Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Reminiscere, 11. März 2001
Predigt über über Johannes 8,21-29, verfaßt von Richard Engelhardt

Anmerkung

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte vom brennenden Dornbusch (2. Mose 3) – viele werden sie kennen – erzählt davon, dass Mose auf die wundersame Erscheinung hin, dass der Busch nicht verbrennt, herantritt und von Gott angesprochen wird. Der Gott, der Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, gibt ihm den Auftrag, sein Volk aus Ägypten herauszuführen, aus der Not der Unterdrückung. Mose fragt nach dem Namen Gottes, um sich vor seinem Volk ausweisen zu können, um seine Vollmacht nachweisen zu können. „Gott sprach zu Mose: ICH BIN, DER ICH BIN.“

Die Juden, mit denen Jesus das Gespräch führt, das Johannes in unserem Abschnitt aus dem Evangelium berichtet, kannten die Geschichte vom brennenden Dornbusch und dem Wort Gottes: ICH BIN; der ich bin. Jedes Jahr hatten sie es einmal im Sabbatgottesdienst gehört. Untrennbar war für sie mit diesem Wort der Name Gottes verbunden. Ihre Frage an Jesus: „Kann ich Ihren Ausweis sehen?“ Bei ihnen schwingt in dieser Frage auch Erschrecken und Entsetzen mit. Hat doch dieser Jesus von Nazareth ihnen gegenüber gerade etwas gewagt, was nach all ihrem Wissen, ihrem Glauben, ihren Ordnungen nur Gott zusteht.

„Wenn ihr nicht glaubt, dass ICH BIN, werdet ihr sterben in euren Sünden“. Ein Mensch, dieser Jesus von Nazareth, maßt sich an, was ausschließlich Gottes ist. Er sagt: ICH BIN.

Wenn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt“, kann man mit ihm darüber streiten oder diskutieren. Wenn er sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, dann kann man nachfragen, wie man das verstehen soll. Aber zu sagen: ICH BIN und wenn Ihr das nicht glaubt, dann werdet Ihr sterben, das geht für jeden frommen Juden entschieden zu weit, viel zu weit, nämlich in die Nähe Gottes. Dorthin darf kein Mensch. In Gottes Nähe sind die Cherubinen, die himmlischen Heerscharen. Der Platz des Menschen ist auf dieser Erde. Hier hat er sich um die Ordnungen Gottes, des Herrn, zu mühen, IHN zu loben, und die Wohltaten aus SEINER Hand dankbar anzunehmen.

Und nun kommt da einer und sagt, das ist zwar alles richtig, aber vor allem ist Gott der Vater. Von Gott als seinem Vater, dessen Willen er kennt, spricht dieser Jesus. Er redet von einem Gott, der offenbar ganz nahe ist, der die Überwindung des ewigen Todes und die Befreiung von Schuld verheißt, der ein Gott der Liebe ist. Gott, der Vater, läßt die Sünde nicht mehr zu, diese Trennung zwischen ihm und seinen Kindern. Und dieser Jesus sagt sogar: „Ich und der Vater sind eins.“ Das übersteigt das Fassungsvermögen der frommen Juden, die gekommen sind, mit Jesus ein religiöses Gespräch über Gott und die Welt zu führen.

Auf ihr Unverständnis, ja sogar ihr Entsetzen, reagiert Jesus scheinbar unangemessen hart: „Was rede ich überhaupt noch mit euch!“ Ihr seid doch gefangen in euren Dogmen, in euren Vorurteilen. Ihr werdet ja doch tun, was ihr euch schon vorgenommen habt. Ihr werdet mich hinrichten, „erhöhen“ ans Kreuz. Ich kann nicht mehr mit euch reden, denn ihr hört nicht zu, ihr wollt auch gar nicht zuhören. Ihr habt Angst, dass euch das Zuhören selbst in Frage stellt, dass ihr plötzlich etwas sehen könnt, was euch bisher verborgen war. Nein, mit euch zu reden, hat keinen Sinn mehr. Aber: „Ich habe viel über euch zu reden.“

Und das, liebe Gemeinde, was Jesus über die Menschen sagt, die da mit ihm in diesem merkwürdigen Gespräch sind. Wenn wir darauf genauer hören, werden wir mit einem Mal merken, dass Jesus nicht nur über die Menschen damals redet, sondern auch über uns. Und wenn wir uns auf diese Sätze Jesus einlassen, dann werden wir – Gott gebe es – merken, dass Jesus nicht nur über, sondern auch mit uns redet.

Natürlich können wir uns nicht mit den Menschen vergleichen, die bei diesem Gespräch dabei waren. Wir können dies vor allem deswegen nicht, weil wir die „Erhöhung“ des Jesus von Nazareth kennen, seinen Tod am Kreuz, und ihn als unseren Heiland glauben, den Gott in der Auferstehung erhöht und ihm den Namen gegeben hat, der über allen Namen ist. Erlösung ist für uns nicht mehr ein ausschließlich zukünftiges Ereignis, zu dem Jesus sagt: „Denn werdet ihr erkennen, dass ICH BIN“. Wir leben danach und bekennen, dass Jesus Christus wahrhaftiger Gott und auch wahrhaftiger Mensch ist.

