Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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3. Sonntag der Passionszeit, Okuli, 18. März 2001
Predigt über Jeremia 20, 7-11a, verfaßt von Friedrich Wintzer

Anmerkung zur Predigt

I.

Der heutige Sonntag ist der 3. Sonntag der Passionszeit. Er fällt damit in die Zeit des Kirchenjahres, in der Christen sich an das Leiden Jesu Christi erinnern. Besinnung über seinen Weg zum Kreuz ist angesagt. Nicht wenige unter uns fragen mit Nachdruck: Warum mußte das Leben des Menschen Jesus so notvoll und traurig enden? Gibt es Antworten auf diese Frage?

Die genannte Frage wird verschärft durch die Erfahrung, daß auch Menschen mit lebendigem Glauben nicht vor tödlicher Krankheit und schwerem Leiden bewahrt werden. Das jährlich wiederkehrende Gedenken an die Passion Jesu Christi führt ins Nachdenken: Wie gehen Menschen in dieser Welt mit Anfechtung und Leiden um? Oder gibt es dafür nur eine Möglichkeit: Angesichts solcher Fragen stumm zu werden, weil die Worte fehlen.

Einige mögen hier einwenden: Das Leiden Jesu Christi sollte nicht verallgemeinert werden. Die Passion Jesu Christi ist ein eigenes Thema.- Andere mögen dagegen Widerspruch erheben. Hat die Kirche in ihrer Geschichte nicht zu oft nur vom Leiden Jesu Christi gesprochen? Sie hat oft keine Augen gehabt für gequälte und erniedrigte Menschen. In dieser Welt gibt es ja immer wieder Kreuzwegstationen für andere Menschen. Sie haben vielerlei Gestalt. In einer Berliner Gedenkstätte für Opfer der NS-Zeit hat ein Künstler das eine Kreuz Jesu Christi mit einer Ansammlung von Kreuzen umgeben. So entstand ein kleiner (blätterloser) „Wald“ von Kreuzen. Der Künstler wollte in Trauer zum Ausdruck bringen: Nicht nur der Kreuzestod Jesus Christi, sondern auch die Leiden gefolterter und ermordeter Menschen dürfen nicht vergessen werden. Das Kreuz Jesu Christi steht nicht abseits. Es hat mitten in dieser Welt gestanden. Es ist kein besonderes Kreuz. Gestorben ist jedoch an ihm ein besonderer Mensch. Es war Jesus von Nazareth. Er war der Mensch, der im Auftrag Gottes predigte, zur Umkehr aufrief und die Hoffnung auf das Reich Gottes stärkte.

II.

Schon die ersten Christen haben begonnen, die Verkündigung und die Passion Jesu Christi zu deuten. Sie bemühten sich darum, in ihren Gebeten und Gottesdiensten das rechte Verständnis der Berichte über Jesus zu gewinnen. Wo aber konnten sie Hilfe für die angemessene Deutung von Jesu Passion finden? Dieser Gedanke beschäftigt uns ja auch, wenn wir in unserer Gemeinde das Abendmahl feiern, das an das letzte Mal Jesu mit seinen Jüngern erinnert.

Eine Hilfe fanden die frühen Christen in der Bibel Jesu, nämlich in den Schriften des Alten Testaments. Der heutige Predigttext nennt dafür ein Beispiel. Einer, der den Auftrag zur Verkündigung hatte, dabei aber Leiden und tiefe Anfechtung erlebte, war der Prophet Jeremia. Der heutige Predigttext ist ein Selbstbekenntnis von ihm. Er steht Jeremia 20, 7-11a. Dieser Text enthält in erster Linie Worte der Klage, ja der Anklage gegen Gott. Er ist geschrieben mit Worten, die von alttestamentlichen Klagepsalmen her bekannt sind. Klagepsalmen haben Menschen immer wieder geholfen, daß sie in ihrem Leiden oder in ihrer Anfechtung nicht vor Schmerz stumm wurden, daß sie Worte fanden, mit denen sie zu Gott rufen und klagen konnten.- Der Prophet Jeremia beschreibt in diesem Text seine Situation mit sehr persönlichen Worten. Das Fazit lautet für ihn: Ich kann nicht mehr! Warum ist für Jeremia die Last des Prophetenamtes so groß geworden? Die Klage des Propheten Jeremia lautet:

Herr, Du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muß ich schreien: „Unrecht“ und „Gewalttat“ muß ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen.

Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer; in meinen Gebeinen verschlossen, daß ich`s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: „Schrecken ist um und um“. „Verklagt ihn!“ „Wir wollen ihn verklagen!“ Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: „Vielleicht läßt er sich überlisten, daß wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen“. Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.-

Jeremia war der Prophet, der das Leiden in seinem Beruf kennen lernte. Er wurde um das Jahr 650 v. Christus in der Nähe von Jerusalem geboren. Er entstammte einer alten Priesterfamilie. Gegen den Auftrag, Prophet zu werden, hat er sich gewandt. Für diese schwere Aufgabe, so sagte er, sei er zu jung. Er zählte damals 23 Jahre. Nur mit Zögern ist Jeremia Prophet geworden. Seine Berufung geschah in schwieriger Zeit. Das Recht wurde in seinem Lande damals oft gebrochen. Der Wille Gottes, der in den Zehn Geboten zur Sprache kommt, wurde mißachtet. Das Volk Israel war weithin von seinem Gott abgefallen. Da trotz vieler Reden Jeremias eine Umkehr nicht erfolgte, wurde Jeremia zum Unheilspropheten. Er verkündete, daß Unheil über das Volk kommen werde. Der warnende Prophet Jeremia wurde jedoch verhöhnt und mißhandelt. Mit Ironie wurden seine Worte lächerlich gemacht. Aus seinen Mahnworten „Unrecht“ und „Gewalttat“ wurde ein Spottvers. Er lautete: „Schrecken ist um und um“. Weil der Prophet Jeremia die Eroberung Jerusalems durch die Babylonier angekündigt hatte, bekam er Schläge. Paschhor, der Leiter der Tempelpolizei, inhaftierte ihn für eine Nacht.

Als Jeremia diese Worte, die einem Klagepsalm ähneln, aufschrieb, war er in tiefer Not. Der Schmerz und die Schwermut bestimmten sein Leben. Aber er blieb nicht stumm. In dem Klagegebet zu Gott fand er Worte für seine Situation. Sein Gebet aus der Tiefe gebraucht einen vorwurfsvollen Vergleich für die Übernahme des Prophetenamtes. Jeremia klagt, daß Gott ihn verführt habe, Prophet zu werden. Es sei ihm ergangen, wie einem Mädchen, das von einem Mann überredet worden ist. Gottes Ruf sei so gewaltig über ihn gekommen, daß er sich nicht habe widersetzen können. Aber wenn er dann aufhören wollte, im Namen Gottes zu reden, hätte es in ihm wie Feuer gebrannt, so daß er doch nicht schweigen konnte.

III.

Jeremia hat das Amt des Propheten weiterhin ausgeübt, weil er dem Auftrag nicht entfliehen konnte. Aber er erkannte in seinem Leiden, daß er nicht auf alle Fragen eine Antwort hatte. Der heilige Gott, der größer ist als menschliche Vernunft begreifen kann, erweist sich in dieser Weltenzeit als ein verborgener Gott. Der barmherzige Gott, der in den Psalmen gepriesen wird, ist nahe und fern zugleich. Der Prophet Jeremia hat in seinen Anfechtungen erfahren, daß er die Wege Gottes nicht begreifen kann. Der barmherzige Gott ist und bleibt ein unbegreiflicher Gott. Allein der Glaube hat den Propheten Jeremia darin bestärkt, den heiligen und unsichtbaren Gott zu ehren und in aller Offenheit zu ihm zu beten. Festgehalten hat der Prophet trotz aller Fragen an der Gewißheit, daß sich der barmherzige Gott am Ende doch als sein Beistand und Tröster erweisen werde. Diese Gewißheit hat er in kurze Worte der Hoffnung gefasst. Sie bilden den Schluß des Predigttextes. Jeremia bekennt: „Der Herr ist bei mir wie ein starker Held; darum werden meine Verfolger nicht gewinnen“ – auch wenn heute vieles unbegreiflich ist. Im Sprachstil der Klagepsalmen hat Jeremia in seinem schweren Erleben zu Gott geredet. Er schrie seine durch Menschen zugefügte Not heraus.–

Im Neuen Testament war es Jesus, der sowohl die Dankpsalmen als auch die Klagepsalmen des Alten Testaments kannte. Ein Klagepsalm gab ihm die Möglichkeit, an Gott in der Passion trotz aller Not festzuhalten. Der Evangelist Matthäus berichtet über Jesu Sterben am Kreuz: „Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: “Eli, Eli, lama asabthani?“, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Einige von denen, die um das Kreuz herum standen, fingen an zu spotten und sagten: Er hat Gott vertraut; der helfe ihm nun, wenn er Gefallen hat an ihm.

