Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Altjahresabend / Silvester, 31.12.2000
Predigt über Johannes 8,31-36, verfaßt von Peter Kusenberg

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?

Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.

Liebe Gemeinde,

dicke Brocken bietet dieser Predigttext zum Jahreswechsel: Wahrheit, Freiheit, Sünde. Drei Schlagworte, drei Begriffe, zu denen schon ganze Bibliotheken geschrieben worden sind, von den Reden über sie ganz zu schweigen. Es sind Worte und Begriffe, die bei jedem unter uns eine ganze Reihe von Bildern und Gefühlen hervor rufen, gerade weil sie uns so oft begegnen. Es sind auch Worte und Begriffe, die häufig missbraucht werden.

Ich denke deshalb, es wird gut sein, sich dem Text langsam zu nähern, um die Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen oder falscher Untertöne zu vermeiden. Nicht gleich nach einer neuen, griffigen Schlagzeile suchen, möglichst spektakulär, sondern zunächst den Hintergrund ausleuchten, vor dem die Sätze des Predigttextes stehen.

„Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Diese Worte redet Jesus zu „den Juden, die an ihn glaubten“, also zu Menschen, die bereit sind, seinem Ruf zu folgen.

Und was antworten ihm diese Frauen und Männer darauf? „Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden?“

Liebe Gemeinde, es lohnt sich, wenn wir versuchen, uns diese Szene vorzustellen. Jesus im Tempel von Jerusalem, umringt von einer Gruppe Zuhörer. Aber das ist keine Schar andächtig Lauschender, wie wir sie vielleicht bei der Bergpredigt vor Augen haben. Diese Leute sperren nicht staunend Mund und Ohren auf, nein, sie sind ganz und gar nicht auf den Mund gefallen.

Wir sind Nachkommen Abrahams, protestieren sie. Wir sind doch Erben der göttlichen Verheißung, Angehörige des erwählten Volkes. Nicht einmal feindliche Weltmächte haben uns versklaven können. Ich sehe förmlich das Blitzen in ihren Augen, den Nachfahren stolzer Nomadenvölker. Willst du, Jesus, uns etwas über Freiheit erzählen?

Zur Erinnerung: Jesus hatte von Wahrheit gesprochen. „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Doch seine Zuhörer stürzen sich auf das kleine Wörtchen „frei“ am Ende des Satzes. Was davor gesagt ist, wird gewissermaßen ausgeblendet.

Es ist immer wieder komisch, wie schnell bei bestimmten Reizworten Emotionen hochkochen. Kaum sind sie ausgesprochen, gehen die Wogen hoch. Und noch eins ist typisch: die klare Sicht ist im Nu vernebelt.

Nun reicht es allerdings nicht, wenn wir auf diese Weise am Rande feststellen, dass die Unfähigkeit, richtig zuzuhören, schon zu biblischen Zeiten verbreitet war.

Die Frage bleibt umso stärker: Was meint Jesus, wenn er von „Wahrheit“ redet? – „Wahrheit“ ist bei ihm die himmlische Welt, an der Menschen in dieser Welt allein durch den Glauben Anteil haben. „Wahrheit“ bedeutet, ich erkenne an, dass Gott wirklich ist, dass er der Ursprung und das Ziel meines Lebens ist. Und der Weg dazu, den Jesus nennt, heißt „bleiben an seinem Wort“.

Und „frei sein“ – das ist dann letztlich nur eine Folgerung, wenn ich Gottes Wahrheit erkannt habe. Es ist die Konsequenz des Glaubens.

So hat es Jesus damals im Tempel gesagt, doch seine Zuhörer taten sich sehr schwer damit. Uns heute geht es nicht besser. Ich weiß zwar nicht, woher es kommt, dass wir Menschen die Dinge so oft von der anderen Seite her aufziehen wollen, aber geändert hat sich daran nichts.

Wahrheit? Wahrheit als Erkennen der Wirklichkeit Gottes? – Dann doch eher zuerst die Suche nach der Freiheit. Das glauben wir eher zu schaffen. Freiheit, das ist Selbstverwirklichung, das ist Unabhängigkeit. Das kriegen wir doch allein hin, die stolzen Töchter und Söhne des Technik- und Informationszeitalters an der Schwelle des Jahres 2001.

