Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Septuagesimae, 11. Februar 2001
Predigt über Matthäus 9,9-13, verfaßt von Peter Kusenberg

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.
Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.
Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.
Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Liebe Gemeinde!

Der Text, den wir gerade gehört haben, berichtet zunächst von der Berufung eines Jüngers durch Jesus. Es geht dabei genau so zu, wie wir es aus der berühmten Berufungsgeschichte der Fischer am See Genezareth kennen: Jesus geht auf Menschen zu, fordert sie schlicht auf: „Komm mit mir!“ – und die Angesprochenen lassen Familie, Haus und Beruf hinter sich und schließen sich dem Mann aus Nazareth an.

Dies allein ist schon außergewöhnlich genug. Es muss etwas an der Begegnung mit Jesus sein, das die Menschen, die er zu sich ruft, so trifft, so beeindruckt, dass sie alle bisherigen Sicherheiten und Bindungen aufgeben.

Ich habe mich oft und immer wieder gefragt, wie ich selbst reagieren würde, wenn jemand zu mir sagen würde: „Komm mit mir!“ Wie wäre meine Antwort auf eine solche Aufforderung? Und noch mehr beschäftigt mich die Neugier, welche Art von Ausstrahlung ein Mensch wohl haben müsste, der mich dazu brächte, dass ich mich ihm als „Aussteiger“ anschließe.

Vom Zolleinnehmer Matthäus jedenfalls heißt es kurz und knapp: Und er stand auf und folgte ihm. Und wenig später ist Jesus bei ihm im Haus zu Gast. Das gemeinsame Essen in großer Runde, das ist mehr als nur Geselligkeit, das ist ein Zeichen der Freundschaft. Und mitten im Kreis der Familie, Freunde, Kollegen: Jesus und seine Jünger.

Es waren wohl nicht gerade die oberen Zehntausend, die dort beisammen waren. „Siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder“, schreibt der Evangelist. Von den Zollpächtern wissen wir, dass sie im Volk verhasst waren, weil sie neben den von der Obrigkeit verlangten Abgaben in die eigene Tasche wirtschafteten.

Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie das den Pharisäern ein Dorn im Auge war. Schließlich waren sie es, die sich als Lehrer und Wächter des wahren Glaubens verstanden. Die den Menschen bis in die kleinsten Dinge des Alltags vorschrieben, was recht und Gott gefällig war. Ein Skandal, dass dieser Wanderprediger aus Galiläa ausgerechnet bei solchem Gesindel einkehrte, das sich einen Dreck um religiöse Vorschriften scherte.

Ich nehme an, dass es auch unter den Pharisäern einige gab, die im Grunde bereit waren, Jesus als den in den Schriften angekündigten Retter Israels, den Messias, anzuerkennen. Diese Hoffnung, diese Sehnsucht war damals weit verbreitet im jüdischen Volk. Auch unter den Pharisäern.

Doch das Auftreten Jesu entsprach ganz und gar nicht ihren Erwartungen. Zu unbekümmert ging er mit geheiligten Traditionen wie der Sabbatruhe und dem Fasten um, zu radikal waren seine Auslegungen der 10 Gebote. Und nun noch die Verbrüderung mit Leuten aus dem zwielichtigen Milieu. Jesus in schlechter Gesellschaft – das war zu viel für sie.

„Wie kann euer Meister so etwas tun?“ „Wie kann er sich mit denen einlassen?“ Sie fragen die Jünger. Sie fragen nicht Jesus selbst. Die Distanz ist spürbar.

Jesus gibt Antwort. Zunächst in einem Bild, wie er es gern tat. „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Und dann zitiert er für sie, die Schriftgelehrten, ein Schriftwort des Propheten Hosea: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“

Was er damit meint, macht keine andere Geschichte so deutlich wie die mit der Ehebrecherin aus dem Johannes-Evangelium. Die Frau, beim Seitensprung ertappt, soll zu Tode gesteinigt werden. Das war die übliche Strafe. Der Gesetzesbruch verlangt ein Opfer, um Gott gnädig zu stimmen. Und in diese Situation sprach Jesus seinen Satz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Barmherzigkeit statt Opfer. Nicht starr festhalten an einem Gesetz, dessen Erfüllung über Leichen geht. Sondern Menschen mit einem fehlerhaften Leben die Chance geben, sich zu ändern. Das ist der Kern der Predigt Jesu. „Ich verurteile dich nicht“, sagt Jesus zu der Ehebrecherin, „geh und fang ein neues Leben an.“

„Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ Das ist der dritte Satz, den Jesus den Pharisäern ausrichten lässt. Meine Aufgabe, sagt er, ist es nicht, Unrecht mit Vergeltung zu strafen. Meine Aufgabe ist, um Gottes Willen den Menschen zu helfen, die allein keinen Weg aus ihrem unrechten Leben finden.

Jesus hat das bei anderer Gelegenheit sogar noch zugespitzt: es werde mehr Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Was fangen die Pharisäer nun mit der Botschaft an? „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ Gehen sie zufrieden nach Haus: alles in Ordnung, wir sind ja die Gerechten, die keiner Buße bedürfen. Lasst Jesus also ruhig bei den Zöllnern und den anderen Sündern essen, vielleicht holt er ja die eine oder den anderen von der schiefen Bahn.

