Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Letzter Sonntag des Kirchenjahres, Ewigkeitssonntag, 26. November 2000
Predigt über Jesaja 65, 17-19. 23-25, verfaßt von Hans Werner Dannowski

Verheißung eines neuen Himmels
und einer neuen Erde

17 Denn „siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ 18 Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude, 19 und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.

23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. 24Und es soll geschehen: „ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. 25 Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muß Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

Liebe Gemeinde!

Das ist die Sprache der Sehnsucht. Daß sie hier laut wird, am Totensonntag, im November, in der trüben Jahreszeit, in der die Tage immer kürzer und die Nächte länger werden: daß hier die Sprache der Sehnsucht ihren Ort hat, das ist die eigentliche Prägung und Bedeutung dieses Tages.

„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Die Sehnsucht nach einer grundlegenden Verwandlung aller Dinge. Die Stimme des Klagens und des Weinens wird aufhören. Das Kinderkrankenhaus in der Stadt, von dem soviel Segen ausgegangen ist, das aber auch so viel Leid gesehen hat, kann geschlossen werden. Die Kinder werden nicht mehr für einen frühen Tod gezeugt. Die Todfeinde der Natur, Wolf und Schaf, werden nebeneinander weiden. Der Löwe wird Stroh fressen; nun, wenn der Löwe Stroh frist, so ist er kein Löwe mehr. Aber wir verstehen schon, was gemeint ist: das gefährlichste der Raubtiere wird der Gefährte des Menschen sein. Gerechten Lohn für gute Arbeit, Arbeit für alle wird es geben. Die Gebete werden nicht mehr gegen die geschlossene Tür des Himmels prallen. Die Welt ist das, wozu sie geschaffen ist: eine Welt der Gerechtigkeit, der Schönheit und des Friedens. Und der Himmel wölbt sich schützend über diese Erde. Überschwenglich ist die Sprache der Sehnsucht. Sie geht aufs Ganze. „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“

Die Erde und der Himmel sind alt geworden, liebe Gemeinde. Jahrmillionen stehen sie da, und einige Jahrtausende an Geschichte des Menschen und der Erde überblicken wir. Die alte Mutter Erde, der alte Vater Himmel. Zärtlichkeit schwingt mit, es ist ja unsere Erde, unser Himmel. Das Alter geht mit der Ehrfurcht Hand in Hand. So viel an Schönem und Bedeutendem hat sich abgespielt auf dieser Erde, unter diesem Himmel, und wir leben voll davon. Die Humanisierung der Arbeit: was muß das für ein Sklavendasein gewesen sein in früheren Zeiten. Die Fortschritte der Technik und der Medizin: wie hilflos sind die Menschen früher den einfachsten Krankheiten ausgeliefert gewesen, wie mühsam war das Leben insgesamt. Die Geschichte der Künste allemal. Was wäre unsere Welt ohne Bach und Mozart, ohne Michelangelo und Picasso, ohne Chartres und Charly Chaplin. Alt ist die Erde geworden und der Himmel über ihr, den die Flugzeuge rund um die Erde durchflügen. Alt und ehrwürdig und reich ist sie geworden, und wir fahren ihre Geschichte als Ernte ein in unsere Scheunen.

