Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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3. Sonntag der Passionszeit, Okuli, 18. März 2001
Predigt über Lukas 9, 57-62, verfaßt von Dietz Lange

Liebe Gemeinde!

„Ach wie war in Köln es doch vordem mit den Heinzelmännchen so bequem!“ Ich weiß nicht, ob Ihnen das alte Kinderbuch bekannt ist, aus dem dieser Vers stammt. Es geht darum, dass in grauer Vorzeit eine geheimnisvolle Gruppe von Heinzelmännchen bei Nacht geräuschlos und sauber alle lästigen Arbeiten in der Stadt erledigte. Das ging so lange gut, bis ein neugieriger Mensch das ungeschriebene Gesetz der Heimlichkeit durchbrach und Licht anmachte. Daraufhin verschwanden die Heinzelmännchen auf Nimmerwiedersehen.

An dieses Märchen erinnern mich manche Gespräche mit Menschen, die so alt sind wie ich oder noch älter. Da kommt oft die Rede auf die „gute alte Zeit“, als das Fernsehen noch Niveau hatte, als einen im Zug noch keine handy-Unterhaltung wildfremder Menschen störte, und nicht zuletzt als die Kirche noch eine Heimat für die Menschen war. Damit Sie jetzt gar nicht erst versuchen, mich misszuverstehen, indem Sie anfangen zu raten, wen ich wohl gemeint habe, füge ich gleich hinzu: Ich ertappe mich auch selbst manchmal bei solchen Gedanken. Das muss wohl so eine Art Pensionärskrankheit sein. Das stellt sich schnell heraus, wenn man einmal nachfragt, wann das denn wohl gewesen sein soll, die „gute alte Zeit“. Vielleicht die ersten Jahre nach dem II. Weltkrieg, die meine Generation in der Jugend geprägt haben? Da gab es einen wenn auch kurzen kirchlichen Aufbruch, der verlässliche Orientierung versprach nach dem riesigen ideologischen Betrug des Dritten Reiches. Aber gute alte Zeit? Zerstörte Städte, Hunger und schlecht geheizte Wohnungen, keine absehbaren Zukunftschancen: Wer wollte sich das wohl zurückwünschen? Und die Kirche hat damals wohl allzu sehr versucht, in der Vergangenheit wieder anzuknüpfen, vor 1933, so wie die Gesellschaft in jener Zeit überhaupt. Das konnte nicht von Dauer sein.

Es ist also nichts mit dem sentimentalen Rückblick von uns älteren Damen und Herren. Bloß eine optische Täuschung, bedingt durch die wachsende Unfähigkeit, mit den neuen Entwicklungen Schritt zu halten. Es sieht so aus, als ob auch Jesus das meint. In der biblischen Erzählung, die wir gerade gehört haben, geht es um Menschen, die ihn auf seinen missionarischen Wanderungen durch Palästina begleiten sollen. Auch sie sollen nicht an der Vergangenheit kleben: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geeignet für das Reich Gottes“, heißt es da zum Schluss. Ist das aber nicht doch zu pauschal? Kommt es nicht heute sehr darauf an, die Vergangenheit im Blick zu behalten und aufzuarbeiten? Und wenn die Alten sich vielleicht manchmal zu sehr in ihren Erinnerungen verlieren - ihre Erfahrung könnte doch nützlich sein, gerade in einer Kultur, die wie die unsrige sich völlig auf einen Kult der Jugendlichkeit verlegt hat und die Alten als Zivilisationsmüll in die Heime abschiebt. Aber Jesus geht noch viel weiter. Das sieht man an der Art, wie er einen anderen abfertigt, der erst noch seinen Vater beerdigen will. „Lass die Toten ihre Toten begraben und komm mit“, bekommt er zu hören. Das klingt brutal, fast unmenschlich. Verbietet Jesus da nicht etwas, was selbstverständliche Pflicht ist? Diese Abfuhr ruft den spontanen Protest wohl nicht nur von uns Älteren hervor. Immer wieder einmal hören wir heute von Beerdigungen, bei denen niemand dem Toten das letzte Geleit gegeben hat. Solche Nachrichten verstärken in uns das Gefühl einer letzten Ungeborgenheit, das der Gedanke an den Tod in uns auslöst. Ist es da nicht herzlos von Jesus, wenn er jemanden, der für eine richtige Beerdigung eines lieben Angehörigen sorgen will, kurzerhand selber zu den Toten rechnet?

