Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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1. Sonntag nach Epiphanias, 7. Januar 2001
Predigt über Johannes 1,29, verfaßt von Rolf Wischnath

Siehe, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt
Passionsmelodie mit Oberstimme
Zum Schlusschoral des Weihnachtsoratoriums

Vorbemerkung:
Zum Abschluss der Weihnachtszeit wurden am Vorabend des 1. Sonntags nach Epiphanias – also am Epiphaniasfest (6. Januar) selber - in der Gemeinde die Kantaten 4-6 des Weihnachtsoratoriums aufgeführt. An dieses Konzert, an dem auch die meisten Predigthörer, alle Chorsänger und der Prediger teilgenommen hatten, knüpft die Predigt an.

Johannes 1,29 (aus der Evangeliumslesung): „Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“

Liebe Gemeinde!

Nun ist auch in unserer Gemeinde mit dem gestrigen Konzert das Bachjahr zu Ende gegangen. Und auch in der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg hat es im Dezember wieder kein Stück gegeben, dass – wie hier bei uns – so oft in ausverkauften Kirchen gesungen und gestrichen, geblasen, gepfiffen und gepaukt wurde - wie eben das Weihnachtsoratorium. Nicht selten – so kann man fürchten - wird es bei solchem Massenandrang geradezu besinnungslos aufgeführt und konsumiert. Denn nicht nur bei uns, sondern auch in fast allen anderen Kirchen brandet inzwischen durchweg Schlussbeifall auf. Wo er, wie gestern Abend, heftig und unmittelbar nach dem Schlusschoral der Kantate sechs einsetzt, ist zu fragen, ob so ein Beifall nicht auch Zeichen dafür sein könnte, dass die Botschaft Bachs als Meisterleistung verkannt wird. Und ist da, wo der Schlusschoral wie ein solistisch-virtuoses Trompetenkonzert inszeniert und gehört wird, wirklich aufgenommen und begriffen, was Bach seinen Sängern und Spielern, den Zuhörern und Trostbedürftigen zumutet?

Denn im Weihnachtsoratorium – ganz am Schluss -, da predigt der Thomaskantor über die schwerste Frage des christlichen Glaubens. Und die Antwort, die er gibt, müsste eher Sprachlosigkeit oder so etwas wie die Furcht der Hirten auf dem Feld bei Bethlehem wecken als bewusstlose Klatscherei, mit der sich die Hörerschar die Zumutung der Botschaft auch vom Leibe halten kann.

Denn Johann Sebastian Bach gibt hier eine Antwort auf die Frage, wie denn die unendlich heilsame Verheißung des in Bethlehem erschienenen ewigen Wortes und Lebens zusammenzudenken und zu glauben ist mit den unsäglichen Lebensbedrückungen und –zerstörungen in der Welt, mit der “großen Jammerlast, die kein Mund kann aussagen,” und den Todeserfahrungen, wie sie nun gerade zu Weihnachten von Betroffenen in schmerzlichsten Dimensionen wahrgenommen werden.

Bach beschließt ja das Weihnachtsoratorium in der sechsten Kantate zu Epiphanias, dem Fest der Offenbarung der Herrlichkeit Christi, biblisch mit dem Heimzug der Weisen zurück ins Morgenland: “Und Gott befahl ihnen im Traum, dass sie sich nicht sollten wieder zu Herodes lenken, und zogen durch einen andern Weg” – vorbei an dem todbringenden Herodes – “wieder in ihr Land” (Matthäus 2, 12). Und daraufhin lässt Bach den die Gemeinde repräsentierenden Chor zum Beschluss einen jubelnden Choral singen, der es in sich hat - mit dreifacher Trompetenbegleitung und Pauken. Für mich ist es das schönste und bewegendste Choral- und Trompetenstück, das überhaupt je geschrieben worden ist.

Aber wie konnte Johann Sebastian nur an dieser Stelle zu den Instrumenten des Sieges und eines überschäumenden Gloria-Victoria greifen? Er wusste doch, und seine Leipziger Gemeinde wusste es – und wir auch -, dass nun im selben biblischen Kapitel Matthäus 2 der Kindermord von Bethlehem und die Flucht nach Ägypten folgt. Hätte er da nicht stilvoller das Weihnachtsoratorium enden lassen sollen, wie er die Matthäuspassion enden lässt mit dem “Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh!”? Wie konnte er stattdessen jubeln, trompeten und pauken lassen, wo Herodes die Messer wetzt?

Er konnte – der fünfte Evangelist -, er konnte, denn der Choralsatz am weihnachtlichen Schluss nimmt die Melodie auf des “O Haupt voll Blut und Wunden”, eine Melodie, durch die von der Krippe her auf das Kreuz gewiesen wird. Und in deren Spannungsbogen wird das ganze Nein der alten Welt, ihr Blut und ihre Tränen eben nicht verdrängt. Sondern sie bleiben gegenwärtig und gesammelt und aufgehoben – vor Gott.

