Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

6. Sonntag der Passionszeit, Palmsonntag, 8. April 2001
Predigt über Philipper 2,6-11, verfaßt von Elge Klassohn

Liebe Gemeinde,
liebe Schwestern und Brüder,

es gibt kaum einen Bibeltext, der dem gewöhnlichen Empfinden und Verhalten in unserer Gesellschaft radikaler entgegen stünde als dieser sehr alte Christuspsalm aus der ersten Zeit der Kirche.

Zunächst scheint es sich an unser Mitgefühl zu wenden, das wir mit dem Christus in Knechtsgestalt haben könnten. Wer genauer hinhört, merkt sehr bald, daß dieser Christuspsalm eine geballte Ladung Kritik an allem enthält, was wir im Leben für selbstverständlich und üblich halten.

Schon kleine Kinder sagen: Das ist meins. Laut aufheulend wehren sie sich dagegen, daß jemand ihnen etwas wegnimmt, was sie zum Eigenen zählen: Das ist mein Auto, meine Puppe, mein Buch. Und mit großen Augen zeigen sie auf etwas Gewünschtes und sagen: „Haben, meine“. Im Kindergarten werden verbissene Kämpfe zwischen den Kleinen um das Eigene ausgetragen. Sagt nicht die Psychologie, daß dieses auch notwendig sei zur Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit mit einem eigenen Ich-Bewußtsein?

Zur Zeit, als der Apostel Paulus seinen Brief an die erste christliche Gemeinde in der Stadt Philippi an der Ostküste Griechenlands schrieb, kannte man diesen Urantrieb des Menschen zum Haben-Wollen genauso gut wie heute. Heute wie damals gilt und galt die Forderung: „Sei du selbst, sei stark, setze dich durch.“ Baut nicht auch die Marktwirtschaft auf diesen Willen zur Durchsetzung des Eigenen, auf Gewinnstreben und den Wunsch nach mehr auf? Das Leben in unserem Lande in einer westlich-liberalen, marktwirtschaftlich strukturierten Gesellschaft scheint es geradezu erforderlich zu machen, daß schon den Kindern das Bestehen im Konkurrenzkampf, im Wettbewerb um das Mehr antrainiert wird.

Viele meinen, daß gerade die Konkurrenz, das Streben Leistung, nach mehr Lohn, nach besseren Zensuren, nach besseren Aufstiegschancen, nach mehr Erfolg und Anerkennung auch der Antrieb zur Erneuerung und Veränderung der Gesellschaft sei. Hat nicht das Streben nach einer freien Gesellschaft, in der das Gewinnstreben zum Erfolg führen kann, auch das sozialistische Experiment in der DDR zum Scheitern gebracht? Sicher, es gab in der real-sozialistischen DDR auch das Streben nach Gewinn, nach Vermehrung der Privilegien, nach Auszeichnungen und Gremien und natürlich auch die Jagd nach dem eigenen Vorteil. Das Streben nach Gewinn und Erfolg und die Freude am Eigenen liegt wohl tief in unserer menschlichen Natur. Manche sagen, daß nach 1990 der Wettkampf um den Gewinn und das „Haben“ die Menschen auch härter und kühler gemacht habe. Nach den im Konkurrenzkampf Unterlegenen, nach den Verlierern und den sogenannten „Versagern“, nach den Schwachen und beiseite Gedrängten wurde wenig gefragt. Sind sie nun so etwas wie ein Bodensatz aus Untüchtigen und Unflexiblen in einer Gesellschaft, die nur die Tüchtigen und die Sieger lauthals feiert? Das zur Zeit vielfach propagierte neo-liberale Gesellschaftskonzept nimmt es leicht in Kauf, daß sich der Abstand zwischen den Gewinnern und den Verlierern vergrößert, daß der Kampf rabiater und die Gier stärker wird.