Solche und ähnliche Fragen werden die Menschen damals auch auf den Lippen gehabt haben. Jesus hat sie provoziert, so wie er uns heute auch provoziert. Das war bei ihm nicht einfach orientalische Übertreibung, sondern er will uns damit zum Nachdenken zwingen. Lassen Sie uns die Herausforderung annehmen und die drei Begegnungen in unserer kurzen Erzählung näher betrachten.

Da spricht zuerst einer Jesus an, der spontan und ohne jede Einschränkung bereit ist, mitzukommen und mitzuhelfen, um Menschen für seine Sache zu gewinnen. Wir müssen uns diesen Mann wohl sehr jung vorstellen. Er ist restlos begeistert von Jesus, ein Fan, wie wir heute sagen würden. Der Gott, von dem Jesus spricht, der den Menschen ganz fordert, den vollen Einsatz für Liebe und Gerechtigkeit, für Menschenrechte und Frieden verlangt, sogar Liebe zu den Feinden, das ist ganz nach dem Herzen dieses Mannes. Und dass dieser Gott zugleich den Menschen verspricht, sie in seiner Liebe zu behüten, komme was mag, das hat ihm Mut gemacht. Da will er dabei sein und mitmachen. Jesus müsste sich eigentlich darüber freuen, sollte man meinen. Von solchen Leute müsste es mehr geben, die sich mit so großer Energie ins Zeug legen. Jesus aber sagt ihm: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat keinen Ort, an dem er sich ungestört hinlegen kann.“ Er weist den jungen Mann nicht einfach ab. Aber er gibt ihm zu bedenken: „Mach dir klar, worauf du dich da einlässt. Jugendliche Begeisterung ist etwas Schönes, auch Notwendiges. Aber sie verpufft auch leicht. Den Glauben an Gott zu bezeugen, von dem ich spreche, mit Worten und Taten, das ist etwas anderes als ein lustiges Abenteuer. In einer diesem Glauben immer fremderen Welt sind Konflikte programmiert. Da kann man nicht jedes Wochenende nach Hause fahren und sich von Mutti die schmutzige Wäsche waschen lassen. Für den christlichen Glauben einstehen, das geht auch nicht in einer Kuschelkirche, in der man unter sich ist und alle Problemfälle sorgfältig ausgesperrt hat. Christlicher Glaube verlangt zwar die geradezu kindliche Ergebenheit gegenüber Gott, aber er verlangt sie von Erwachsenen, die mit beiden Beinen in der Welt stehen. Glauben heißt, sich auf Gedeih und Verderb der Liebe Gottes ausliefern, aus ihr sein Leben gestalten, sich auf sie verlassen - auch und gerade dann, wenn alle menschliche Unterstützung versagt. Da ist man nicht selten allein und unverstanden. Willst du das auf dich nehmen?“ Es ist uns nicht überliefert, was der junge Mann geantwortet hat. So reicht er die Frage an uns weiter: Sind wir bereit dazu?

Dann ist da der Zweite, von dem wir schon kurz gesprochen haben, der noch seinen Vater begraben will, bevor er Jesus folgen will. Auch ein Mensch, dem wir unsere Sympathie nicht versagen können. Es ist ja wirklich keine billige Ausrede, was er vorbringt. Wieso weist Jesus ihn trotzdem zurecht? Sicher will er nicht das Gebot außer Kraft setzen, dass wir unsere Eltern ehren sollen. Würde er heute leben, so würde er bestimmt auch harte Kritik daran üben, wie wir mit alten Menschen umspringen. Aber er nimmt Stellung - sicher in überspitzter Form, um es richtig klar zu machen - gegen eine rückwärts gerichtete Frömmigkeit. Eine Religion, für die das Höchste die Pietät und Traditionspflege ist, das ist das Christentum nicht. Gewiss hat Jesus die Tradition seines Volkes geachtet. Aber kein Geschichtsbewusstsein und keine Pietät darf die Aufgabe behindern, die Liebe Gottes den Menschen von heute nahezubringen und sie heute durch Zuwendung und Zupacken zu praktizieren. Damit wendet sich Jesus jetzt nicht so sehr an die Adresse begeisterter junger Anhänger - obwohl es unter denen manchmal auch verblüffend konservative Menschen gibt -, sondern mehr an uns Ältere, die eher in der Vergangenheit verwurzelt sind. Hier ist Jesus von schneidender Schärfe: Die sich in die Vergangenheit flüchten, gehören schon zu den Toten; sie sind tot für Gott, dem sie sich versagen. Das gilt auch dann, wenn es die christliche Tradition ist, an die sich jemand klammert. Wer ein wenig bibelfest ist, den erinnert das an die Geschichte von Lot im Alten Testament, wie der aus der Stadt Sodom herausgeführt wurde. Entgegen allen Warnungen schaute seine Frau sich bei der Flucht um - und erstarrte zur Salzsäule. Flucht in die Vergangenheit ist keine harmlose, verzeihliche menschliche Schwäche, sondern Flucht vor Gottes Anspruch, der uns in der Gegenwart für sich haben will. Zugleich ist es eine Absage an Gottes Liebe, bei der allein wir geborgen sein können.

