Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Sexagesimae, 18. Februar 2001
Predigt über Jesaja 55, (6-9)10-12a, verfaßt von Jobst von Stuckrad-Barre

6 Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist.

7 Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.

8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, 9 sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.

10 Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, 11 so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.12 Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.

"Eben noch bei meiner Freundin anrufen, dann komme ich." "Ich muß eben noch was im Fernsehen anstellen, dann bin ich soweit." "Ich will eben noch ins Internet, komme gleich." So oder ähnlich rufen Jugendliche oder Erwachsene; die Familie ist das eine, die Kommunikation mit den Freunden und der Öffentlichkeit das andere - wie lange das dauert, ist nur für die Wartenden eine Frage, nicht für den, der kommuniziert! Um was es dabei geht, muß auch nicht immer so wichtig sein, Hauptsache, es klappt, und der oder die andere ist erreichbar. Wenn die Verbindung nicht klappt, könnte es sein, dass man was verpasst.!

Suchet Gott, solange es geht - ruft, betet zu ihm, solange er nahe ist. Am Ende des zweiten Jesaja-Buches die Stimme, die ganz zu Anfang ruft: "Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit der Stadt freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat und ihre Schuld vergeben ist." Die gleiche Stimme, die beim Kommen Jesu aufgenommen worden ist, die ruft: "In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg!" Diese Stimme ruft, lädt ein, fordert uns auf: Sucht Gott, solange er sich finden lässt - betet, erkennt, dass seine Nähe uns gilt, aber nicht unbegrenzt ist, dass er sich nicht immer finden lässt.

Gott suchen. Was für eine Stimme, was für ein Bote ist das, der die Stimmen seiner Zeit und nun, verstärkt durch die Stimme des Evangeliums, unsere Zeit und ihre Stimmen durchdringen will - Gott lässt sich finden, doch nicht ohne Grenzen, er ist nahe, doch nur, wenn ihr sein Wort auch wahrnehmt.

Wir, die wir das hören, haben tausend Einwände auf den Lippen und, noch mehr, ängstliche, zaghafte und stolze Einwendungen im Herzen: Gott jetzt, heute, in dieser internetmäßig abgeschirmten, in tausend Sonder-Entwicklungen ausdifferenzierten Welt? Uns liegt viel näher, nach dem angemessenen Verhalten zu fragen, nach den Rechten des Menschen und ihren Verletzungen, nach Wegen, Frieden zu finden. Gott suchen. Naja. Versöhnung und Frieden, das wär' schon mal was.

Als ob von außen, "aus dem Off" unsere Gedanken ausgesprochen würden, geht gleichsam ein Chor auf die Fragen derer ein, die sich an das Sichtbare, ans greifbar Unlösbare halten wollen: Der Gottlose, der Rechtsbrecher, sie sollen von ihrem Tun lassen, umkehren sollen sie von ihrem Weg ins Unrecht, von ihren egoistischen Gedanken - und sie werden entdecken, dass Gott seine Nähe gibt dem, der das tut, der Erbarmen braucht und es findet, der von der Gewalt lässt und Versöhnung erfährt. Die Schauplätze sind bekannt: Zwischen den Einzelnen in Familien, Freundschaft und Feindschaft; zwischen den Völkern in Nahost, im Innern Afrikas oder wo immer Übles statt Freiheit, Gewalt statt Recht gefördert wird. Wer davon lässt, findet neu Gottes Nähe.

So aufgerufen, so mit unseren Wegen und Verhältnissen konfrontiert müssen Junge und Alte erkennen: Gott geht anders vor als wir. Seine Wege sind offenbar andere als die Wege, die wir jeden Tag wieder nehmen. Warum ist er dann auf Versöhnung aus, auf Nähe, herzliches Erbarmen und Verstehen, obwohl wir ihm doch immer wieder bescheinigen, wie schwer es ist, ihn zu verstehen?

Ich kehre die Perspektive einmal um, stelle mir vor, diese Worte - meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, eure Wege sind nicht meine Wege - dies oft zitierte Gotteswort soll für einen Moment aus dem Munde von Jugendlichen kommen. Wie oft wird das ähnlich gedacht und gesagt: Eure Wege sind nicht meine Wege, eure Gedanken schon mal lange nicht. Eltern und Großeltern müssen mühsam lernen, dass Jugendliche so empfinden und denken; sie brauchen das, um ihre eigene Welt aufzubauen und sich zurechtzufinden. Väter und Mütter, die das erleben, geraten manchmal an ihre Grenzen und sind ratlos. Gleich zu sagen, so sind sie, unsere lieben Kinder, das gelingt nicht jedes Mal. Auch Ausbildern, Pastoren, Lehrern und Erzieherinnen nicht.

