Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Neujahrstag, 1. Januar 2001
Predigt über Sprüche 16,1-9, verfaßt von Georg Kretschmar

Liebe Gemeinde!

1. Nach dem Tode Davids wurde sein Sohn Salomo König. Kurze Zeit später hatte er in einem altisraelitischen Heiligtum einen merkwürdigen Traum: Gott der Herr stellt ihm einen Wunsch frei. Und Salomo erbat von Gott ein "gehorsames Herz", um seinem Volk ein guter König zu sein. Diese Antwort gefiel dem Herrn sehr. Er schenkte Salomo ein "weises und verständiges Herz" und versprach ihm dazu noch Reichtum, Ehre und ein langes Leben. So steht es im 1. Buch der Könige im Alten Testament (3,4-15).

Wer könnte am Anfang eines neuen Jahres, eines neuen Jahrtausends, die Bitte des jungen Königs nicht auch in seinen Mund nehmen! Im alten Israel galt dann Salomo als das Musterbild des Weisen; in ihm floß gleichsam alle Weisheit, alle Lebenserfahrung, die seit uralter Zeit in Sprüchen überliefert worden war, zusammen, so wie sein Vater, König David, zum Sammelbecken aller Lieder zur Ehre Gottes, der Psalmen, werden sollte.

Auch unser Predigttext stammt aus dem Buch der Sprüche Salomos. Hier ruft nicht ein Prophet im Namen Gottes zur Umkehr oder verheißt Gottes Treue. Hier erzählt kein Schreiber die wunderbaren Wege, die Gott sein Volk in der Geschichte geführt hat. Im Buch der Sprüche sind die Erfahrungen der Weisen zusammengetragen. Auch hier geht es durchaus um Gott. Der Satz, daß die Furcht Gottes aller menschlichen Weisheit Anfang ist (vgl. Sprüche 1,7-8,13-9,10), gibt eben nicht nur eine Glaubensüberzeugung wieder, sondern entspricht auch dem, was der Weise als Summe seiner Lebenserfahrung weitergibt. Solche Einsichten sind in den Sprüchen niedergelegt, die uns für diesen Neujahrsgottesdienst mitgegeben werden.

2. Gute Vorsätze gehören wohl überall zu Selbstbesinnung an einer Zeitenwende, am Beginn eines neuen Zeit- oder Lebensabschnittes. Im Blick auf die Vergangenheit tritt vor unsere Augen, was Gott uns geschenkt hat und ebenso, was uns gelungen oder eben mißlungen ist und wo wir schuldig geworden sind. Im Blick auf die Zukunft machen wir Pläne und nehmen uns vor, alte Fehler nicht zu wiederholden und die Chance des Neuen zu nutzen.

Und eben hier setzen unsere Sprüche ein. Es ist doch eine ganz banale Erfahrung, daß gute Absichten, schöne Pläne keine Garantie dafür sind, daß unser Leben im kommenden Jahr gelingt. Wir wissen ja nicht einmal, ob wir an seinem Ende noch leben werden. Eine deutsche Redewendung sagt: Der Mensch denkt und Gott lenkt.

So reden auch unsere Sprüche. Solche Erfahrung hilft gegen falschen Stolz, hier heißt es sogar, daß Gott ein stolzes Herz nicht ungestraft bleiben lassen wird (16,5). Im deutschen Sprichwort heißt das: Hochmut kommt vor dem Fall. Es ist nicht nur das Gewissen, das uns vor Habgier warnt, die jede Grenze zwischen Recht und Unrecht beiseite schiebt (16,9), auch die Lebenserfahrung lehrt: unrecht Gut gedeiht nicht. Und da unsere Erfahrungen eben nicht über die Todesgrenze hinausreichen, blicken auch diese Weisheitssprüche nicht über das Menschenleben hinaus.