Liebe Gemeinde, erwarten Sie von mir heute nicht, daß ich dies larmoyant beklage. Ich mag nicht den weinerlichen Tonfall derjenigen, die das Leben der sogenannten „Welt“ in düsteren Farben malen, die aber im Kampf ums Dasein persönlich kräftig mittun und dies öffentlich unter einer Jammerkultur verbergen. Zum Abkanzeln der Fehler anderer habe ich wenig Neigung, denn es gab in den Gemeinden des Paulus wie auch 2000 Jahre später in den Gemeinden unserer Kirche genug in schönen Worten verbrämten Egoismus und Hochmut, genug Konkurrenzdenken unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, genug Gier nach Anerkennung und genug Hartherzigkeit auf Kosten anderer. So können wir uns nicht hinstellen und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die anderen, auf die böse Welt weisen. Nein, so möchte ich meine heutige Predigt zum Palmsonntag nicht verstanden wissen.

Es geht vielmehr darum, daß wir die Worte des Apostels Paulus, diesen alten Christuspsalm, genau in dem verstehen, was er für uns heute bedeutet. Er läßt uns ja keine andere Wahl als im Vertrauen auf Christus gegen das egoistische Habenwollen das Hergeben-Können und gegen das angstbesetzte Behalten-Müssen das Schenken-Wollen zu stellen. Dies wären allerdings wohlfeile, illusionäre Sprüche, wenn es dabei nur um schöne und sehr moralisch aufgepumpte Redensarten ginge. Nein, hier geht es um Gottes Tun und Verhalten, und es geht um seinen Christus, den Gottes- und Menschensohn. Gott in Jesus Christus handelt in unserer Welt anders als wir es für natürlich, üblich und verständlich halten. Sein Tun und Handeln führt in eine Richtung, die uns eigentlich gegen den Strich geht. Gott, der Vater Jesu Christi, erweist sich gerade so als Gott, daß er das Kostbarste seinen Menschenkindern herschenkt und gibt: Seinen Menschensohn Jesus Christus. Er schenkt uns mit ihm das Leben. Gerade im Hergeben und nicht im Behalten ist er Gott. Gott erweist sich als der Herr der Welt und des Lebens nicht indem er immer mehr fordert, mehr Hingabe, mehr Glauben, mehr Einsatz, mehr Heiligung. Und deshalb darf diese Predigt auch nicht mit erhobenem Zeigefinger und nicht in forderndem Ton von oben herab gehalten werden.

Wie versteht Paulus dann aber das Leben des Christen? Die Begegnung mit dem Christus Gottes befreit uns vom Herabsehen auf andere. Nein, wer Jesus Christus begegnet ist, wer auf ihn getauft ist, wer mit ihm lebt, der ist befreit zu einem Denken, zu einem Glauben und Handeln, das dem Handeln Gottes entspricht.

Liebe Schwestern und Brüder, wir können so „gesonnen“ sein wie Gott selbst. Wir können trotz unserer engen Gedanken in unserem engen Herzen groß sein im Geben und Vergeben. Dafür ist die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu, an die wir uns jetzt in der kommenden Woche zwischen Palmsonntag und Ostern besonders intensiv erinnern werden, das wichtigste Zeugnis und zugleich die wichtigste Hilfe.

Dieser Christuspsalm im Apostelbrief an die Philipper erzählt uns die Geschichte des Weges, den Jesus von Gott her zu uns hingeht und dabei sein Leben für uns einsetzt. Dieses wichtigste und kostbarste von allen Menschenleben soll nicht für sich kostbar sein, nicht für sich bewahrt werden und zur Erfüllung kommen, soll nicht seinen Zauber, seine Größe und Würde in sich selbst behalten! Christus gibt sich uns hin, bietet sich uns dar, nimmt unser Leben , unser Leiden und Sterben in seine Geschichte mit Gott hinein und geht mit uns den Weg weiter zu Gott hin. Dies geschieht, auch wenn wir von uns aus mit unserem Zweifel, unserer eigenen Unfähigkeit zu reinem hingebendem Glauben und Vertrauen so wenig dafür tun und bewirken könnten. Dieser Weg, den Christus mit uns auch durch die Tiefen unseres Lebens geht, führt uns auch zu uns selbst und läßt uns doch nicht bei uns selbst bleiben.