Aber eben deswegen erheben sich über dem Passionschoral des Karfreitags die drei strahlenden – die göttliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist symbolisierenden – Trompeten in den höchsten Oberstimmen, die diesem Instrument überhaupt möglich sind. Und der Passionschoral endet für sie im allerhöchsten, letztmöglichen Ton, der aus einer hohen Trompete überhaupt herausgeholt werden kann. Und so repräsentieren diese Instrumente über der die Karfreitagsmelodie singenden Gemeinde den geöffneten Himmel in der Weihnachtsnacht und das leere Grab am Ostermorgen. Und so begleitet singt das Volk Gottes zwar immer noch in der Melodie der Passion, aber im Wort klar antwortend auf das Wort des Lebens:

“Nun seid ihr wohl gerochen / an eurer Feinde Schar ......“ „ .... gerochen“? Das kommt nicht von „riechen“, sondern von „rächen“, so dass wir heute sagen würden: Nun seid Ihr vollkommen gerächt und ins Recht gesetzt – d.h. Ihr habt Genugtuung erfahren für das Schlimme, das Euch in Eurem Leben begegnet ist und dass Ihr möglicherweise auch von schlimmen Menschen hinnehmen musstet. Und so lautet der ganze Choral dann:

Nun seid ihr wohl gerochen /
an eurer Feinde Schar /
denn Christus hat zerbrochen, /
was euch zuwider war. /
Tod, Teufel, Sünd und Hölle /
sind ganz und gar geschwächt; /
bei Gott hat seine Stelle /
das menschliche Geschlecht.”

Der evangelische Zeuge Johann Sebastian Bach identifiziert sich hier mit dem größten christlichen Zeugen, den Jesus selber (Matthäus 11, 11) einmal so ausgezeichnet und benannt hat - mit Johannes dem Täufer. Von ihm haben wir eben in der Evangelienlesung (Johannes 1, 29-34) gehört. Und der Schlusschoral Bachs ist im Grunde die Wiederholung dieser Ursprungsszene des Evangeliums, wie sie das Johannesevangelium bezeugt:

„Und am Tage darauf sieht Johannes Jesus auf sich zukommen (!), und er sagt: Siehe, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“ (Johannes 1, 29).

Und eben dieses Hinwegnehmen der Sünde der Welt durch das Lamm Gottes besingt Johann Sebastian Bach: Das am Kreuz geopferte Lamm nimmt die Sünde weg. Nicht nur ein bisschen. Sondern alle Sünde: „die Sünde der Welt“, der ganzen Welt. Jedes Mal, wenn wir das Abendmahl feiern, erinnern wir im sog. „Agnus Dei“ an dieses Wort Johannes des Täufers, an dieses erste Zeugnis des größten Zeugen des Evangeliums über Jesus – das Lamm Gottes: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd’ der Welt, erbarme dich unser .......“

Der Leipziger Thomaskantor Bach legt das „Christe, du Lamm Gottes“ am Schluss des Weihnachtsoratoriums in einer Weise aus, wie es zuvor nur in einem tiefgreifenden theologischen Gedanken Martin Luthers [– nämlich in dessen Großen Galaterkommentar(1) –] ausformuliert worden ist. Diese Deutung Luthers vom Lamm Gottes, „das hinwegnimmt die Sünde der Welt“, ist in der Theologie immer wieder abgeschwächt und verharmlost worden. Man muss ihn dem eigenartigen Text des Bachschen Schlusschorals gegenüberstellen und ihn einmal in diesem Zusammenhang hören. Am besten stellen wir uns dabei das berühmte Bild vor, das Martin Luther auf der Stadtkirche zu Wittenberg predigend zeigt und er mit seinem Finger auf das Kruzifix, auf das Bild des Gekreuzigten zeigt. So ausdeutend sagt Luther:

„Ich [Martin Luther] finde, dass jener Sünder (nämlich: der gekreuzigte Jesus Christus) die Sünden aller Menschen auf sich nimmt, und weiter sonst sehe ich keine Sünde, außer bei ihm. Nachdem dies geschehen ist, ist die ganze Welt gereinigt und erlöst von allen Sünden, also auch befreit vom Tod und allen Übeln .... Deshalb sind die Sünden in Wahrheit nicht dort, wo sie gesehen und gefühlt werden. Denn nach der Theologie .... ist keine Sünde, kein Tod, kein Fluch mehr in der Welt, sondern in Christus, der das Lamm Gottes ist, das die Sünden der Welt trägt .... Dagegen sind nach der Philosophie [d.h. nach der Weise, in der Menschen die Welt – von unter her - ansehen und bedenken) und der Vernunft (d.h. nach allem, was berechnet und kalkuliert wird] – danach sind Sünde, Tod etc. nirgendwo anders als in der Welt, im Fleisch, in den Sündern ..... Die wahre Theologie aber lehrt, dass keine Sünde mehr in der Welt ist, weil Christus, auf den der Vater die Sünden der ganzen Welt geworfen hat, sie in seinem Leibe überwunden, zerstört und getötet hat.“

