Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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2. Sonntag nach Epiphanias, 14. Januar 2001
Predigt über Markus 2,18-20 (21-22), verfaßt von Bernd Vogel

18, Und die Jünger des Johannes und die Pharisäer fasteten; und es kamen Leute zu ihm, die sprachen: Warum fasten die Jünger des Johannes und die der Pharisäer und deine Jünger nicht?

19, Und Jesus sprach zu ihnen: Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? So lange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten.

20, Es werden aber Tage kommen, wann der Bräutigam von ihnen weggenommen sein wird; dann werden sie fasten, an jenem Tag.

21, Niemand näht einen Flicken aus neuem Tuch auf ein altes Kleid - andernfalls reißt das Flickstück vom alten Tuch ab; und der Riss wird schlimmer.

22, Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche - andernfalls wird der Wein die Schläuche zerreißen; und der Wein ist verloren und die Schläuche auch - sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche.

Liebe Gemeinde!

Er verstand das Leben zwischen himmelstürmendem Glück und abgrundtiefer Traurigkeit. Er war ein Lebenskünstler besonderer Güte. Das Leben als ein Fest, die Hochzeit als Bild für die Einheit des Lebens, für die Verbindung des Himmels mit der Erde, konkret auch für die Einheit des Göttlichen mit dem Triebhaften .. Er war ein Lebenskünstler und Lebensweiser auch: Man füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche .. Das ist unpraktisch; das ist dumm; das nützt dem Wein nicht und nicht dem Schlauch; das zerstört sie beide; also neuen Wein in neue Schläuche! Welch ein Risiko, welch ein Mut!

Schade, dass das Christentum im ehemals christlichen Abendland eine weithin eher langweilige Angelegenheit geworden ist.

Das „Wort“ der „Kirche“ zählt im öffentlichen Diskurs immer weniger. Zu lange ist zu sehr auf das „Sowohl, als auch“ gesetzt worden, auf wohl abgewogene Worte mit leichter Tendenz: Man müsse bedenken .. und wiederum auch .. keinesfalls dürfe .. und andererseits nicht .. und nach Abwägung aller Faktoren könnte ein Weg sein .. ein bisschen Frieden, ein bisschen Gerechtigkeit und Demokratie ..

Bei allem Verdienst von Ostdenkschrift der EKD und Sozialwort beider großen Kirchen: Im internationalen Meinungsaustausch zählt das öffentliche Wort von Kirchenleitungen und Kammern weniger als früher.

Ursachen gibt es viele: Der nachlassende Einfluss der Kirchen auf die Meinungsbildung im Zeitalter des globalen Informationsflusses, die trotz Psychoboom und teilweise gesteigertem Interesse an Religion rapide sinkende Attraktivität von landauf, landab „normaler“ Kirche und Christlichkeit und – damit zusammenhängend – eine gewisse Unschlüssigkeit und Unklarheit, was das „Christliche“ denn eigentlich heute sei.

Politiker und Christen wie Norbert Blüm und Johannes Rau fordern Christen und Kirche auf, sich in die öffentlichen Debatten um Rechtsradikalismus und Gewalt, um Genetik und Klonen, um das Miteinander der Kulturen und Zivilisationen einzumischen. Christen sollten – so Norbert Blüm im Christus - Pavillion während der EXPO – es wagen, Tabus anzukratzen und Ärgerliches zu sagen. Gerade in Bezug auf den Umgang mit Geld und allen sonstigen Gütern der Erde sollten Christen eindeutig Stellung beziehen gegen die Anhäufung von zu viel Reichtum und Ressourcen in den Händen von zu wenigen. Notfalls müsse man auch Kirchenaustritte von solchen hinnehmen, die die Kirche mit ihrem Geld zum Stillhalten erpressen wollten.

Ausnahmen bestätigen die Regel: Es geschieht wenig, das nicht wie das Flicken alter Tücher aussieht. Viele tausend Menschen engagieren sich mit allen Kräften in der Kirche, in den Familien, in den Kindergärten, in der Diakonie, in Gottesdiensten, in der Verwaltung und Leitung und können kaum dem Eindruck wehren, dass Kirche und Christentum, unser Handeln und unser Glauben etwas Restauratives an sich haben, etwas, das schützen und bewahren soll, dabei aber in der Gefahr steht, wirklich Erneuerndes geradezu zu verhindern. Neuer Wein in neue Schläuche oder Flicken darauf, um das Schlimmste zu verhindern: Was kennzeichnet unsere Kirche, unser Christsein eher?

Niemand näht einen Flicken aus neuem Tuch auf ein altes Kleid - andernfalls reißt das Flickstück vom alten Tuch ab; und der Riss wird schlimmer.

Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche - andernfalls wird der Wein die Schläuche zerreißen; und der Wein ist verloren und die Schläuche auch - sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche.

Was könnte denn neuer Wein sein?

Was es damals war, können wir rekonstruieren: Er zog aus seinem Kindheitsdorf Nazareth aus. Er verließ „Haus und Hof“, die Zimmermannswerkstatt des Vaters, die ihm, dem Ältesten, sicher war. Er ließ das sichere Leben hinter sich und zog durch die Wüste und an den Jordan. Er durchquerte auf seiner spirituellen Wanderschaft die Geschichte seines Volkes mit seinem Gott. Er beschäftigte sich mit ihrer aller Herkommen und mit dem Geheimnis des Lebens. Er hörte von Johannes. Der taufte am Jordan zur Vergebung der Schuld und bot so eine Möglichkeit an, mit der Angst vor der göttlichen Strafe zu leben, die alles vergängliche und irrende Menschenwesen bedrohte. Das aktuelle Gebot der damaligen Stunde. Jesus hörte davon und ging hin zu Johannes und ließ sich von ihm taufen. Und während er sich auf diesen Weg einließ, öffnete sich ihm ein neuer, sein eigener: Der Himmel ging ihm auf; und er hörte die Stimme des Höchsten sagen: „Dies ist mein lieber Sohn ..“. Dann ging er seinen eigenen Weg. Und taufte nicht, sondern rief die Mühseligen und Beladenen zu sich, um ihre Seele zu „erquicken“, damit sie aufatmen konnten wie nach schwerer Traumnacht.

Neuer Wein in neue Schläuche .. Er hatte tief im Herzen, in der Personmitte, in der Seele den Ort entdeckt, an dem der „Himmel“ auf die Erde gekommen war. „Vater unser im Himmel“ betete er, „dein Reich komme, dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel ..“. Und auch, dass das „Reich Gottes“ „mitten unter euch“ oder „in euch“ sei, konnte er sagen. Das befreite ihn von dem Zwang, religiösen, moralischen und anderen Geboten und Gesetzen zu folgen, weil „man“ das „musste“. Er „musste“ nicht mehr. Er wusste ja nun, wer er war. Der Menschensohn, ein Mensch. Ein besonderer wohl, ein Beauftragter, ein Schlüssel zum Himmel, aber immer noch ein Mensch, ein Bruder unter seinesgleichen. „Nennt mich nicht gut“ fährt er die an, die ihn wohlmeinend „Guter Meister!“ nennen. „Einer ist gut, euer Vater im Himmel.“ „Euer Vater“, nicht „mein Vater“. Das steht dann später vor allem im Johannes-Evangelium und hat dort auch seinen guten Sinn. Wichtig bleibt aber: Er hat sich selbst nicht groß gemacht auf Kosten seiner Mitmenschen. Er hat sich nicht grundsätzlich in anderer Lage vor Gott gesehen; und Gottes Größe und Güte hat er nicht in Konkurrenz zum Menschen behauptet, sondern hat sie als Liebe und Erbarmen gezeigt, als verschwenderische Liebe eines unglaublich Menschen-vernarrten Gottes. Dass sein Ober-Narr, der Mann aus Nazareth, am Kreuz sterben musste, war nur konsequent für solche Liebe.

Neuer Wein in neue Schläuche .. wer kann das glauben, wer annehmen, wer leben? Dass u n s das gilt, dass wir neuen Wein zu kosten bekommen und unser Leben etwas von neuem Weinschlauch haben kann? Wer kann das glauben?

In der kirchlich-theologischen Tradition ist schnell die Rede von dem, was in der Kirche geboten wird. Da wird der „neue Wein“ dann zum „Abendmahl“ und gesagt: Wer am Abendmahlstisch teilnimmt, dem gilt das himmlische Heil. So richtig das ist, so einseitig, zu schnell gesagt, langweilig und darum falsch ist das auch.

Erwarten wir wirklich, dass Gott uns mitten in unserem Alltagsleben begegnet? Vertrauen wir tatsächlich darauf, dass Gott unser ganz irdisches, menschliches Glück will? Halten wir das für möglich in der Gemeinschaft mit dem, den einige „Fresser und Weinsäufer“ nannten, „Freund der Sünder und Zöllner“ (Matthäus 11)? Können wir das aus Erfahrung nachvollziehen, dass nicht gefastet wird, solange der „Bräutigam“ da ist?