„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Alt ist unsere Erde und unser Himmel geworden, ehrwürdig, aber auch verbraucht. Krank sind sie geworden. Krank sind Erde und Firmament wahrscheinlich schon lange, aber heute wird einem das immer mehr bewußt. Der Reichtum der Erde schwillt an, aber zwei Drittel der Menschheit haben nicht genug zum Leben. Armut und Hunger wachsen selbst in unserem Land, nur wenige wollen es wissen. Das Zunehmen der Weltbevölkerung droht in diesem Jahrhundert die Erde zu überfluten. Es ist nicht mehr nur Gutes, was von oben kommt. Orte der kranken Welt prägen sich ein, sie wechseln, sind schnell vergessen. Soweso hießen sie gestern und Tschernobyl, heute Kursk und Kitzsteinhorn, Orte, an denen die Krankheit der Welt wie ein Geschwür aufbricht. Schnell sind die Namen wieder blankpoliert, Solingen und Mölln, aber die Krankheit ist überall. Und wer für ein Gemeinwesen mit verantwortlich ist, der fühlt sich wie eine Feuerwehr auf der Lauer, damit der Brand nur nicht ausbricht und um sich greift. Das Bewußtsein der alten Welt als eines Verbrauchtseins, als eines Endes ist – wie das Wissen um die Ehrwürdigkeit und Schönheit – unablässig da. Tag für Tag wird uns zugemutet, Probleme zur Kenntnis zu nehmen, die offensichtlich niemand lösen kann. Das Gefühl der Ohnmacht ist unausweichlich geworden. Das Gefühl des Verbrauchtseins und des Endes, Ja, die alte Erde und der alte Himmel.

Den Totensonntag begehen wir heute, liebe Gemeinde. Jeder und jede von uns hat an Tote und Verstorbene zu denken. Mütter, Väter, Geschwister, Freunde, Kollegen auf der Arbeit. Jemand ist darunter, dessen Fehlen besonders schmerzt, dessen Sterben mein Leben verändert hat. Eine Wunde ist da, die sich nicht mehr schließt. Wir gedenken heute vor allem derer, die im letzten Jahr heimgerufen sind. Alte Menschen sind darunter und solche, die noch in der Mitte ihres Lebens standen. Immer wieder sterben auch Kinder, oft Kinder, deren Namen wir nicht einmal nennen können, weil sie zu früh oder tot geboren worden sind. Es war ihnen nicht vergönnt zu leben. Wir wollen die Erinnerung heute in uns zulassen und den Schmerz. So vieles ist ungesagt geblieben, so vieles unvollendet. Die alte Erde und der alte Himmel, das ist das Leben, das zu Ende geht und sich verbraucht.

„Aber siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Mitten in den Symphonien der alten Welt, mitten in dem Zusammenhang des zu Ende gehenden, des verbrauchten Lebens erhebt der Glaube seinen Kopf. Tastet die Sehnsucht nach Worten, die Ungeheures ansagen. Spuckt der Glaube seine Ohnmacht heraus, schluckt sie nicht herunter. Schreit unter Schmerzen, klammert sich mitten im Weinen und Klagen an eine absolute Gewißheit. Ja, das gibt es und das wird es geben: den neuen Himmel und die neue Erde. I have a dream, hat Martin Luther King diese Sehnsucht genannt. Ich habe den Traum, daß eines Tages ehemalige Sklavenhalter und ehemalige Sklaven am Tisch der Brüderlichkeit sitzen werden. Und dann ist er losgezogen mit dieser unbändigen Sehnsucht im Herzen nach der gewaltfreien Gemeinschaft zwischen weißen und schwarzen Menschen und hat dafür geredet und dafür gekämpft. Den neuen Himmel und die neue Erde: viel zu groß ist natürlich diese Sehnsucht für das Herz des Menschen, die Sprache seiner Wünsche geht über das Vorstellbare weit hinaus. Das Maßlose seiner Wünsche macht den Glaubenden auch ein Stück heimatlos, macht ihn zum Unruheherd in der Gesellschaft. Arbeit für alle und gerechten Lohn, und des Klagens und Weinens soll ein Ende sein. Aber wer solche Sehnsucht nicht kennt, solch eine maßlose Hoffnung auf die Verwandlung all dessen, was Menschen niederdrückt: wofür soll er leben? Welche Sprache wird er reden? Die Sprache des small talk, die das gar nicht meint, was sie eben sagt? Die Sprache der Banalität, die alles nur in Mark und Pfennig auszurechnen weiß und zufrieden ist, wenn nur die eigene Rechnung stimmt? Nein, die Sehnsucht der Glaubenden reicht weiter, zieht sich nicht auf das Eigene, auch nicht auf die Kirche zurück, behält den Horizont der ganzen Erde und sogar den Himmel noch im Blick. Weinende, Verzweifelte, Obdachlose, Hungernde, Serben und Bosnier, Juden und Palästinenser, Einheimische und Fremde sind vor diesem Radius mit umfaßt.

„Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“

Ist das eine Illusion, liebe Gemeinde, eine blödsinnige Hoffnung, eine theologische Clownerie, über die man nur herzhaft lachen kann, weil die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so unendlich ist? Mag sein, ich kann das alles nicht beweisen. Aber eines weiß ich sicher: daß genau dies die Sprache des Glaubens ist. Der Glaube kreist um das Geheimnis Gottes. Nicht um die schöne neue Welt geht es, die kluge Politiker irgendwann schaffen werden. Nein, „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Gott ist es, der da sagt: „Ich will.“ Er ist das souveräne Subjekt dieses Handelns. Wenn ich überhaupt Gott danken, ahnen, Gott glauben kann: dann ist der Schöpfergott gemeint. Der Erde und Welten aus dem kreisenden Wirbeln des Chaos – wahrscheinlich in evolutionären Prozessen – geschaffen hat. Der mit der Zielgenauigkeit der Liebe die Erde, die Kreaturen, den Menschen schuf: weder ein Zufalls- noch ein Abfallprodukt ist ja noch der Mensch. Der über die Welt die Bestimmung einer guten, schönen und gerechten Ordnung gelegt hat. Der den Schlingenkurs der schönen/schrecklichen Menscheitsgeschichte mit seinen Mahnungen, vor allem aber mit unglaublichen Verheißungen begleitet. „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“

Und dann gibt es den einen, genau datierbaren Punkt in der Geschichte der Menschheit, an dem die Sprache der Sehnsucht zur Sprache der Erfahrung wird. Selig sind, die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, sagt der Mann aus Nazareth, den seine Jünger den Sohn des Allerhöchsten nannten. Nicht irgendwann ist der Trost im Leide da, nein, hier und jetzt. Vergebung, Freiheit, der weite Raum zum Leben: nicht irgendwann, sondern genau in ihm. Die Mauern abgetragen, die Gräben zugeschüttet: so ohne Furcht in dieser Welt. Sogar den Tod hat er durchschritten in seiner unauflösbaren Zugehörigkeit zu Gott. Den neuen Himmel und die neue Erde hat er hineingeliebt in diese Welt, so daß, wenn wir uns da anschließen könnten, mit ganzer Seele und mit ganzem Körper, so wäre das alles da. „Ist jemand in Christus, wird Paulus sagen, so ist er eine neue Kreatur. Die Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.“ Aus der Erfahrung der völligen Veränderung des Lebens schreibt dieser Mann.

Liebe Gemeinde, bei den meisten von uns wird das alles wohl doch stärker die Sprache der Sehnsucht bleiben. Die Erfahrung kommt dann und wann hinzu. Aber ich will und kann ohne die Sprache des Glaubens, ohne die Perspektive der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nicht leben. Du wirst an hundert Gräbern stehen, aber in den zerbrochenen Spiegeln das Gesicht der Auferstehung ahnen. Du wirst in tausend fremde Gesichter schauen, aber dich wird die Liebe zu den Menschen nie ganz verlassen. An Ungerechtigkeit, an Haß werde ich mich nie gewöhnen können. Die Nähe der Verheißung wird dich aus der Ohnmacht und aus der Verzweifelung holen. Auf dieser alten, schönen, müden Erde geht der Horizont des auf uns zukommenden Gottes auf. Das ist die Botschaft des Totensonntag und des Advent, in den wir schreiten.

Amen

Pastor i.R.
Hans Werner Dannowski
Kaiser-Wilhelm-Str. 18
30559 Hannover
Tel. 0511 / 517 9487
Fax; 0511 /952 6119


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