Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Sexagesimae, 18. Februar 2001
Predigt über Jesaja 55, (6-9)10-12a, verfaßt von Karsten Matthis

Liebe Gemeinde,

Sucht den Herrn, da er sich finden lässt. Ruft ihn an, da er nahe ist. Der Prophet Jesaja ermahnt sein Volk, verbindet jedoch dies mit der großen Verheißung, dass der Gott Israels gnädig ist und allen Vergebung gewährt. Die im Exil in Babylon lebenden Israeliten dürfen Hoffnung schöpfen, dass ihr Auszug unmittelbar bevorsteht. Sie werden in naher Zukunft erfahren, dass der Zion in Jerusalem ein heilsvoller Ort für ihre Gemeinde sein wird. Das Volk Israel wird mit Freuden ausziehen und in Frieden von Gott zum Zion nach Jerusalem geführt werden (Jes.60). Angesichts dieser großartigen Hoffnung, fordert der Prophet sein Volk auf: Darum lasst jetzt ab von den bösen Taten, kehrt um zu Gott und sucht ihn! Selbst die Frevler werden nahe bei Gott sein. Allen wird zugesagt, Gott wird sich finden lassen.

Als ich den Predigttext aus dem Prophetenbuch des zweiten Jesaja las, fiel mir die seltsame Erzählung vom "tollen Menschen" von Friedrich Wilhelm Nietzsche ein. Nietzsche (1844-1900), dessen Vater evangelischer Pfarrer war, hat neben böswilligen Unterstellungen und Verzerrungen auch viel Tiefgründiges über das Christentum geschrieben. Den "tollen Menschen" beschreibt er als einen Gottessucher:

"Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott. Ich suche Gott." Da gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? Sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? Sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie, und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott?" Rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, ihr und ich!" (Die fröhliche Wissenschaft, Abschnitt 125)

Für die Figur des tollen Menschen, den Nietzsche sich erdachte , ist Gott tot, getötet von seinen Geschöpfen. Die Anderen auf dem Markt rechnen nicht mehr mit der Existenz Gottes und finden die Suche nach ihm lächerlich. Am Ende der Erzählung vermutet der tolle Mensch, er sei zu früh mit seiner Botschaft gekommen, denn die Idee von Gott sei noch nicht überwunden. "Es ist noch nicht zu den Ohren der Menschen gedrungen."

100 Jahre nach Nietzsches Tod, glauben Christen, dass Gott keine fiktive Idee ist. Immer wieder neu orientieren sich Menschen an seinem Wort. Durch sein Wort wächst kirchliches Leben, ist nicht nur auf dem Papier existent, sondern es blüht an vielen Stellen. In zahlreichen Gemeindegruppen, in sozialen Initiativen und in diakonischen Einrichtungen und nicht zuletzt in Gottesdiensten. Die Thomas - Messe ist nur ein Beispiel für einen neuen, kräftigen Impuls in unserem kirchlichen Leben. Überall dort wird der lebendige Gott verkündigt und bezeugt. Christen erfahren Gott in Wort und Sakrament. Durch tätige Nächstenliebe, überall dort wo sich Christen für andere Menschen aufopferungsvoll einsetzen, so wie bspw. im Bereich der Diakonie, da wird in Ansätzen ein Stück vom Reich Gottes sichtbar. Dies ist unsere christliche Wahrnehmung, die sich natürlich nicht mit den Erfahrungen anderer Menschen, die keine enge Bindung an den christlichen Glauben haben, deckt.

Sicherlich ist die Säkularisierung der Gesellschaft weiter vorangeschritten. Mit der geringen Beteiligung an Gottesdiensten, mit der weiterhin zu hohen Zahl von Kirchenaustritten und dem zurückgehenden Wissen über die Bibel dürfen wir uns nicht einfach resigniert abfinden. Die Entöffentlichung des Christentums in den Medien, insbesondere in den elektronischen Medien, muss uns beunruhigen. Es ist besonders misslich, dass gerade deshalb Jüngere nur wenig Zugang zum Glauben finden, da sie in den Medien nur wenig von Gott erfahren. Schmerzlich ist es für Christen, dass viele mit Gott abgeschlossen und ihn aus ihrem Leben verdrängt haben. Wir begegnen Menschen, deren Glaube abgestorben ist. Viele gute und wohlmeinende Initiativen bewirken wenig. Sie erreichen nicht die Adressaten, sondern häufig ausschließlich die Kerngemeinden, die sich ihren Glauben nicht nehmen lassen. Dennoch sagt uns unser Glaube, unser Gott, den wir in Jesus Christus unserem Herrn als den liebenden und barmherzigen Gott erkennen, ist lebendig. Es gibt keinen Grund zu resignieren oder gar eine Gottesfinsternis zu vermuten.