Es spricht für die Intelligenz der Pharisäer, dass sie nicht so dachten. Und dass sie nicht nach Haus und zur Tagesordnung übergingen. Sie spüren den Haken in den Worten Jesu. Und sie können sehr wohl die Folgen einschätzen. Ihr wohlgefügtes Wertesystem, nach dem sie Menschen in Gerechte hier und Sündige dort aufteilen, wird von Jesus für ungültig erklärt.

Selbst über die lange zeitliche Distanz hinweg lässt sich ermessen, in welchen inneren Konflikt Jesus die Partei der Pharisäer brachte. Entweder mussten sie umdenken und einsehen, dass ihr Weg der Frömmigkeit falsch war, oder sie mussten die Verbreitung der neuen Botschaft „Erbarmen statt Opfer“ unterbinden.

Karfreitag zeigt, wie sie entschieden. Vielleicht fürchteten sie den Verlust ihrer Macht und ihres Ansehens. Ich denke, es lag vor allem an ihrem Hang zur Selbstgerechtigkeit, der sie so handeln ließ.

In einem der Gleichnisse Jesu kommen zwei Männer in den Tempel, um zu beten. Ein Zöllner und ein Pharisäer, ein Sünder und ein Gerechter. Der Zöllner weiß um seine Unzulänglichkeit, er weiß, dass er Gottes Willen nicht erfüllt. Deshalb bleibt er demütig in der Distanz stehen und bringt nicht mehr heraus als die Worte: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Der andere, Pharisäer und hochgeachtetes Mitglied der Gemeinde, weist Gott in seinem vollendeten Gebet auf die eigenen Verdienste hin: „Ich opfere mehr als die anderen, ich faste mehr als vorgeschrieben – und ich danke dir, Gott, dass ich nicht so einer bin wie der dort am Eingang.“

Aber damit hat er alles vertan. Er entlarvt, selbstgerecht und hochmütig, wie er betet, nichts als Scheinheiligkeit. Selbstgerechte Menschen kennen kein Erbarmen, sie brauchen die, auf die sie mit Fingern zeigen. Sie benutzen die, in deren Leben Fehler sind, weil sie damit den höheren Wert ihrer eigenen Person unterstreichen wollen. Und es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass sie damit gegen ein fundamentales Gebot Gottes verstoßen – das der Nächstenliebe.

Liebe Gemeinde, wenn ich Gottes Gebot ernst nehme, ihn zu lieben und meinen Nächsten so wie mich selbst, dann kann ich, ehrlich betrachtet, zunächst einmal nur feststellen, wie oft mir genau das misslingt. Dass ich mit einem bestimmten Menschen nicht auskomme trotz aller Mühe, die ich mir gebe. Oder dass meine eigene Unleidlichkeit anderen die Kraft zum guten Willen raubt. Und ich denke, uns allen hier im Gottesdienst – von den Konfirmanden bis zu den Ältesten – wird es nicht anders gehen.

Für diese Feststellung müssen wir uns nicht schämen. Wer für sich und vor Gott einsieht, dass er Fehler macht, dass er schuldig wird an seinen Mitmenschen, der ist in der Lage des Zöllners, der sich nicht einmal richtig in den Tempel hineinwagt für sein Gebet: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“. Und der „ging hinab gerechtfertigt in sein Haus“, heißt es im Evangelium, will sagen: Gott hat ihm vergeben.

Meine Gewissensentscheidung, vor der ich immer wieder neu stehe, ist die, ob ich selbstkritisch sehe, wo ich Fehler mache, anderen etwas schuldig bleibe, es nicht schaffe, über den eigenen Schatten zu springen – oder ob ich eine reine Weste herauskehren will, die in Wahrheit voller Flecken ist.

Jesus sagt: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ Es steckt ein großes Versprechen in diesem Satz. Gottes Sohn ruft mich in seine Nähe, trotz dem, was in meinem Leben nicht so läuft, wie es sollte. Ich kann mich an ihn wenden, er schickt mich nicht fort.

Bei ihm ist es auch völlig gleichgültig, wie andere über mich denken oder urteilen. Mögen sich meine untadeligen Geschwister, mögen sich meine rechtschaffenen Kollegen oder meine gutbürgerlichen Nachbarn tausendmal über mich erhaben dünken – was zählt, ist mein Gewissen vor Gott. Denn Christen müssen nicht Helden oder Heilige sein. Niemand ist zu alt oder zu jung, zu wenig gläubig oder zu oft krank, zu unerfahren oder zu beschäftigt.

Es entlastet mich, wenn ich sagen kann: „Ja, ich habe Fehler gemacht. Mein Leben läuft nicht immer so, wie du, Gott, es von mir erwartest. Aber ich will es weiter versuchen, mit deiner Hilfe.“ Gottes Vergebung entlastet mich und macht mich frei für den neuen Tag, für einen neuen Versuch mit dem Abenteuer Nächstenliebe. Amen.

Peter Kusenberg, Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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