfaßt von Hinrich Buß
Jesaja 12,1-6
1. Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr, daß du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.

2. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.

3. Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen.

4. Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist!

5. Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen!

6. Jauchze und rühme, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!

Liebe Gemeinde,

"Tochter Zion" wird intoniert, und aus dem voran gegangenen Kapitel klingt sogar "Es ist ein Ros entsprungen" herüber. Als sollte Weihnachten eingeläutet werden. Aber keine Bange, hier werden Jahreszeiten nicht vertauscht, der endlich beginnende Frühling wird schon zu seinem Recht kommen. "Ihr werdet mit Freuden schöpfen aus den Heilsbrunnen", heißt es wenig später, und unwillkürlich beginnt man "Wenn alle Brünnlein fließen" zu summen. Ein Text, angefüllt mit Musik, wird uns zu Gehör gebracht, mit bekannten Motiven und Anklängen. Da ist man geneigt gleich einzustimmen, was sich am Sonntag "Kantate" allemal nahelegt.

"Danklied der Geretteten" ist das 12. Kapitel des Jesajabuches überschrieben. Ein Unbekannter hat es für nötig gehalten, nach vielen prophetischen Droh- und Heilsworten, nach Weherufen und Visionen ein Zwischenstück einzuschieben. Er stimmt ein Lied an. Nicht als Pausenfüller gedacht, wie dies heute gern praktiziert und mit lautem Volksgemurmel begleitet wird. Vielmehr als bewußte Unterbrechung und gesungene Antwort auf das bisher Gehörte. Es soll nach außen dringen können, was Menschen erfüllt und bewegt. Dabei ist das Bild der Quelle besonders ergiebig. Sie ziehen sich gegenseitig an, die Brunnen und die Lieder. Wie das Wasser fließt aus der Quelle, so sprudeln Melodien hervor; wie Wasser empor kommt aus der Tiefe, so steigen Gedanken und Gefühle auf beim Singen und finden stimmigen Ausdruck. Kantate - was kann man Besseres tun, als selbst zu singen und in die Vollen zu gehen?

1.

Der Zwischengesang aus Jesaja 12 mutet uns freilich einiges zu. "Freude" ist keineswegs das erste Wort, von "Zorn" ist vielmehr gleich am Anfang die Rede: "Ich danke dir, Herr, daß du bist zornig gewesen über mich...". Wem käme aus eigenem Antrieb in den Sinn, sich für finstere Mienen und Drohgebärden auch noch zu bedanken? Wohl keinem. Doch in dem Lied meldet sich jemand zu Wort, der weiß, daß es nicht nur harmonische Töne gibt, sondern auch dissonante oder gar schräge. Ohne Bild gesprochen: daß Kinder vernachlässigt oder verhätschelt werden; daß Frauen geschlagen und dunkelhäutig aussehende Männer auf der Straße angerempelt, wenn nicht niedergemacht werden.

Für dies alles und anderes mehr wird kein Dank ausgesprochen, um Himmels willen nein. Vielmehr dafür, daß dies nicht einfach mit Schweigen übergangen wird, sondern empörte Reaktionen hervorruft. Es ist Gott selbst, dem die Zornesader schwillt, der nicht mit ansehen kann, was unbeteiligten und unbescholtenen Menschen an Gewalt angetan wird. Gott sei Dank haben viele Frauen und Männer, Gott sei Dank haben wir selbst inzwischen begriffen, daß man nicht wegsehen darf, wenn bei helllichtem Tage Kinder und Frauen, Ausländer und Behinderte auf der Straße schikaniert werden. "Mehr Zivilcourage bei Verhinderung von Gewalt" lautete vor kurzem eine Schlagzeile. Gott sei Dank, daß Menschen zornig geworden sind. Viele Passanten sehen nicht mehr weg, wenn auf Wehrlose eingedroschen wird, sie trauen sich einzuschreiten.

Gottes Zorn steht dafür, daß Unrecht nicht durchgeht. Wir können hierbei aus dem Brunnen des Heils schöpfen. Die Gebote stehen uns zur Verfügung. "Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch Zeugnis reden". Wie nötig sie sind, ist uns durch die Gewaltwelle neu ins Bewußtsein getreten. Gebote helfen uns Widerstand zu leisten. Und wenn wir sie selbst übertreten, gibt es die Möglichkeit, Schuld zu bekennen. "Herr, erbarme dich", als Bitte gesprochen, oder "Kyrie eleison", sogar mehrstimmig gesungen, so daß es wunderschön in die Ohren klingt. Aber liebe Gemeinde, schön ist nicht die Tat, die schädliche, sondern die Bitte um Vergebung und die Erfahrung, daß man frei werden kann von Schuld. "Dein Zorn hat sich gewendet und du hast mich getröstet."