Sie hören nicht, wie sich da etwas Eigenes, Neues anbahnt, vielmehr fühlen sie sich bedroht. Wie die Söhne und Töchter auch. Die wollen nicht genau die Fehler machen, die sie an ihren Eltern erleben, sie wollen vor allem ihren eigenen Weg ins Leben gehen. Doch was sie alle mit einander zusammenhält, ist: Du bist und bleibst meine Tochter, mein Sohn; Ihr seid und bleibt meine Eltern. Das ist beileibe nicht allein ein Recht, es ist Leben schaffend, die Basis für zukünftige Lösungen. Jede nächste Generation schafft sich so ihren Himmel, ihre Welt, und wer das nicht beachtet, kränkt so den Andern, sieht nur sich und nicht, dass aus all dem Anderssein erst Leben, fruchtbares Miteinander und Wachsen entsteht. Erst wer also liebevoll die Eigenheiten des Andern sieht, begreift sich und seinen Weg inmitten der Schöpfung.

Wie weit sind wir manchmal davon weg. Unser Wille, unsere Vorstellung von der Welt sollen der Maßstab sein. Wie kostbar sind uns die Lösungen, die Wege, die wir uns mühsam erarbeitet haben. Denken wir. Und werden traurig oder zornig, wenn die Zeit über solche mühsam erarbeiteten Ansätze wie nichts hinweggeht. Ist das gerecht, ist das gut? Gott, was sagst du?

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege.

Anders, Raum und Zeit, Ziele und Wege hinterfangend, gestaltet Gott das Leben. Was wir tun, mag abweichen davon und wird doch von ihm so aufgenommen, dass wir verblüfft sein mögen und spät erst erkennen - es ist mehr, als wir wollten, es anders, als wir dachten, es ist schöner, als wir es je hätten machen können.

Oder heimlich nagende Fragen treten zutage, die Stimmen in uns kommen an die Oberfläche: Wird das, was Gott sagt, was die Bibel aufnimmt und in unsern Gottesdiensten überall weitergegeben worden ist, wird Gottes Wort denn auch wahr? Ist diese oft so schreckliche Wirklichkeit nicht meilenweit weg von Gottes Wort?

Die Differenz zwischen Gottes Wort und Wort der Menschen bleibt. Doch nimmt in all dem Aufnehmen und Weitergeben, Hören und Handeln das einmal ausgegebene Wort neue Gestalt an und verändert die Teilnehmer und Empfänger, wird durchhörbar, durchsichtig auf den, der uns meint, unsere Welt unsere Zeit.

Wie das Wasser durch Regen und Schnee vom Himmel her die Erde feucht und fruchtbar macht, sodaß wir essen und leben können, so ist die wundersame Entwicklung des Wortes Gottes in den Herzen der Menschen, in ihrem Tun und Lassen. Es geschieht, was er in Gang gesetzt, es vollzieht sich, was er geredet und tröstend, mahnend, zur Umkehr rufend begonnen hat.

Gott ist nicht ungeduldig. Aber er setzt Grenzen. Er setzt den Anfang und gibt uns die Freiheit, die Welt als seine Schöpfung zu erkennen. Gott beginnt und lässt uns die Zeit, dass wir sie als Geschenk, als Weg auf ihn zu, begreifen. Und er sichert zu: Mein Wort wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen. Damit setzt er auch das Ziel:

Sein Wort in unsern Herzen und Händen, heute am Sonntag wie am Alltag, im Gottesdienst wie im Menschendienst, in der Schule wie in der Freizeit, am Krankenbett wie auf der Straße: nicht leer, sondern Herzen und Hände füllend, fruchtbar, auf Freude aus und auf Frieden für alle, die das brauchen können. Für uns. Für die Schnellen und für langsam Gewordenen. Für die Informierten und für die, bei denen die heilsamen Worte erst noch ankommen werden.

Keine Angst mehr, dass wir etwas verpassen. Gott verschafft sich Gehör und lässt sich finden. Unsere Gebete, die ihn "anrufen", gelten dem, der uns nahe ist.

Anmerkung:

Nicht in den Einzelheiten, wohl aber in der Gesamtheit verdankt dieser Entwurf seinen Aufbau dem neuen Kommentar zu Deuterojesaja von Klaus Baltzer (KAT. Gütersloh 1999), der den Propheten des Exils auf die möglicherweise aus religiösen Theateraufführungen gewonnen Stilelemente hin befragt. Daher die "Stimmen"!

Jobst von Stuckrad-Barre
e-mail: stuckradbarre@gmx.de


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