Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

4. Sonntag nach Epiphanias, 28. Januar 2001
Predigt über Jesaja 51,9-16, verfaßt von Friedrich Seven

9 Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn! Wach auf, wie vor alters zu Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat?

10 Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, daß die Erlösten hindurchgingen?

11 So werden die Erlösten des Herrn heimkehren und nach Zion kommen mit Jauchzen, und ewige Freude wird auf ihrem Haupte sein. Wonne und Freude werden sie ergreifen, aber Trauern und Seufzen wird von ihnen fliehen.

12 Ich, ich bin euer Tröster! Wer bist du denn, daß du dich vor Menschen gefürchtet hast, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie Gras vergehen, 13 und hast des Herrn vergessen, der dich gemacht hat, der den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat, und hast dich ständig gefürchtet den ganzen Tag vor dem Grimm des Bedrängers, als er sich vornahm, dich zu verderben? Wo ist nun der Grimm des Bedrängers?

14 Der Gefangene wird eilends losgegeben, daß er nicht sterbe und begraben werde und daß er keinen Mangel an Brot habe.

15 Denn ich bin der Herr, dein Gott, der das Meer erregt, daß seine Wellen wüten - sein Name heißt Herr Zebaoth -;

16 ich habe mein Wort in deinen Mund gelegt und habe dich unter dem Schatten meiner Hände geborgen, auf daß ich den Himmel von neuem ausbreite und die Erde gründe und zu Zion spreche: Du bist mein Volk.

"Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn!"- so möchte auch ich rufen, doch mit wem sollte ich rufen, welche Menschen, welche Gruppe kann diesem Weckruf des Volkes Gottes heute noch Stimme geben. Wer will sich heute auf diese Erzählungen einlassen? Wohin kann heute die Geschichte von Gottes Rettungstat, diese Wundererzählung vom Durchzug durch das Meer, führen? Wer beschwört in unserer Zeit Gottes starken Arm, seine hilfreiche Hand über dem Wasser?

"Wach auf" ! Wer hört auf diese Geschichten, wer gehört zu dem Volk der Hörenden und Staunenden? Der Statistik nach vielleicht Sie und ich. Aber wie lange ist Papier noch geduldig? Sicher, Gottes Geschichten können immer wieder die unseren werden, vielleicht wenn sich zwischen Menschen plötzlich ein Meer auftut und sie trockenen Fußes an allen Mißverständnissen und Sprachbarrieren vorbei hindurchgehen können bis an ein fremdes Ufer. Oder wenn wir plötzlich Gottes Sohn begegnen, der mit uns geht, das Brot uns bricht und sich gegen Abend bitten läßt, bei uns zu bleiben über den Tag hinaus.
Gehören wir damit schon zum Volk Gottes? Oder wohin gehören wir dann? Die Stimmen der Modernen sagen: jeder gehört sich selbst. Als ob sie ahnten, wie arm wir mit uns sind. Könnte es angesichts solcher Verlorenheit helfen, wenn wir einander zuriefen : "Wacht auf!"
Die Erlösten mögen nach Zion kommen, wir aber werden auf unserem Acker bleiben. Und von redlicher Nahrung kein Spur. Wir, Gefangene, werden hungern und zugrunde gehen auf Boden, der nie unser eigen wird. Auch die Heimat bleibt fremde Welt. Wach genug sind wir, eben so zwischen hell-und halbwach, allzeit bereit für das Hin-und Her zwischen dem, was heute noch Pflicht ist und vielleicht morgen schon unerwünschte Kür.

Wie wenn wir plötzlich nicht mehr auf der Tagesordnung stehen, nicht mehr vorgesehen sind, weil wir uns nicht genug vorgesehen haben und schon vor der Zeit herausgefallen sind aus der Eile ohne Weile. Mit wem sollen wir loben den Namen des Herrn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang? Wo bleibt der Klang aus weitem Raum und wo die sanfte Nähe, wie sie aus Morgen- und Abendliedern mit der güldenen Sonne und dem Mond über unserem Schweigen und Singen aufging? Wo ist die Zeit, in der die Stille wachsen konnte, ohne uns damit zu erschrecken, der ruhige Augenblick von Angesicht zu Angesicht? Was kann uns das alles helfen, wenn alles gleich fern und nah, jedes mit jedem gleichzeitig sein soll und gleichgültig ist.
In solcher Gleichgültigkeit scheint alles unwichtig und zugleich immer wichtiger. Da hilft auch keine Zeit des Wachens oder Schlafens . Keine Stunde darf versäumt werden, doch nichts scheint dabei gerade an der Zeit zu sein. Ein Leben im ewigen Augenblick. "Wach auf!?"- Mit wem sollen wir rufen, wenn wir doch zur großen Herde der Verlorenen zählen.

"Ich, ich bin euer Tröster! Wer bist Du denn...? "In die Trostlosigkeit und Verlassenheit hinein fragt eine Stimme, die uns bekannt vorkommt, die sich in den Weg stellt und sich nicht überhören lässt.
"Wer bist du denn, daß du dich vor Menschen gefürchtet hast, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie Gras vergehen, und hast des Herrn vergessen, der dich gemacht hat, der den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat"

Ja, wir haben Angst, Angst vor Menschen, Angst vor unseresgleichen. Menschen sind es, die wir fürchten, keine himmlischen Gewalten! Trauen wollen wir keinem von uns. Vielen haben wir uns anvertraut und waren nur zu wenigen ehrlich , am wenigsten zu uns selbst. Die größte Furcht ist die vor Worten, denen wir nicht gewachsen sind. Darum haben wir auch Gott und sein Wort vergessen- lieber schnell vergessen, als langsam erinnert.
Wir fürchten Gott und die Menschen, weil wir uns nur zu gut zu kennen meinen. Verdrängen möchten wir, was uns an Gott erinnern könnte, vor allem die Hilfsbedürftigkeit, unsere und seine, Gottes Ohnmacht am Kreuz von Golgatha. Doch je mehr uns dies gelingt, von uns selbst und von Gott ganz abzusehen, desto größer wird die Angst, desto mehr fürchten wir, wie das Gras zu vergehen.

"Wer seid Ihr?" Wir sind die, die bald im Grase verschlafen hätten. Nicht Gott hat geschlafen, sondern wir auf dieser Erde, auf der er uns zum Leben einlädt: "Ich habe mein Wort in deinen Mund gelegt und habe dich unter dem Schatten meiner Hände geborgen, auf daß ich den Himmel von neuem ausbreite und die Erde gründe und zu Zion spreche: Du bist mein Volk."

D u tröstest uns, lieber Gott, daß wir reden können mit dem Wort, welches du in unseren Mund gelegt hast und daß wir mit Deinem Wort verstanden werden. Wenn Du nur Deine Zusage wahrmachst und auch anderen Worte geben willst, Worte für Dein Volk, für Tausende Münder, aber von einem Geist. Da können die Stimmen wieder viele werden und ein großer Sang und Klang. Leben möchten wir mit Dir, als Dein Volk und Deine Kinder. Ohne Dich würden wieder verschlafen. Darum weck uns alle Morgen und breite Dein Zelt über uns aus.

Glauben möchten wir aus vollem Herzen, daß Du Deinen Sohn auferweckt hast an einem neuen Morgen. Jeden Tag möchten wir mit Dir beginnen, der Du jeden Morgen neu machen kannst.

Dr. Friedrich Seven
Im Winkel 6
37412 Scharzfeld
E-mail: friedrichseven@compuserve.de


(zurück zum Seitenanfang)