Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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1. Advent, 3. Dezember 2000
Predigt über Lukas 1, 67-79, verfaßt von Klaus Schwarzwäller

[Ich gebe zu bedenken, ob man Vers 67 nicht lesen sollte: “Und Zacharias, der Vater Johannes‘ des Täufers, ward des Heiligen Geistes voll, weissagte und sprach nach der Geburt seines Sohnes:” o.ä., damit von vornherein die Zusammenhänge deutlich seien.]

Liebe Gemeinde

Heute ist der erste Advent – für mich, solange ich denken kann, ein besonderer Tag: Der Adventskranz wird hingestellt und die erste seiner Kerzen angesteckt, die Wohnung wird adventlich geschmückt, Gedanken und Sinne beginnen, sich auf Weihnachten einzustellen.

Erst heute? Ja, für mich erst heute. Gerade darum stolpere ich darüber, daß ich mich damit wie verspätet ausnehme. Den ringsum hat längst, bunt und lautstark, der Advent begonnen, als wäre das selbstverständlich und in Ordnung. Das macht, der Gott unserer Zeit ist der Markt. Er diktiert Regeln und Gesetze, Verhalten und Handlungen, Maßstäbe und Ziele. Wenn etwas nicht “marktkonform” ist – es mag ja gut sein; aber damit ist es erledigt. Wer sich nicht nach dem Markt richtet, wird abgeschüttelt, ausgestoßen. Nicht zuletzt diktiert der Markt auch die Zeit: Wann etwas “dran” sei und wielange, der Markt gibt es vor. Er gibt vor, daß bereits im September Weihnachtsgebäck in den Supermärkten erscheint und im Oktober die ersten Adventskalender zu sehen waren, im November Adventsdekorationen auftauchten und lange vor dem ersten Advent man so tut, als wäre der Advent ausgebrochen. Der Markt verlangt es so, und vor ihm beugt schier jedermann “anbetend die Knie”.

Das ist so; klagen und jammern ändert nichts daran. Doch es ist gut, sich diesen Sachverhalt ungeschönt vor Augen zu führen, auch deswegen, weil erst damit die wohl nicht mehr zu überbrückende Kluft deutlich ist zwischen Advent und Weihnachten unter der Herrschaft des Gottes Markt und jenen Advent und Weihnachten, mit denen wir Gottes Wunder feiern. Beide haben nur dies noch miteinander zu tun, daß sie teilweise auf dieselben Tage fallen und daß der Gott Markt Advent und Weihnachten zum Anlaß nimmt, seine Macht zu entfalten. Bei ihr müssen wir nicht verweilen; wir kennen sie.

Aber kennen wir auch die Macht Gottes? Seine Macht, der Advent und Weihnachten nicht nur sich verdanken, sondern aus der sie nach wie vor Leben und Kraft haben? Nun nicht allein haben, sondern auch beweisen? Kennen wir sie?

Es klingt so beiläufig und so “normal”, wenn es hier gleich zu Beginn heißt:
Und sein Vater Zacharias ward des Heiligen Geistes voll, weissagte und sprach...

Das ereignet sich aus Anlaß der Geburt Johannes‘ des Täufers, also des Vorläufers von Jesus Christus. Da entsteht von einer Minute auf die andere Prophetie, die hervorquillt aus einer – im buchstäblichen Sinne – Be-geisterung dieses Mannes. Da wird also ein Mensch von Gott selbst über die eigenen Grenzen und über die Horizonte seiner Welt und seines Alltags hinausgehoben und erhält die Macht, Gottes Wahrheit zu erfassen und auszusprechen.

Ja, ich weiß: Das klingt gut und mag so sein, aber wir kennen’s, es ist abgegriffen und zerredet. Darum – Halt! Alles einmal zugegeben: Haben wir es denn überhaupt gehört, wirklich einmal in unserem Leben zur Kenntnis genommen? in seiner ganzen Tragweite bedacht? in seinem Gehalt gewogen? Oder haben wir’s nur an uns vorbeirauschen lassen, gefunden, dergleichen hätten wir immer schon zu hören bekommen, und uns anderem zugewendet? Ich frage ohne Unterstellung. Aber ich frage aus der Erfahrung von unser aller Ungeduld, die uns der Gott Markt andressiert hat: Es muß gehen nach dem Motto “Zack – das war’s!”