Liebe Gemeinde, wir merken und verstehen ganz gut, worauf es dem Apostel Paulus hier ankommt, gerade weil uns das hier Gesagte eigentlich gegen den Strich geht. Hier führt der Weg nicht von unten nach oben, nicht von den kleinen Anfängen zu den großen Erfolgen, nicht durch die Mühen zu den großen Siegen, bei denen doch viele auf der Strecke bleiben und nur wenige auf die höchsten Stufen gelangen. Der Weg Jesu Christi führt von den Reichen zu den Armen, aus dem Licht durch das Dunkel, vom hohen Roß auf den Rücken des Esels, von den jubelnden Massen in die Einsamkeit der Folter und in die schreckliche Verlassenheit am Kreuz. So wird das Schwache nicht vom Harten überwunden, sondern das Harte und Böse unterliegt den Sanftmütigen. Auf dem Wege Jesu Christi heißt es nicht: Immer schneller, immer höher, immer perfekter, immer lauter, immer besser als die anderen, sondern auf dem Wege Jesu werden Menschen leiser und einfacher und geduldiger und hingebender und stärker, nicht ohne die anderen, sondern mit den Mitmenschen und Nächsten. Kann dies unser Weg werden oder führt er uns dorthin, wohin wir nicht wollen und nicht passen?

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder, der Weg Jesu Christi kann unser Weg sein, weil wir selbst oft genug und erniedrigt und verletzt und allein gelassen sind. Denn dies ist ja oft genug unsere menschliche Wirklichkeit. Wer ist denn von uns so erfolgreich, so gesund, so überlegen, so immerwährend jugendlich, so von guten Freunden und Verwandten niemals aufgegeben als daß er nicht auch jemanden brauchen würde, der ihn nicht allein läßt, der sein Schicksal versteht und es – noch besser – teilt, der mit uns geht durch die Verlassenheit und durch das Leiden hindurch und uns gerade darin stärkt und tröstet und ermutigt, die nächsten Schritte zu tun? Wir haben die Geschichte von den jubelnden Massen, die Jesus in einem grandiosen Mißverständnis in Jerusalem als den Befreier von der Zwangsherrschaft der Römer bejubeln, gehört. Aber Jesus bleibt nicht bei den jubelnden Massen. Er geht den Weg zum Kreuz. Und er geht diesen Weg, um uns nahe zu sein und nahe zu bleiben. Er geht diesen Weg, damit wir Gott nahe kommen und Gott nahe bleiben. Es ist, um es noch einmal zu sagen, der Weg des Geben-Könnens und nicht des Behalten-Müssens, den er durch eine Entwürdigung und Verlorenheit gegangen ist, die niemand von uns seitdem mehr ertragen und aushalten mußte. In Jesus Christus hat Gott uns Menschen nicht den Konsequenzen unserer Taten und Untaten und nicht einmal dem Tod überlassen, sondern uns das hohe funkelnde Leben der anderen Welt erschlossen. So besteht für jeden von uns noch Hoffnung, das neue, das bleibende Leben zu finden. So ist uns eine unverlierbare und unverletzliche Würde gegeben, die niemand beugen und brechen kann. So begegnet uns in Jesus Christus der Mensch Gottes, der Menschen- und Gottessohn, der überwunden hat und in dem wir auch überwinden werden alles das, was uns von Gott entfernt hat und was uns unseren Mitmenschen fremd gemacht hat. Dies geschieht im Zeichen der freien Gnade Gottes, die uns in Jesus Christus nahe kommt und unter der wir beglückt und befreit den Christusweg, den Weg der von Gott gewollten Menschlichkeit, gehen. Laßt uns auf das Wort des Christus selbst vertrauen: Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind,; denn sie werden Gott schauen.

Amen

Kirchenpräsident Elge Klassohn, Dessau
E-Mail: kirchenpraesident@evlkanh.de


(zurück zum Seitenanfang)