Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Altjahresabend / Silvester, 31.12.2000
Predigt über Johannes 8,31-36, verfaßt von Elisabeth Tobaben

Liebe Gemeinde!

In knapp sechs (zwölf) Stunden ist es wieder soweit: wir werden mit dem Sektglas in der Hand das Vorrücken der Uhrzeiger verfolgen, werden gebannt nach draußen horchen, ob es schon irgendwo anfängt zu knallen oder die Glocken zu läuten beginnen.
Jahres-Wechsel.

Alles konzentriert sich auf diesen einen Punkt, den Glockenschlag 00.00 Uhr, den "Durchgang" vom alten zum neuen Jahr.
Ein besonders faszinierender Zeitpunkt, obwohl ja eigentlich ganz willkürlich im Kalender gesetzt!

Sylvester kommt mir fast so vor wie der Versuch, die verrinnende Zeit wenigstens einmal im Jahr sichtbar zu machen, greifbar, als könnten wir sie festhalten. So als wären wir dann vielleicht der Vergänglichkeit und dem Verrinnen der Zeit nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert.

Die Sehnsucht ist groß nach etwas Bleibendem, nach etwas, was Bestand hat, was sich - auch im neuen Jahr - als tragfähig erweisen kann und mein Vertrauen wert ist, Orientierung ermöglicht und mich befreit aufatmen läßt.

Was das sein könnte?
Dazu, das herauszufinden, ist uns in dieser gefühlsbeladenen Nacht ein sehr nüchtern klingender Text zum Nachdenken vorgeschlagen:

Lesung: Johannes 8, 31-36

Das ist oft so, wenn Jesus spricht: man darf gespannt sein, welche Erwartungen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer er diesmal über den Haufen wirft, welche allgemeingültigen Überzeugungen er jetzt wieder auf den Kopf stellt!

Er provoziert gern, um die Menschen zum Nachdenken zu bringen, Fragen in ihnen zu wecken, ihnen neue Wege aufzuzeigen zum Glauben und Leben. Verständlich, dass da auch viele nicht mitkönnen, sich vor den Kopf gestoßen fühlen und sich abwenden von Jesus und seiner Predigt. Das war -nach Johannes- auch im Vorfeld dieser Rede geschehen, viele hatten sich offenbar unglaublich aufgeregt über das, was Jesus sagte, waren schließlich gegangen, so dass Jesus beunruhigt die Zwölf fragt: “Und ihr? Was ist mit euch, wollt ihr auch noch weggehen?"

Aber sie sind geblieben. Bisher jedenfalls.
Warum? Vielleicht wissen sie das selber gar nicht so ganz genau?
Noch ist ganz offen, wie sie sich in Zukunft zu ihm stellen werden.
Und so folgt jetzt die erneute Mahnung zu Bleiben - mit allen Konsequenzen!

Ich finde, das klingt sehr einfach, was Jesus sagt: 1. Schritt: Dranbleiben am Wort, 2. die Wahrheit erkennen, 3. frei werden.
Und doch steckt gerade in dieser vermeintlichen Einfachheit dieses Dreischritts die Tücke!

Sie kennen das sicher: Eine neue Einsicht zu gewinnen - gut, das ist das eine, aber wie schwierig es sein kann, daraus dann auch Schritte zu entwickeln, etwas zu verändern und voranzukommen, das ist gerade zu Sylvester nur all zu klar: die Zeit der “guten Vorsätze" ist gekommen! Voraussetzung dafür ist natürlich, dass ich mir Gedanken gemacht habe, manches gefunden habe, womit ich nicht zufrieden bin und was ich deswegen verändern möchte.