Schließlich ist noch von einem dritten Menschen die Rede. Der bietet Jesus aus freien Stücken an, ihm zu folgen und ihm behilflich zu sein. Er will sich nur noch schnell von seiner Familie verabschieden. Nicht einmal das will Jesus zulassen: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist für das Reich Gottes nicht geeignet.“ Jesus will die Anhänglichkeit dieses Mannes an seine Familie nicht einfach abwerten. Aber es gibt Berufungen Gottes, denen selbst die eigene Familie nicht im Wege stehen darf. Im Bild gesprochen: Das Stück Furche, das der Pflügende schon gezogen hat, ist nicht unwichtig - im Gegenteil. Jesus will nicht eine Eintagsfliegenexistenz von uns, kein süchtiges Haschen nach Augenblickserfüllung oder ein Zeit und Stunde vergessendes Versinken in virtuellen Welten. Denn dabei ginge nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft verloren. Aber: es geht darum, die Furche, an der wir arbeiten, mit ganzer Konzentration zu ziehen. Unser Leben im Auftrag Gottes zu gestalten, dazu gehört, dass wir hingucken, was wir tun. Blicken wir zurück - oder auch in die Luft -, so wird die Furche schief und krumm; das Leben misslingt. Das ist eine sehr nüchterne Anweisung zum Ende der drei Begegnungen. Glaube ist keine kopflose Begeisterung, die irgendwelchen Utopien nachläuft und sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Das hat Jesus dem jungen Anhänger klar gemacht. Glaube ist auch keine Traditionspflege und sich Klammern an hergebrachte Formen des Christlichen. Das gilt uns Älteren. Glauben heißt, in jeder Lage fest auf Gott vertrauen - und dann das tun, was die Liebe an ganz alltäglichen Dingen von uns fordert. So wichtig auch die menschlichen Bindungen sind, in denen wir stehen - das letzte und tiefste Vertrauen kann nur Gott gehören.

Der Jesus, der uns in den geschilderten drei Begegnungen entgegentritt, macht auf Sie vielleicht einen ungeheuer strengen Eindruck. Er scheint gar nicht in unsere Zeit zu passen, die viel eher ein sanftes und freundliches Bild von ihm hat. Aber dann werden wir dieses Bild wohl korrigieren müssen. Im Übrigen ist es gar nicht so sehr seine persönliche Strenge, sondern die Strenge Gottes selbst, der den Menschen unerbittlich fordert. Gott will uns ganz für sich haben, ohne Flucht in jugendliche Schwärmerei und ohne Ausweichen in eine angeblich schönere Vergangenheit. Das passte schon damals nicht in die Zeit. Aber es gehört zu Gottes Recht auf unser Leben.

Daran gibt es nichts abzumarkten, so sehr wir in unserer Alltagspraxis immer wieder zu Kompromissen gezwungen sind. Und doch ist das nur die eine Seite. Wichtiger noch ist die andere. Der Verzicht auf ideale Zukunftsbilder, auf vergoldete Vergangenheit und auf die Sicherung durch gesellschaftliche Konventionen bedeutet auch eine Befreiung. Denn damit sind wir ganz offen für Gottes Zuwendung. Durch die Strenge Gottes und durch seine Fremdheit scheint seine Freundlichkeit hindurch. Darum sind wir nicht mehr gezwungen, uns an der Weltverbesserung zu übernehmen oder uns in der Tradition zu verbarrikadieren. Im Vertrauen auf Gottes schützende Gegenwart können wir in aller Ruhe unsere Furche ziehen, ohne uns zwanghaft umgucken zu müssen. Das ist Gottes Werk, nicht unseres. Durch den Ruf Jesu macht er uns selbst geeignet für sein Reich.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Platz der Göttinger Sieben 2
37073 Göttingen
Tel. 0551 / 75455


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