Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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1. Sonntag nach Epiphanias, 7. Januar 2001
Predigt über Johannes 7,14–18, verfaßt von Ulrich Braun

14Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in dem Tempel und lehrte. 15 Und die Juden verwunderten sich und sprachen: Wie kann dieser die Schrift verstehen, wenn er es doch nicht gelernt hat?
16 Jesus antwortete ihnen und sprach: Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. 17 Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich von mir selbst rede.
18 Wer von sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist in ihm.

Liebe Gemeinde!

Thomas Mann bemerkt in einem Kapitel des Zauberbergs, „dass man eine Fertigkeit rasch gewinnt, derer man innerlich bedürftig ist“. Spezialisten allerdings, die auf den Erwerb solcher Fertigkeiten lange Ausbildungsjahre verwendet haben, kann das nicht gefallen. Das macht den formalen Einwand ihrerseits immerhin verständlich, es könne doch mit dem, was ein „Ungelernter“ zu bieten habe, nichts Rechtes sein.

Mit dieser Begründung werden einem Walter Stolzing in Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ die Flügel gestutzt, weil der glaubt, ohne eine gründliche Unterweisung in den Regeln der Sanges- und Kompositionskunst die Sängerwelt aus den Angeln heben zu können. In unserm Text aus dem Johannesevangelium wird die formale Notbremse gegen Jesus von Nazareth in Anschlag gebracht. Wie soll er, der es doch nicht schulmäßig gelernt hat, die Schrift verstehen und gar auslegen können?, fragen die Umstehenden in einer Mischung aus Zweifel, Verwunderung und mancherorts wohl auch Missgunst.

Man hört durch die Frage hindurch gröbere Formulierungen. Etwa in dem Sinne, was der Kerl sich wohl einbilde und, dass dann überhaupt ja ein jeder kommen könnte. Warum also sollte man ihm Gehör schenken? Kein amtliches Zeugnis, keine Lehrbefugnis, kein Titel, nichts, was Ehrfurcht einflößen könnte.

So sehr der Einwand allerdings auf die offene Flanke zielt, dass wir es eben nicht mit verbrieftem Spezialistentum für die Schriftauslegung zu tun haben, so wenig ist er, der Einwand, selbst unverwundbar. Gerade, weil er rein formal ist und damit letzten Endes nur die Unterstellung, es könne um die Lehre dieses Mannes aus Nazareth aus den genannten Gründen nichts sein.

Aber am Ende will die Frage nach der Autorität einer Lehre, der Geltung von Regeln und der Qualität einer Sache nicht nur formal gestellt und beantwortet sein. Am Grunde dieser Frage geht es um die Wahrheit selbst, oder, mit den Worten der deutschen Klassik, um das Schöne, Wahre und Gute.

Das ist nicht nur tollkühn pathetisch formuliert, sondern darf auch als hoffnungslos romantisch und blauäugig gelten, kurz: als vormodern und nicht mehr zeitgemäß. Längst ist der Wahrheitsbegriff unter den wissenschaftlichen Theorien zersplittert in tausend Wahrheitsfragmente, die sich oftmals in formaler Richtigkeit erschöpfen. Das Spezialistentum treibt wunderliche Blüten, so dass der Ehrgeiz mancher Wissenschaftler darauf zu zielen scheint, so weit und so tief in ein Spezialproblem hinabzusteigen, dass es am Ende nur noch knapp hundert andere auf der Erde überhaupt verstehen.

Zugleich richtet sich die moderne Welt mit der Vorstellung ein, dass es „die Wahrheit“ sowieso nicht gebe. Sie bestehe eben nur in den ungezählten Aspekten subjektiver Stimmigkeit, in mathematisch-naturwissenschaftlichen Zusammenhängen wenigstens noch in formaler Richtigkeit.

Friedrich Nietzsche hat mit dem Wort von der Umwertung aller Werte die Vorstellung von einem ewigen Wertekatalog zerstört. Nietzsches Übermensch ist in der Lage, die Werte selbst zu setzen. Und er ist dazu verurteilt, es zu tun.

Unsere Medien-Moderne hat daraus eine Art Was-solls- oder Ich-steh-dazu-Kultur gemacht.

Wenn einem dann in den täglich ausgestrahlten Zirkusarenen vorgeführt wird, was alles geht und wozu mancher glaubt stehen zu können, überkommt mich eine starke Sehnsucht nach verbrieftem Spezialistentum. Wenigstens für eine einigermaßen ausgebildete Denk- und Ausdrucksfähigkeit, dazu ein halbwegs zivilisiertes Benehmen würde ich als wohltuend empfinden. Die Mühe einer Ausbildung scheint vor diesem Hintergrund mehr als lohnend.

Auch in Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ gelangt der ungestüme Stolzing schließlich zu dem Ausruf: Verachtet mir die Meister nicht.

Im Hinblick auf die Wahrheit, auf dasjenige also, was einem Menschenleben Grund, Bestimmung, Richtung und Zuflucht bietet, zeugt es jedoch gerade nicht von Meisterschaft, sich damit zu begnügen, dass es die Wahrheit nun mal nicht auf Flaschen gezogen zu kaufen gibt. Das ist freilich so, und der letzte große Versuch, die Wahrheit an sich zu bringen spricht für sich: das Zentralorgan des Sowjetsystems hieß „Prawda“, Wahrheit.