Das ist ein enormer, gewaltiger Gedanke. Er sagt ja nichts Geringeres, als dass wir alle schon heute befreit und versöhnt und erlöst sind. Kann man das sagen? Ist das nicht eine verantwortungslose, überschwängliche Missachtung alles dessen, was Menschen tagtäglich als Freiheitsberaubung, Unversöhnlichkeit und Unerlöstheit erfahren? Oft sind diese Aussagen Luthers als „schwärmerisch“ verrufen worden. Sie haben aber im Neuen Testament einen klaren biblischen Grund; und eben Johannes der Täufer spricht ihn als ersten aus: „Sieh, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“

Bach interpretiert das Wort mit seinem Leidens-, Freuden- und Freiheitsgesang: „Christus hat zerbrochen, was euch zuwider war. / Tod , Teufel, Sünd...“ Hier heben die Trompeten an als die Instrumente, mit denen die Auferstehung von den Toten anheben soll. Und sie überheben alles strahlend und lichtvoll. Es ist der Klang des offenen Himmels über der dunklen Erde. In einem Buch über das Weihnachtsoratorium schreibt Günter Jena, Kirchenmusiker und Interpret des Weihnachtsoratoriums vom Hamburger Michel:

“Das düstere Moll des Chorals, das das Weihnachtsoratorium mit der bangen Frage ‚Wie soll ich dich empfangen?’ eröffnet hatte, wird jetzt, am Ende der langen Erfahrung mit den Wundern des Himmels und den Düsternissen der Erde, in schmetterndem D-Dur zerbrochen”.

Mir gefällt dieser Satz. Und doch zweifele ich, ob die Trompeten hier wirklich „schmettern“ dürfen. Bachs alte Naturtrompeten vermochten nur bedingt zu schmettern – im Unterschied zu den modernen oft etwas grell klingenden „Bachtrompeten“, die ja erst in den letzten vierzig Jahren konstruiert und entwickelt worden sind. Und die Trompeten dürfen dann die Passionsmelodie keinesfalls virtuos überblasen und „zerschmettern“. Denn noch ist das Leiden der Welt nicht aufgehoben, noch ist es der Gekreuzigte, das zur Sühne geopferte Lamm, das hinwegnimmt die Sünde der Welt. Es ist darum so wichtig für das weihnachtliche Blech, dass die strahlenden Trompeten „in a singing maner“ (in einer singend-schwebenden Weise) blasen, wie die Engländer es nennen; und sie dürfen keinesfalls den Chor übertönen und an die Wand spielen

In solchem singenden und schwebenden Klang allerdings – sich mischend mit den Stimmen der Gemeinde - werden die Blechinstrumente zur Oberstimme des Passionschorals. Und in ihrem Klang blickt der Hörer quasi durch die Ohren in den Himmel und in die schon jetzt gewärtige Zukunft Gottes. Er hört und glaubt: So trägt das Lamm Gottes die Sünde der Welt – hinweg! Und so wird es einmal herauskommen und enden – auch mein todgezeichnetes Leben und diese böse Welt: so wird alles eingehen in die neue Schöpfung Gottes, neu anfangen in der Herrlichkeit des Auferstandenen, die schon jetzt als wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit alle umfängt – die noch Lebenden und die noch Toten.

Vielleicht kann ja ein Mensch, der das hört und wahrnimmt und sprachlos wird vor Freude, gar nichts anderes tun – als in die Hände klatschen. Philipp Nicolai, der eher grimmige Lutheraner aus Unna in der Pestzeit, hat es 1599 im Epiphaniaslied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ in dessen letzter Strophe geradezu empfohlen: „Wie bin ich doch so herzlich froh, / dass mein Schatz ist das A und O / der Anfang und das Ende: / Er wird mich doch zu seinem Preis / aufnehmen in das Paradeis / des klopf ich in die Hände ......“ Wenn es aber so ist, dann bekämen Klopfen und Klatschen in der Kirche noch einen anderen Klang. Und warum sollte es dann nicht wahrhaft würdig und recht, billig und heilsam sein?

Amen.

Lied: Wie schön leuchtet der Morgenstern EG 70, 1 + 5 + 7

(1) WA 40/1, 437, 18ff. und WA 40/1, 445, 19ff. (Zitiert nach H. J. Iwand, Gesetz und Evangelium, S. 299 + 301)

Generalsuperintendent Dr. Rolf Wischnath (Cottbus)
E-Mail: generalsuperintendent.cottbus@t-online.de


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