Und wir haben eine Menge Animateure, die uns den Weg zur grenzenlosen Freiheit weisen: die Apostel der Medien- und Spaßgesellschaft. Rund um die Uhr flüstern sie mir in der Werbung zu, dass ich nur die richtigen Utensilien brauche, vom Handy übers Duschgel bis zum Turnschuh. Markenbewusstsein erzeugt Selbstbewusstsein, so locken sie. Konsum macht frei, ist ihre Devise. „Nichts ist unmöglich“, tönt das Autohaus. „Wir machen den Weg frei“, wirbt die Bank. Wohin? Natürlich zur Freiheit der grenzenlosen Prärie am Lagerfeuer des rauchenden Cowboys.

Mal im Ernst: Glaube ich das? Helfen mir Love-Parade, Internet-Zugang und womöglich eine Tätowierung auf dem Hinterviertel, mich frei zu fühlen?

All diese Rattenfänger der Ichbezogenheit werden nicht müde, den Menschen auf ein bröckelndes Podest zu heben, das in Wirklichkeit nicht mehr ist als eine schillernde Fälschung. Eine Fälschung dessen, was Mensch sein von seinem Ursprung her meint: Bild Gottes.

Wo der Mensch sich selbst vollkommen machen will oder auf die hereinfällt, die ihm versprechen, sie könnten es für ihn tun, da ist der Mensch auf einmal wieder an Stelle von Adam und Eva beim Griff nach der verbotenen Frucht. Dort handelt er gegen Gottes Willen. Dort wird er schuldig. Dort entsteht die Kluft zwischen Gott und Mensch, die die Bibel mit dem Wort Sünde bezeichnet.

„Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“

Jesu Werk ist es, die Kluft zwischen Gott und Mensch wieder zu schließen. Deshalb widerspricht er den Juden seiner Zeit, die sich auf angeblich ererbte oder erworbene Rechte Gott gegenüber berufen. Das Bild vom Knecht, der nicht im Haus bleibt, ist Warnung. Dass ihr Nachkommen Abrahams seid, so sagt er es denen im Tempel, ist keine Garantie, dass ihr für immer die Auserwählten Gottes bleibt. Nur der Sohn des Vaters, der legitime Nachkomme, bleibt für alle Zeit.

Deswegen führt der Weg zur Wahrheit, zur himmlischen Welt, nur über den Sohn, den Mittler zwischen Gott und Mensch. „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Und das heißt auch für Christinnen und Christen heute, dass der lebendige Zusammenhang mit Christus und seinem Wort nicht ein Zustand ist, den wir durch Taufe und Konfirmation erreichen wie einen Gesellen- oder Meisterbrief, wie eine Medaille oder einen akademischen Titel. Im Glauben an Jesu Wort „bleiben“ – das ist Bewegung. Jeden Tag neu.

Martin Luther in seiner unnachahmlichen Sprache hat es so beschrieben: „Dieses Leben ist nicht eine Frommheit, sondern ein fromm Werden, nicht eine Gesundheit, sondern ein gesund Werden. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es glüht und glitzt noch nicht alles, es regt sich aber alles.“

Und das ist dann zum Ende der Predigt auch ein tröstliches Wort. Ich muss ja nicht zuerst der perfekte, vollkommene Mensch werden, bevor ich Gott unter die Augen trete. Das kann ich nicht, und jeder Versuch ist nicht nur aussichtslos, sondern wäre stets auch bedroht von der Versuchung der Eitelkeit. Der Eitelkeit eines Bildes, das sein will wie der Ursprung.

Ich will dankbar sein, dass ich Bild Gottes bin. Ich bin erleichtert, dass ich nicht vollkommen sein muss – nach welchem Maßstab auch immer. Ich nehme mit, dass meine Beziehung zu Gott ein „Bleiben“ sein will, eine lebendige, eine bewegliche Beziehung. Jeden Tag neu. So kann ich in das Neue Jahr gehen. Amen.

Peter Kusenberg Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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