Zugleich will es erprobt sein, in der Wahrheit zu leben, wie es der Evangelist Johannes an anderem Ort ausdrückt. Denn ohne den Bezug zu dem, was wirklich und wahrhaftig gelten soll, wird doch das Menschenleben schal und leer. Man kann nicht einmal mehr jemandem ernsthaft böse sein. Denn dazu müsste man ja annehmen, dass man das mit einem gewissen Recht vermag, dass der also ein Unrecht begangen hat um dessen Unrecht er gewusst haben musste, und das er hätte unterlassen können - und das all das wahrhaftig so ist.

Der Umgang mit den Spezialproblemen der modernen Welt wird durch diese Überlegungen gewiss nicht leichter. Die moderne Medizin und Naturwissenschaften zum Beispiel bringen Fragestellungen hervor, die nicht mit der Anwendung einfacher Faustregeln zu beantworten sind. War es vor 30 Jahren in jedem Falle richtig, alles zu tun, was ein Menschenleben erhielt und verlängerte, so kommen uns angesichts der sogenannten Apparatemedizin Zweifel. Der Preis um den der Tod verhindert und hinausgeschoben wird ist jedenfalls hoch.

Zumeist ist es nicht hilfreich, schurkenhafte Verursacher der Probleme und Fragen auszumachen. Frankenstein’sche Vorstellungen gehören nach Hollywood und nicht in die Krankenhäuser und Forschungslabors. Der medizinische und wissenschaftliche Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hat rein überwiegend der Bewahrung und Unterstützung des menschlichen Lebens gedient. Dass sich dabei nun an den Rändern des Lebens Fragen ergeben, die an die Grundfesten unserer Wertevorstellungen gehen, liegt in der Natur der Sache. Bei der Behandlung Alter und Sterbender, bei Fragen der Transplantationsmedizin, in den Bereichen pränataler Diagnostik, genanalytischer und gentechnischer Möglichkeiten haben Mediziner und Wissenschaftler gerade selber das Interesse, Hilfestellung bei ethischen Entscheidungen zu bekommen.

Diese Entscheidungen verlangen eben nicht nur ein Spezialistentum auf eng umrissenem Gebiet. Sie erfordern ein ernsthaftes und mühevolles Suchen nach Erkenntnis und Ringen um Einsicht in die tief empfundenen Wurzeln des Lebens. Das Leben selbst gilt es zu verstehen durch all die mühevollen Einzelfragen hindurch. Deshalb war es auch nicht die Frage, ob Jesus es gelernt hatte, die Schrift auszulegen. Denn in der Schrift legt sich das Leben aus, und das verstand er zu beschreiben – treffender oft als die Spezialisten.

Im Kapitel, das unserem Predigttext folgt, werden diese Spezialisten zu ihm kommen. Sie haben eine Frau beim Ehebruch ertappt und wollen sie nun gemäß der Weisung des Mose durch Steinigung hinrichten. Als sie das Jesus vortragen, sagt er seinen berühmten Satz: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Er rät weder ab, noch zu, sondern gibt die Frage, wie man nun mit der Frau verfahren solle an die Spezialisten formaler Richtigkeit zurück. Was fragt ihr mich? Ihr habt die Tat, die Täterin und ihr habt eine hinreichende Zahl an Zeugen. Dazu habt ihr die Weisung des Gesetzes. Formal ist das Verfahren vollkommen richtig und abgesichert. Warum also, ihr Spezialisten, fragt ihr mich? Reicht euch die formale Richtigkeit des Urteils etwa nicht hin? Und wenn das so ist, was genau hindert euch, die Verantwortung für die Hinrichtung zu übernehmen? Wollt ihr nachher sagen können, ich hätte es ja auch gesagt?

Wenn das so ist, dann denkt noch einmal nach. Vielleicht meldet sich in euren Bedenken eine tiefere Verbindung zu Gott, als ihr es euch eingestehen wollt. Denkt also nach und tut, was ihr verantworten könnt.

Das Ergebnis ist bekannt. Niemand warf einen Stein. Nicht, weil Jesus das gefordert hatte, sondern weil ein jeder bei sich selbst spürte, was es zu tun und was zu lassen galt. Wenn jemand den Willen Gottes tun will, wird er innewerden, ob die Lehre von Gott ist oder ob einer von sich selbst nur redet.

Ein leichtsinniger Umgang mit diesem Wahrheitsgefühl ist freilich nicht angeraten. Dummheit, Eitelkeit, Ahnungslosigkeit und Leichtsinn sind die Gefahren, die die Wahrheit verwechselbar machen mit der Suche eigener Ehre. Aber ein gewisses Vertrauen darauf, dass es auf unsere Entscheidungen wahrhaft ankommt, kann auch in der Welt des 21. Jahrhunderts nicht schaden. Die Probleme werden gewiss immer komplexer, aber sie wollen gelöst sein.

Dafür braucht es Spezialisten, gewiss. Und es braucht die Nachdenklichkeit und den Einsatz derer, die sich und die Fragen unserer Zeit ernst und wichtig nehmen. Ohne Mühe und Fachwissen wird es nicht gehen, aber hier gilt, dass man eine Fertigkeit rasch gewinnt, deren man innerlich bedürftig ist.

Amen

Ulrich Braun, Pastor in Meensen, Jühnde und Barlissen im Kirchenkreis Münden
eMail: Ulrich.Braun@evlka.de


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