Solange Einheit ist zwischen Himmel und Erde und ich Gottes Liebe mehr traue als meinem Versagen kann ich das Leben wie eine Hochzeit feiern. Solange ich eher darauf vertraue, dass Gott den Weg für mich weiß und ihn mir auch zeigt auf meinem Weg – kann ich mutig weitergehen, mein Leben genießen, mein Leben gestalten, mein Leben verantworten. Ich muss mein Leben nicht verraten an die Mächte und Gewalten, die da heißen: Angst vor Fehlern und Versagen, vor Liebesentzug und vor der eigenen Nichtigkeit, die da heißen tödliche Melancholie und vernebelnde Dauer-Depressivität, Fitnesswahn und Verdrängung des Altwerdens, Süchte aller Art und Immer - nur -Vergessen - Wollen.

Und umgekehrt: Gehören für uns Christen auch die Tage abgrundtiefer Traurigkeit zum ganzen Leben dazu, die Tage, an denen wir „fasten“ werden, an denen wir uns hingeben an die Traurigkeit, dann werden wir in ihr irgendwann – vielleicht, aber gewiss – den Abgrund des Abgrundes finden, den Gott, der uns in der Finsternis Licht ist und Halt im Haltlosen.

Ist das bei uns aber so, dass Jesus Mut macht zu neuen Wegen im Privatleben, in der Gemeinde, in der Gesellschaft, in der Politik? Ist von seinem „neuen Wein“ etwas zu kosten in unserer Berufsausübung, bei unseren Festen, in unserem Umgang mit uns selbst, mit den Menschen und Tieren?

Wie ist es bestellt um unsere christliche Lebenskunst?

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat ein lesenswertes Buch herausgegeben. Es heißt „Schönes Leben? Eine Einführung in die Lebenskunst“. In manchen Buchhandlungen ist dieses Buch ein Bestseller. Im Internet kann man mit Herrn Schmid diskutieren. Er antwortet persönlich auf persönliche Zuschriften. Das Bedürfnis der Menschen ist da. Ein Philosoph trifft den Nerv der Zeit.

Das Buch handelt von der Kunst zu leben angesichts der Widersprüchlichkeit und Abgründigkeit menschlichen Lebens. Die Kapitel befassen sich mit der Sorge und mit den Lüsten, mit dem Schmerz, mit dem Glück und mit der Heiterkeit, mit der Melancholie und mit der Ironie, mit dem Leben angesichts des „Cyberspace“ und seinen Verlockungen und mit einer ökologischen Lebensführung. Dieses Buch fasziniert mich durch seine Ehrlichkeit. Die anstehenden Fragen werden mit einem hohen Grad an immer neuer Infragestellung der eigenen Position verhandelt. Die Kunst des Lebens besteht philosophisch gerade darin, die Widersprüchlichkeit des Lebens ehrlich anzuschauen und mit Gedanken wie mit dem eigenen Lebensentwurf auszuhalten und für ein erfülltes Leben zu nutzen.

Welche theologische Literatur wird von der Allgemeinheit so begeistert gekauft und gelesen? Es gibt drei, vier christliche Autorinnen und Autoren – seit Jahren oft die gleichen - deren Bücher ähnlich gefragt sind. Allesamt sind es Bücher, die in das Lebenspraktische gehen. Alle behandeln die Frage: Wie kann ich als Christin oder Christ heute und in dieser Welt leben?

Sind die Wegweiser gut, dann geben sie Hintergrundinformationen, führen ein in Selbsterkenntnis und Gebet, geben Anleitung und weisen auf Weiteres hin .. fast niemals aber sagen sie: Tue genau dies und lass genau jenes! Sie bieten an, sie stellen dar, sie eröffnen Räume, sie ermutigen zum eigenen Weg; aber sie nehmen dem Leser, der Leserin nicht den eigen Weg und die eigene Entscheidung.

Und Jesus sprach zu ihnen: Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? So lange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten. Es werden aber Tage kommen, wann der Bräutigam von ihnen weggenommen sein wird; dann werden sie fasten, an jenem Tag. Niemand näht einen Flicken aus neuem Tuch auf ein altes Kleid - andernfalls reißt das Flickstück vom alten Tuch ab; und der Riss wird schlimmer. Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche - andernfalls wird der Wein die Schläuche zerreißen; und der Wein ist verloren und die Schläuche auch - sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche.

Er war ein Lebenskünstler besonderer Güte. Das Leben als ein Fest, die Hochzeit als Bild für die Einheit des Lebens, für die Verbindung des Himmels mit der Erde, konkret auch für die Einheit des Göttlichen mit dem Triebhaften .. Er war ein Lebenskünstler und Lebensweiser auch: Man füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche, sondern neuen Wein in neue Schläuche!

Wir sind geladene Hochzeitsgäste. Auf in den Tanz!

Amen.

Bernd Vogel
Pastor in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Gimte-Hilwartshausen bei Hann. Münden
Berliner Str. 95
34346 Hann.Münden
E-mail: Bernd.Vogel@EVLKA.de

Zitierte Literatur:
Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Suhrkamp 2000


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