Entscheidender Maßstab bleibt dabei, daß es Gott ist, der unser Leben lenkt, heißt es hier doch sogar, daß selbst unser Denken nicht sicher zur Sprache wird: was wir tatsächlich reden, kommt vom Herrn (16,1). Deshalb sind die Sätze, daß unsere Pläne so oft nicht zum Ziele führen oder gar scheitern, nicht Ausdruck der Resignation, sondern Warnung und vielleicht sogar Trost. Erfahrung für sich genommen bleibt ja auch in der Regel offen für verschiedene Entscheidungen. Nach einer militärischen Niederlage kann ich den Schluß ziehen: Gott hat uns die Waffen aus der Hand geschlagen - nie wieder Krieg. Aber in dem Bauernkriegslied, das vor ein, zwei Menschenaltern viel gesungen wurde, heißt es: "Geschlagen ziehen wir nach Haus / uns're Enkel fechtens besser aus." Der Weise müßte hier auf die Furcht Gottes zeigen. Aber damit überschreiten wir auch die Grenze der bloßen Erfahrung.

3. Wenn wir die uralten Sätze der Sprüche Salomos aufnehmen, dann dürfen wir mehr aus ihnen heraushören als die Alten damals sagen konnten. Sie wußten um die Macht und Treue des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das ist gewiß unser Gott. Doch wir kennen und bekennen ihn auch als den Vater Jesu Christi, der seinen Sohn in unsere Welt sandte, um uns das Leben und volle Genüge zu schenken, weit über das uns jetzt Erfahrbare hinaus. Damit werden die Sätze unseres Textes Signale der Hoffnung. Die Zukunft liegt in Gottes Händen. Und dieser Gott, der Vater Jesu Christi, will, daß allen Menschen geholfen werde.

Dem scheint der Weise zu widersprechen. Er rechnet mit der Möglichkeit, daß es Menschen gibt, Gottlose, die nur zu ihrem Untergang geschaffen sind (16,4). So kann auch der Apostel Paulus schreiben (Römer 9,20-23). Dem Apostel geht es dabei um die Allmacht Gottes, mit der kein Mensch einen Rechtsstreit aufnehmen kann. Das heißt aber auch, daß es nicht unsere Sache ist, diese Möglichkeit in unser Kalkulieren aufzunehmen. So lange ein Mensch lebt, darf und kann ich ihm eine Zukunft mit Gott nicht absprechen. Und wenn ich an mir selber zweifeln sollte, dann rät Martin Luther, wie alle großen Väter der Kirche, die auch "Weise" sind, auf Jesus Christus, den Gekreuzigten zu schauen, der für uns, für mich, gestorben und auferstanden ist, damit wir leben sollen.

Das ist eine Zusage, die weit über das neue Jahr, ja weit über unseren Tod hinausreicht. Von ihr fällt aber auch ein Glanz auf die vor uns liegenden Monate, was immer sie bringen mögen. Im Lukasevangelium wird eine eigentümliche Frage Jesu an seine Jünger überliefert: "Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals."(Lukas 22,35) Natürlich hatten sie Hunger und Durst gelitten, lange Wege und kurze Nächte hinter sich gebracht. Sie haben Anfeindungen erfahren. Aber das alles ist im Rückblick zerstoben um des Herrn willen, der sie ausgesandt hatte. Die meisten unter uns gehen mit nicht leeren Geldbeuteln ins neue Jahr, haben Taschen und Schuhe. In der Regel stehen wir auch nicht unter einem solchen zwingenden Auftrag, wie der Herr ihn seinen Jüngern erteilt hatte, das Evangelium vom Kommen der Herrschaft Gottes zu verbreiten. Wir wissen nicht, was das neue Jahr uns bringen wird. Aber wir dürfen Gott vertrauen, der Herr unserer Wege ist und uns zu seinem Ziel führen will.

Ich wünsche uns allen, daß wir am Ende des Jahres 2001 auch mit den Jüngern sagen können: Wir hatten keinen Mangel, der Herr hat unsere Schritte gelenkt.

Amen.

D. Georg Kretschmar
Erzbischof der ELKRAS (Ev.-luth. Kirche in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien)
St. Petersburg
Fax-Nr.: 007 812 3 10 26 65
E-Mail: kanzlei@elkras.convey.ru


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