Wenn wir uns einmal in Ruhe umschauen, dann mag uns dreierlei aufgehen: Die Menschwerdung Gottes kommt nicht auf uns zu wie ein Video-Clip; sie bekommt einen Vorläufer, der sie ansagen und auf sie vorbereiten soll. Weiter: Bereits die Geburt dieses Vorläufers verändert die beteiligten Menschen. Schließlich: Diese Veränderung geschieht dadurch, daß Gott sie neu, daß er sie zu Neuem begabt. Hier wird Zacharias zu prophetischem Vermögen begabt. Was er kraft dieser Begabung einst sprach, das überliefern wir heute noch und das hat heute noch Klang. Denn es kam von Gott, und Gott hat es in der heiligen Nacht bestätigt.

Und so feiern wir Advent und rufen uns mit seinem Kranz und seinem Schmuck und seinen Liedern in Erinnerung: Es gibt ganz andere Regeln als die des Marktes und seiner Moden. Es gibt eine andere Zeit als die, die so turbulent an uns vorbeirauscht. Diese andere Zeit und diese anderen Regeln sind aufgerichtet von Gott selbst, indem er sein großes Wunder tat: Er kam zu uns als Mensch. Es ist die Zeit, es sind die Regeln, wo wir Menschen sein können, indem wir – einfach sind, singen, spielen, feiern, es uns wohl sein lassen, weil Gott selbst uns gut ist.

Diese andere Zeit mit ihren Regeln hat einst mit dem Vorläufer begonnen und bei ihm damit, daß sein Vater nach einem Sprachsturz wieder redet und zum Propheten wird. Natürlich können wir uns das nicht sozusagen “anziehen”. Aber lassen Sie uns einmal darauf achten, was sein Prophezeien ausmacht:

Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!
Denn er hat besucht und erlöst sein Volk
Und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils
In dem Hause seines Dieners David,
Wie er vorzeiten geredet hat
Durch den Mund seiner heiligen Propheten:
Daß er uns errettete von unseren Feinden
Und von der Hand aller, die uns hassen
Und Barmherzigkeit erzeigte an unseren Vätern...

Der Mann jubelt! Endlich, endlich hat Gott seine Verheißungen und Versprechen erfüllt! Endlich, endlich wird die Erlösung Realität! Denn Gott “besucht” uns. Seine Gabe ist, daß er unseresgleichen wird und bei uns bleibt. Seither gehört er zu uns und will zu uns gehören. Seither haben wir Grund, uns Jahr um Jahr daran zu erinnern und darüber froh zu sein: Gott gehört zu uns und wir zu ihm.

Die Jünger des Gottes Markt freilich werden hierüber bestenfalls mitleidig lächeln – wenn überhaupt. Vermutlich werden sie darauf nicht weiter achten. Denn es ist so wenig marktkonform, daß man darauf keinen Gedanken verschwenden muß. Sie werden zudem darauf verweisen, daß über Essen und Trinken und Kleidung und Wohnung und Arbeit und Einkommen in ihren Tempeln entschieden wird. Dort ist Realität! Dort also – so sehen sie’s – fallen die Würfel über unser Leben.
Ja?

Dieser Lobgesang, diese Prophezeiung, sie werden seit fast zweitausend Jahren überliefert und immer wieder neu gesprochen – und haben noch nichts von ihrer Gültigkeit und Frische verloren, sondern ihren Klang bewahrt, während die Hymnen der Jünger des Marktes so weit reichen und so viel Dauer haben wie ihre vergänglichen Produkte, d.h. weniger als sie selber, und verwehen über Nacht. Und davon hinge unser Leben ab? Sie selbst spüren und merken, wenn sie aus Anlaß von Advent und Weihnachten sentimental werden, was Propheten und Glaube stets wußten: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das durch den Mund Gottes geht. Und der Jubel dieses Mannes, des Vaters von Johannes dem Täufer, macht es augenfällig: Fallweise und immer wieder gänzlich unvermutet geschieht es, daß aufleuchtet: Gott steht zu seinem Wort. Sein Wort ist nicht leer und schwach. Es hat Gehalt und bewirkt etwas – allerdings ohne Glamour, ohne Reklame und nicht zum Konsumieren. Wie?

Der Gott Markt gibt uns Prospekte und Broschüren, er übernimmt Garantie und ist zu Kulanzleistungen bereit, er hilft bei Teilzahlungen und regelt den Transport. Gottes Wort jedoch: Es verwandelt die Zeit. Es pflanzt in die laute, konsumbestimmte Vorweihnachtszeit mit ihrem Glanz und ihrer Musik und ihren Düften; es pflanzt hier hinein die Adventszeit. Also die Zeit der Vorbereitung auf Gottes Wunder.