Der Evangelist Matthäus beendet hier seinen Bericht über die Kreuzigung Jesu. Es sind nur wenige Worte: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied“.- -

IV.

Es hat immer wieder Christen gegeben, die auf die Worte Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ mit großer Betroffenheit und Bestürzung reagierten. Aber warum? Daß Jesus sein Sterben am Kreuz als Gottverlassenheit empfunden hat, verdeutlicht die Bitterkeit seines Sterbens. Jesus war als der Gekreuzigte ´unten` bei den Menschen. Er ist zum Bruder der Entrechteten und Gefolterten geworden. Ein heroisches Sterben am Kreuz gibt es nicht., da in der letzten Phase der Kreislauf zusammenbricht. Die Passion Jesu erinnert an den Propheten Jeremia, wenn er in seiner Leidensnot zu Gott ruft und klagt. Jesus hat sich nicht von Gott abgewandt, sondern zu dem geklagt, zu dem er in seinem Leben Vertrauen hatte. Seine Worte sind der Anfang eines Psalms, der dem sterbenden Jesus in seiner Ganzheit gut bekannt war. Der Beter des Klagepsalms 22 hält trotz vieler Bedrängnisse an Gott fest. Aber auch Gott soll ihn nicht loslassen. Darum heißt es in Vers 20 dieses Psalms: „Aber Du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eil mir zu helfen!“

Jesus hat in seiner Passion nur den ersten Vers des Klagepsalms nachgesprochen. Umschlossen ist dieser Klageruf von den Gedanken, die Jesus vor seiner Gefangennahme in Gethsemane geäußert hat. Er war dort im Blick auf die bevorstehende Entscheidung tief niedergeschlagen. Darum betete er: “Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch des Leidens an mir vorüber; - doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst.“

V.

Unsere Besinnung galt heute zwei Gotteszeugen, die im Leiden zu Gott klagen: Jeremia und Jesus. Beide sind herausgehobene Gestalten der Geschichte Gottes mit den Menschen, vor allem Jesus.

Der Maler Marc Chagall hat Glasfenster für das Frauenmünster in Zürich gestaltet. Das eine stellt den Propheten Jeremia dar, das andere Jesus Christus. Chagall hat sich lange gefragt, wie er den Propheten darstellen könne, der als Mensch sehr darunter litt, daß er dem Volk auch Unheil ansagen mußte. Chagall hat Jeremia als betrübten, nachdenklichen Menschen dargestellt. Er trägt ein dunkelblaues Gewand. Die Farbe verrät etwas von der Stimmung des Propheten und der Last seines Berufes. Dies Glasfenster ist im Frauenmünster als ein Seitenfenster zum Christusfenster angeordnet. Chagall gibt damit einen Hinweis. Wer die Botschaft und das Geschick Jesu Christi verstehen will, der darf das Alte Testament nicht außer acht lassen. Jesus und Jeremia gehören in die Reihe der Gotteszeugen, die an dem Auftrag ihrer Verkündigung auch im Leiden festgehalten haben. Sie haben ihre Sache damit in Gottes Hand gelegt.

Amen

Anmerkung zur Predigt:

Der 3. Sonntag der Passionszeit hat als Evangelientext Luk. 9, 57-62, der vom Ernst der Nachfolge handelt. Der alttestamentliche Predigttext ist diesem Thema in der Predigttextordnung zugeordnet. Die vorliegende Predigt zu Jeremia 20, 7-11 geht davon aus, daß das Neue und das Alte Testament einander ergänzen. Sie tragen zum gegenseitigen Verständnis bei. Die ´Konfession´ des Jeremia und die Passion Jesu verdeutlichen, daß das verkündigende Handeln im Namen Gottes in das Leiden führen kann.

Prof. Dr. Friedrich Wintzer, Meckenheim bei Bonn
E-Mail: FWintzer@t-online.de


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