Die Erkenntnis ist da, aber erfahrungsgemäß werden sich nach den ersten Versuchen plötzlich tausend Gründe einstellen, weshalb gerade dieses Vorhaben sich nun leider doch nicht umsetzen läßt!
Da kann jemand noch so sicher sein, dass es sinnvoll wäre, z.B. das Rauchen aufzugeben, endlich 10 Kilo abzunehmen oder die Arbeitsstelle zu wechseln.
Da braucht nur jemand süffisant zu lächeln und "Ach, tatsächlich?" zu sagen - schon ist alle Sicherheit dahin. Ich glaube, dass es solche Erfahrungen des Scheiterns sind, die oft im Vorfeld schon ganz andere Fluchtwege zu eröffnen scheinen. Unterstützt durch Sätze wie: "Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert."
Sprich: Es hat ja doch keinen Zweck, nehme ich mit doch lieber gar nicht erst etwas vor - oder sogar: lasse ich doch auch das Nachdenken bleiben über mich selbst und meinen Weg!

Kann sein, dass es auch die Ahnung eine Rolle spielt, dass schmerzliche Wahrheiten ans Licht kommen könnten!
Dass Wahrheit befreien kann, das ist eine Wahrheit, die sich in der Regel erst im Nachhinein erschließt.
Wieviel Anstrengung es gekostet hat, ein Problem, einen Konflikt oder Schwachpunkt zu verbergen, etwas nicht an sich herankommen zu lassen, das merkt man oft erst, wenn diese Kräfte wieder frei sind für anderes. Gerade zu Sylvester ist das Bedürfnis offenbar groß, noch einmal Revue passieren zu lassen, was gewesen ist. Es ist die Zeit der vielen Rückblicksendungen im Fernsehen,der ausführlichen Bilanz-Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften. "So war 2000" .
Aber auch im persönlichen Bereich neigt man um diese Zeit im Jahr besonders zur Rückschau (der Ausblick aufs Neue immer eingeschlossen).
Man erinnert sich -dankbar für das, was gelungen ist, für positive Erfahrungen und erfolgreiche Aktionen.
Wichtig wird sein, auch das andere nicht auszublenden, das Unvollkommene und Mißglückte, Zeiten der Überforderungen und Verzweiflung.

Sylvester könnten wir als Gelegenheit begreifen, alles vor Gott hinzulegen und noch einmal anzuschauen; Gelegenheit, die Erfahrungen des vergangenen Jahres nicht einfach abtropfen zu lassen sondern sie zu integrieren als Teil von uns. Aber sie können nur wirklich ein Teil von uns werden, so wie die Jahresringe bei einem Baum, können uns helfen, zu wachsen und lebendig zu bleiben, wenn wir sie akzeptieren lernen als ein Stück unseres ganz eigenen Weges.

Sie haben vorhin am Eingang alle eine Holzscheibe bekommen, an der die Jahresringe sehr deutlich zu erkennen sind. Sie soll Sie anregen, über Ihren eigenen zurückliegenden "Jahresring" nachzudenken.

Bei der folgenden Musik/Stille kann dafür Zeit sein.

Musikstück (oder Stille)

Was wird Bestand haben - auch im neuen Jahr - was wird sich als tragfähig, sinnvoll und hilfreich erweisen?

Jesus macht genau daraus eine Beziehungsfrage: Bleibt an meiner Rede, bleibt bei mir, stellt euch mit eurem ganzen Glauben und Denken und mit eurem Leben darauf ein, dann könnt ihr erkennen, worauf es wirklich ankommt, dann werdet ihr frei sein.

Der Protest folgt auf den Fuß! “Wie", sagen die an ihn glaubenden Juden, “frei machen willst du uns? Wieso eigentlich, wir sind doch freie Menschen, sind Abrahams Kinder - immer schon gewesen, was soll das also?"

Und so ziehen auch heute so manche ihre religiöse Sozialisation aus der Tasche, getauft, konfirmiert, kirchliche Jugendgruppe, ich hab' doch meinen Glauben, wieso brauche ich noch jemand, der mich frei macht?

Aber viele suchen Freiheit auch längst ganz woanders, sagen vielleicht: Frei werde ich im Kontakt mit übersinnlichen Mächten, durch meinen Engel oder indem ich Methoden entwickle, meine inneren Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Aber wozu Jesus?