Es tut gut, die Worte des zweiten Jesaja zu lesen, die Kraft und Zuversicht ausstrahlen. Die Worte des Propheten appellieren an das Herz und die Einsicht des Menschen: Wie groß sind doch die Unterschiede zwischen göttlichem Wissen und Weisheit. Wie bruchstückhaft, wie winzig hingegen erscheint unser Wissen und Können. Gottes Weisheit ist nicht zu erwerben und lässt sich nicht aneignen. Seine Gedanken und Worte übersteigen alles.

Noch einmal zurück zur Erzählung über den tollen Menschen, der fragte: " Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont auszuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von der Sonne losketteten." Hinter diesen Fragen steht das Eingeständnis, der Mensch besitzt nicht die Schöpfergewalt Gottes. Zwar können wir die Erde von der Sonne insofern losketten, dass wir Umlaufbahnen von Planeten berechnen und das Weltall erforschen können, aber Schöpfer können wir nicht sein. Der Mensch versucht sich als Schöpfer mit Hilfe der Gentechnologie, doch Herr über die gesamte Schöpfung wird er nicht sein können. Auch Forscher prognostizieren, dass der Mensch immer wieder an Grenzen stoßen wird. Zwar können wir Gott aus unserem Leben streichen, alle Zeugnisse von ihm ausblenden, letztlich bleibt der Mensch endlich und seiner Zeit verhaftet.

Für die Menschen zur Zeit des zweiten Jesajas mag es noch einleuchtend gewesen sein, der Gott Israels ist der Schöpfer des Himmels und der Erden. Der unerreichbare Himmel, der sich über die Erde wölbt, war für einen Grossteil der Israeliten Beweis genug, dass Gott unerreichbar über der Welt thront. Gott will aber nicht euch niederdrücken, rief Jesaja seinem Volk zu, vielmehr ist er Israel ganz nahe. Gott bietet uns seine Vergebung an und will nicht unsere Ohnmacht oder Verzweifelung.

Wie zur Zeit des zweiten Jesajas wirkt Gott durch sein Wort in uns und in seiner Welt. Seine Wege sind nicht die unsrigen. Gottes Wege führen uns dennoch zum Ziel, häufig auf einem anderen Pfad geht es weiter, den wir als Menschen gar nicht kannten und nicht im Blick hatten.

Neben der großen Verheißung seiner Vergebung gibt Jesaja über die Vollmacht des Wort Gottes Zeugnis. Das Wort Gottes schlägt eine Brücke zu den Menschen. Die Distanz zwischen Gott und seinen Geschöpfen wird durch sein Wort überwunden. Zugang zu Gott erfährt der Mensch durch sein Wort. Gottes Wort wird nicht leer zurückkommen, vielmehr wirkt es in der Welt. Es wirkt so vollmächtig wie der Regen und Schnee auf die Erde fällt, die Erde tränkt und somit die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit auf Erden schafft. Sein Wort bleibt nicht folgenlos, es führt zu Konsequenzen. Es stärkt die Entmutigten und richtet die Verzweifelten auf.

Dass Gottes Wort sich durchsetzen wird, ist tröstlich für alle, die den Auftrag der Verkündigung gerecht werden wollen. Gottes Wort bewegt die Menschen zur Umkehr und zur Auseinandersetzung mit uns selbst. Es gibt uns die Kraft, auf andere Menschen zuzugehen und ihnen beizustehen. Mit dieser Gewissheit können Menschen ausziehen, wie die Israeliten im Exil zu Babylon. Mit dieser Verheißung dürfen wir leben und arbeiten. Die Worte Dietrich Bonhoeffers trösten und ermutigen uns: "Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber seine Verheißungen erfüllt Gott."
Amen

Karsten Matthis, Dipl. Theol.
Hochheimer Weg 11 A
53343 Wachtberg
E-Mail: mat@vnrmail.de


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