Gottes Wunder sind leise. Gottes großes Wunder, daß er als Mensch zu uns kommt, ist ganz leise – so leise wie das zu Hause mit ungeübter Stimme gesungene Adventslied; so leise wie ein einziges brennendes Adventslicht; so leise wie wir selbst als bloße Menschen, die von allen Seiten reguliert und in diesen Wochen vom Weihnachtstrubel an die Wand gedrückt werden, vielleicht auch in dem Sinne, daß wir beschämt und bitter feststellen müssen: Ich kann nicht mithalten. Gottes großes Wunder, das Wunder seiner Menschwerdung, sagt und macht es zur Tatsache: Wir zählen für ihn. Und wenn unsere Stimmen rostig sind und man uns wie eine Kerze auspusten kann und wir keine Konsumenten sein können und deswegen nicht zählen: Für den, der uns geschaffen hat, zählen wir und haben wir Gewicht. So viel Gewicht, daß er zu uns kommt – als armer Mensch zu armen Menschen.

Ich selbst begreife das, je älter ich werde, immer weniger und verstehe darum immer besser die Adventszeit: Ja, wir brauchen diese vier Wochen Vorbereitung auf Gottes Wunder: Um es überhaupt vor Augen zu bekommen; um uns aus dem Sog des Vorweihnachtstrubels zu befreien; um uns einzustimmen, um empfänglich zu werden für leise Töne; um dafür wach zu werden: Schönheit und Freude und Leben gibt nicht der Markt. Sie schenkt Gott, indem er zu uns kommt. Gott – zu – uns.

Die Prophezeiung des Zacharias geht weiter und wendet sich nun unmittelbar an seinen vor einer Woche geborenen Sohn:

Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen.
Du wirst vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest
Und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk
In Vergebung ihrer Sünden,
Durch die herzliche Barmherzigkeit unsres Gottes...,
...auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und
Schatten des Todes,
Und richte unsre Füße auf den Weg des Friedens.

Man merkt: Das ist Prophetie. Sie packt gerade dort zu, wo man normalerweise ausweicht in Begriffe und Wortgetön. “Erkenntnis des Heils” ist ein derartiger Punkt – wie oft ist es von Gebildeten und Halbgebildeten und Schlaumeiern an intellektuellen oder frommen Stammtischen zerredet worden! Der Prophet hingegen nennt die Dinge beim Namen. Das Heil Gottes wird insbesondere durch dreierlei erkannt – und das ist das Ende allen Geredes: durch Sündenvergebung, durch Gottes Licht in der Dunkelheit, durch das Ausrichten unseres Verhaltens hin auf Frieden.

Das also ist es, was Gottes leises Wunder uns bringt, auf das wir uns eine Adventszeit lang vorbereiten und einstimmen, damit wir es neu erfassen und es uns neu erfüllte: daß Gott in unserer Dunkelheit erscheint, damit unsere Sünden von uns genommen und unser Sinnen und Handeln zum Frieden umgepolt werde. Und das allein, weil Gott es in seinem Herzen nicht mehr erträgt, wie wir unter dem Schrott und Unrecht, die wir selber produzieren, untergehen und ersticken und durch Irrwege und falsche Ziele Streit und Feindschaft und Krieg verursachen, denen wir am Ende selbst zum Opfer fallen. Also kommt er zu uns in dem Krippenkind, dessen Erscheinen wir in vier Wochen feiern.

Das also hat Advent zum Inhalt: Wir bereiten uns vor auf – jetzt stocke ich. Wir sind geneigt zu sagen: auf das, dem wir entgegengehen. Der Prophet aber läßt uns darauf aufmerken, daß nicht wir entgegengehen, sondern Gott uns entgegenkommt: Er kommt zu uns, zu Friedlosen, zu Gottlosen, zu Sündern, zu Jüngern und Dienern und Gläubigen des Gottes Markt – und was sonst wir Menschen noch alles sind. Er kommt zu uns. Wir müssen nicht gehen. Es genügt, daß wir uns öffnen, unsere Herzen weit machen, uns in seine, die andere Zeit einlassen.

Heute ist der erste Advent. Heute beginnen die vier Wochen der Vorbereitung darauf, daß Gott Mensch und dadurch – wie es ein Weihnachtslied (EG 25,4) singt – unser “Gesell” geworden ist, leise und in einem Stall verborgen. Daß er damit eine neue Zeit und neue Regeln unter uns aufgerichtet hat. Daß er von sich aus zu uns kommt, um mit ihm selbst und unter uns Frieden zu schaffen. “Gelobt sei der Herr..., denn er hat besucht und erlöst sein Volk!”

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: kschwarzwaeller@foni.net


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