Aber da beginnen schon unsere Probleme. Glauben wir das wirklich? Anders gefragt: Hat das Bekenntnis zu Jesus dem Christus als wahrem Gott und wahrem Menschen im alltäglichen Leben eine Bedeutung? Wenn jemand sagt, Jesus sei ein bedeutender Lehrer gewesen, stimmen wir natürlich zu. Dass Jesus ein edler Mensch war, der für seine Überzeugung schließlich gestorben ist, glauben sicher viele von uns. Auch als Vorbild, dem wir folgen können, akzeptieren wir ihn. Und vielen, die keine Christen sind, können wir diese Bilder Jesu vermitteln. Aber das Entscheidende fehlt: unser Glauben: Jesus der Christus. Jesus, der von sich sagt: ICH BIN. Der damit sagt: „Der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein.“

Wo wir dieses Bekenntnis nicht mehr wagen, dass wir nicht nur an Gott, sondern an Gott den Vater unseres Herrn Jesus Christus glauben; wo wir es nicht mehr wagen, von Gott als dem Vater und dem Sohn zu sprechen, da sind wir dann in der Lage derer, die nichts verstehen, die nichts verstehen können, weil sie im eigentlichen Sinn gottlos sind, nur von dieser Welt sind.

Dreimal überliefert Johannes den Ausspruch Jesus: „Ihr werdet in euren Sünden sterben“. Viele verstehen das als Drohung. Einer der ganz großen Theologen des vergangenen Jahrhunderts, Rudolf Bultmann, meint, Jesus würde damit sagen wollen: Es gibt eine Zeit, in der es zu spät ist. Erkennt jetzt, dass ich der Sohn Gottes bin, bevor es zu spät ist, sonst werdet ihr in euren Sünden sterben.

Ich denke mir, Jesus droht hier nicht. Er redet von Gott und Gottes Willen und vom Menschen und seiner Gefangenheit in sich selbst. Mit Jesus, dem Sohn Gottes, kommt Gott den Menschen nahe. Die Gottferne ist vorbei. Der Gott, der den Menschen durch Gebote und Ordnungen zu einem einigermaßen erträglichen Leben verhalf, den Menschen dabei aber immer in Ferne zu ihm, beließ, und genau das heißt Sünde. Dieser ferne Gott kommt durch seinen Sohn ganz nahe. Jetzt ist da einer, der Gottes Willen tut, der Gottes Wort redet, der Gottes Weg geht, der mit Gott eins ist. Diesem Jesus als Sohn Gottes, als Christus zu vertrauen – und heißt, an ihn zu glauben – hebt die Gottesferne, die Sünde auf.

In unserem ganz normalen Alltag können wir uns in diesem Glauben an den durch Jesus Christus nahen Gott geborgen fühlen. Nicht mehr ein drohender und strafender Gott steht weit über uns, sondern der nahe Gott hilft uns auch da auf, wo wir straucheln und unsere Wege gehen. Der Apostel Paulus sagt es so:

„Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja viel mehr, der auch auferweckt ist. Er ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.

Ich bin gewiß, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch menschliche Gewalt, weder Gegenwart noch Zukunft, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herren.“

Von Martin Luther wird erzählt, er habe gesagt: „pecca fortiter!“ Auf deutsch heißt das: Sündige tapfer! Natürlich fordert Martin Luther damit nicht auf, ein sündhaftes Leben fern von Gott zu führen. Aber er weiß, dass wir Menschen uns der liebenden Gegenwart Gottes nicht immer bewußt sind und immer wieder in der Versuchung stehen, uns auf unser eigenes Können, auf uns selbst mit unserer Leistungsfähigkeit, Gesundheit oder Schönheit zu verlassen, unser eigenes Glück in uns selbst zu finden. In einer seiner überlieferten Tischreden sagt Luther es so: „ Der Geist ist wohl willig, aber wir sind ein glimmender Docht, haben nur die Anfänge des Geistes. Unser Herr Gott muss Geduld mit uns haben.“ Tapfer zu sündigen, heißt dann, zur eigenen Sünde, zur Gottesferne, sich zu bekennen und mutig in Gottes Hände zu geben, was unsere nicht tragen können.

Nicht, dass wir Zweifel haben, dass wir uns gottverlassen fühlen, dass wir immer wieder eigene Wege gehen, – nicht dies alles trennt uns von Gott und seiner Liebe. All diese Trennungen aufzuheben, hat Gott seinen eigenen Sohn Jesus Christus auf diese Welt gegeben und hat ihn den Namen gegeben, der über alle Namen ist. Alle Welt kann bekennen, dass Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters und – wie wir hinzusetzen können – zu unserem Heil.

Amen.

Anmerkung: In der Textabgrenzung folgt Verf. der sehr gründlichen Exegese von Christoph Hinz/Merseburg in GPM 1966/67 (21. Jahrg.) S. 120 ff: „Vers 30ff hinzuzunehmen, bedeutet ein neues Predigtthema“. Zum „ego eimi“ (ich bin) waren hilfreich der Spezialartikel von E. Stauffer im ThWB 11, S. 350 ff und Wolfgang Staemmler im GPM 1956/57 S. 86 ff.

Pastor i.R. Richard Engelhardt
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