Ich denke, dass dieser Johannestext etwas von dieser menschlichen Lebenswirklichkeit aufnimmt: die Sehnsucht nach Bleibendem, nach dem, was trägt und hält - wie auch die Hoffnung auf Veränderung Der eine tendiert mehr auf diese Seite, die andere mehr zu jener.

Menschen, die in ihrem Leben schon (zu) viel an Veränderungen erleben mußten, an Unbeständigkeit von früh an, für die wird jeder neue Umschwung eher bedrohlich wirken.
Jemand, der dagegen lange in einem festen, unveränderlichen Rahmen leben mußte mit engen, kleinkarierten Vorschriften, für den ist wahrscheinlich vielmehr der Gedanke bedrohlich, dass dies immer so weitergehen könnte, der Wunsch nach etwas Neuem , Beweglichen wird wach.
Aber beides ist wohl auch nicht ohne die Angst zu haben:
Das Bleibende birgt immer die Gefahr, zur festen Mauer zu werden, die mich trennt von Gott und den Menschen, einengt und festhält.
"Sünde" nennt Jesus dies sich verbergen, sich einmauern, das so unfrei und unbeweglich macht.
Und die Veränderung kann Angst machen, weil sie sowieso schon die Unsicherheit mitbringt, den Boden unter den Füßen schwanken läßt; Fremdes, Ungewohntes kommt vielen Menschen einfach von vornherein gefährlich vor. Die Spannung zwischen beidem ist es, die das Leben eines Christenmenschen ausmacht, lebendig erhält und befreit.

Das Paradoxe ist: Es gibt etwas Bleibendes, und deswegen muß nichts bleiben, wie es ist!
Gott wendet sich uns zu, läßt es Weihnachten werden und macht für einen Moment an der Krippe von Bethlehem die Zeit sichtbar, greifbar in diesem neugeborenen Kind.
Gott kommt uns nah, und das läßt mich hoffen mitten in der verrinnden Zeit.
Diese Hoffnung macht den Blick auf den "Durchgang" vom alten zum neuen Jahr realistischer:

Auch im neuen Jahr werden wir müde werden, keine Kräfte mehr haben, wütend und enttäuscht sein.
Auch im neuen Jahr wird es Angst und Tränen geben, Mißerfolge und zerbrechende Beziehungen.

Aber Realität ist aber nun auch das andere -und dafür kann das Bleiben an Christus und seinem Wort den Blick frei machen-
- dass ich ganz unerwartet Mut und Hoffnung entdecke, ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten;
- dass ich erfüllte Zeit erlebe, Vertrauen und Freude, Jemand hört mir zu, begleitet mich durch die Ungewißheit der Veränderung.
Darin finde ich Zeichen des "neuen Menschen" in mir und in anderen, Zeichen eines neuen Himmels und einer neuen Erde;
Gott bleibt - und wir in ihm -
und darum wird alles anders.

Amen.

Anmerkungen:

Der Sylvesterabend ist ein emotinal hochbesetzter Zeitpunkt, der viele Menschen in einer eher melancholische Stimmung versetzt. Das Bewußtwirkende Johannestext könnte ein Gegengewicht zu dieser Stimmung bilden und eine hilfreiche Orientierungsmöglichkeit bieten über den derzeitigen eigenen Standpunkt.

Joh. 8, 31-36 gehört in den II. Hauptteil des Johannesevangeliums, in dem es thematisch darum geht, dass sich Jesus als der von Gott gesandte Sohn offenbart und durch sein Erscheinen die deutliche Unterscheidung zwischen Glaubenden und Ungläubigen provoziert, konzipiert als Streitgespräch mit gläubig gewordenen Juden. Zielpunkt ist die Verdeutlichung der Tatsache, dass alein Jesus den Menschen zur Freiheit führen kann, indem er ihn zum Glauben befreit.

Elisabeth Tobaben, Pastorin in Moringen
elisabethtobaben@t-online.de


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