Die dicke Luft ist wie weggeblasen. Nicht wahr, Sie kennen das: Zwischen Mann und Frau geht kein Wort mehr hin und her, das verbissene Schweigen hat sich wie eine lähmende Last auf beide gelegt. Wenn dann die Frau - und meistens ist es eine "sie", welche die Initiative ergreift -, wenn sie sagt: "Mein Zorn ist verraucht, laß uns wieder gut zueinander sein", dann fällt hörbar eine Zentnerlast von zwei Seelen. Bald erklingt ein fröhlich gepfiffenes Lied durch die Wohnung. "Ich danke dir, daß dein Zorn sich gewendet hat.." Ein Strich ist unter die Vergangenheit gezogen. O ja, es läßt sich schön singen, wenn der Zorn sich verzogen hat. Nichts ist so schön, wie sich nach einem kräftigen Krach zu versöhnen.

2.

Das Lied aus Jesaja 12 hält eine weitere Überraschung bereit.

Hier dankt jemand für die überstandenen Kräche, die in der Zukunft liegen, die also noch gar nicht stattgefunden haben. Ausleger meinen, daß die den hebräischen Text am besten wiedergebende Übersetzung des zitierten Verses so lautet: "Ich danke dir, Herr, ...daß dein Zorn sich wenden wird, damit du mich (dann) tröstest." Ergibt das Sinn? Kann man sich für etwas bedanken, das erst noch geschehen wird? Ja, man kann.

Auffallend ist, wie wenig der Sänger des Liedes der Gegenwart verhaftet ist. Er lebt nicht nach der Devise: Ich will alles, und zwar sofort. Die Gegenwart ist ihm zu kurz, um das eigene Leben zu begreifen; zu eindimensional, um größere Zusammenhänge zu entdecken; zu kümmerlich, um Erwartungen erfüllt zu bekommen. Er will mehr, als er in seiner Lebensspanne erfahren kann. Und so eilt er weit in die Zukunft voraus und bekommt einen langen Atem. Keine Spur von Zögerlichkeit wird erkennbar. "Ich bin sicher", sagt er, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt. "Ich fürchte mich nicht", fügt er hinzu. So kann er von künftigen Ereignissen reden und bereits in der Gegenwart dafür danken. Was noch nicht geschehen ist, wird behandelt, als sei es bereits eingetreten. Er redet von morgen und besingt es bereits heute.

Oder mit Tagore gesprochen: "Glaube ist der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist." Er zwitschert in den heller werden Tag hinein. Er singt die Zukunft herbei. Er nimmt vorweg, was kommen wird. Das Vertrauen in Gottes gute Absicht ist so groß, daß er sagen kann: Ich bin sicher. Ich fürchte nichts und niemand.

Liebe Gemeinde, da konnte man meinen, dies kurze 12. Kapitelchen sei ein bald umzublätterndes Zwischenstück, und nun erweist es sich als tragende Zukunftsmusik.

3.

Nun wird aus dem gewendeten Zorn und der überwundenen Angst Freude. Die sich fortpflanzt durch die Reihen. Jetzt redet nicht mehr nur einer. Aus dem "Ich" wird ein "Ihr", oder besser noch ein "Wir". Es ist, ein träte einer nach dem anderen nach vorn, um einzustimmen in den Chor: "Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen... Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen". Der Chor wandert sogar heraus aus den heiligen Hallen und geht dorthin, wo Menschen bekümmert sind.

Ich habe eine Szene vor Augen, wie eine Frau aus ihrem Krankenzimmer auf den Flur tritt, frisch operiert, mühsam die ersten Schritte setzend. Sie hat einen tiefen Eingriff hinter sich. Sie tritt ans Fenster, neben sich andere Patienten, die alle nach unten blicken. Dort haben sich Kinder versammelt, im Innenhof des Krankenhauses. Als Chor. Sie beginnen ihr erstes Lied. Es verbreitet sich im Hof, es steigt nach oben. Wenige Töne genügen, um die Kranke aufzuwühlen. Was zu ihr dringt, ist die Kunde vom Leben, von jungen Menschen vorgetragen. Sie spürt den Schmerz im Körper und mehr noch in der Seele, ob je wieder sein wird, was vorher war. Zugleich empfindet sie Dankbarkeit dafür, daß das Leben sie wieder hat und sie es spüren kann in ihren Gliedern und aufnehmen im Gesang. Zwischen Trauer und Dank, zwischen Schmerz und Glück wird sie hin- und hergerissen. Bis die Freude Oberhand gewinnt. Nun kann auch sie schöpfen aus dem Brunnen des Heils.

Der Bogen wird noch weiter geschlagen. "Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündigt, wie sein Name so hoch ist!" Alle Lande sollen wissen, wer dieser Gott ist. Aus dem Lied des einzelnen Sängers ist ein weltweites Kantate geworden. Erdumspannend, durch die Zeiten schreitend.

Gott ist nicht nur Gegenstand des Gesanges, er ist höchstselbst der Inspirator. Er ist, wie in Jesaja 12 zum Ausdruck gebracht, "meine Stärke und mein Lied". Der Gesang wird zum Gottesprädikat. Oder mit Paul Gerhardt gesprochen: "Das, was mich singen machet, ist was im Himmel ist".

Liebe Gemeinde,

dieser wie ein Pausenfüller anmutende Text aus Jesaja 12 ist eine musikalische wie theologische Offenbarung.

Amen

Dr.Hinrich Buß, Landessuperintendent in Göttingen
E-Mail: lasup.goettingen@evlka.de