Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Zweitletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 19. November 2000
Predigt über Offenbarung 2,8-11, verfaßt von Esko Ryökäs, Helsinki

Kommentar zur Predigt

1. “Man wartet schon Monate auf die Befreiung. Mehrmals wird die Entscheidung versprochen, aber jedesmal täuscht man sich darin. Einen Kranken befreit man, es gibt also Hoffnung. In der Nähe sind aber wieder Schlüsse zu hören. In der Nacht müssen die Gefangenen erneut den Ort verlassen. Es ist in der Nacht schwer. Man kann in der Dunkelheit nicht sehen, wo man läuft. Von hinten wird nur ganz leise angetrieben: Vorwärts, gehen sie schon! Hier geht es um Leben und Tod. Zwar ist keiner von uns erschossen worden, aber wohl einige Guerillas.”

2. Die Geiseln auf der Insel Jolo haben im vorigen Sommer viel erleiden müssen. Sie hatten einen Paradiesurlaub geplant, auf der herrlich schönen und sonnigen Insel. Aber die brutale Realität hat alles verwandelt, und sie sind Geiseln geworden! Und die Gefangenschaft hat gedauert und gedauert, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat. Darauf hatte man sich nicht vorbereiten können, es ergab sich überraschend und unerwartet.

3. “Wieder wird uns die Befreiung versprochen. Es wird erzählt, dass jemand irgendwo für uns Gefangenen Lösegeld bezahlt hat. Dafür könnte man ja uns befreien. Wird es aber Wirklichkeit? Jetzt kommt einer zu uns und gibt den Befehl aufzustehen. Alle werden nicht mitgenommen, aber ich werde mit vielen anderen irgendwohin geführt. Bedeutet dies nun die Befreiung oder nicht? Das kann ich unmöglich wissen. Wir werden weiter geführt, das kommt aber jetzt anders vor als früher. Dürfte ich jetzt hoffen? Aber wenn ich wieder mich täuschen muss, kann ich es noch aushalten?

Wir werden aber jetzt anders als früher geführt. Ich sehe Leute in Zivilkleidung und ein Flugzeug. Das ist etwas anderes. Jetzt werden wir wirklich befreit. Aber Vorsicht, man soll noch nicht vor Freude an die Decke springen. Wenn ich zu sehr eifere, können sie ihre Meinung verändern. Aber JETZT WIRD ES WIRKLICHKEIT! Die Befreiung, was für ein herrliches Wort. Keine früheren Bindungen mehr, nicht mehr von der Gnade anderer leben, nicht mehr mit Vergangenheit gebunden zu sein, die Freiheit sich nach eigenem Willen zu bewegen und zu handeln. Danach habe ich mich gesehnt und davon habe ich in vielen hungrigen Nächten geträumt."

4. Alle Geiseln wurden nacheinander befreit. Sie konnten sich alle frei bewegen. Aber der Befreiungsprozess endete sich nicht mit der Beendigung der Gefangenschaft. Er hatte viele Phasen.

5. “Ich bin frei, ich bin frei. Kein Gewehrlauf auf meinem fast leeren Speisegefäss, kein nervöses Knipsen auf dem Gewehrdrücker. Keiner gibt mir Befehle mehr, wo ich hin darf und wo nicht. Aber wohin soll ich? Ich bleibe nicht hier, das ist kein Leben. Ich bin frei, aber ich gehöre nicht hierher. Ich will nach Hause und schnell. Wenn ich nicht schnell zu den Meinen komme, bleibe ich ein Gefangener. Jetzt wird uns die Weiterreise versichert. Es wird gesagt, dass wir Zwischenlandungen haben werden. Aber es macht nichts, die Hauptsache ist, dass wir ankommen. Ja, nach Hause, dorthin will ich."

6. Freiheit ist eine abstrakte Kategorie. Allein reichte sie keinem Gefangenen aus. Alle wollten sie dorthin, wo sie zu Hause waren. Sie wollten nicht auf die Insel, wo sie vor ihrer Entführung frei gewesen sind. Sondern sie wollten zu ihrem Familienkreis, zurück zu ihrer eigenen Umgebung, zu ihrer Heimatstadt. Es ist eine Sache frei zu sein, und es ist eine andere Sache an sein Leben so gebunden zu sein, dass es einen Inhalt hat. Jesus ist in die Welt gekommen, nicht nur, um Gefangene zu befreien. Seine Botschaft bestand nicht in der Befreiung von den Fesseln. Er ist gekommen, um Leben zu schenken. Und dieses Leben enthält mehr als nur Freiheit. Die Geiseln vom vorigen Sommer wurden befreit, und jeder von ihnen wollte dorthin, wo er zu Hause war. Jesus ist gekommen, damit jeder zu den Seinen gehören kann, dass jeder sein Leben in der Gemeinschaft mit anderen und in Verbindung mit Gott führen kann. Das Leben hat die Bedeutung, in der Nähe anderer zu leben, zu Hause zu sein.

7. Jakob wollte Fussball spielen. Sein Vater hat ihm den Ball gekauft und den Spannschuss und Kopfstoss vorgeführt. Danach hat Jakob mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft den ganzen Tag geübt. Es war ja nicht sein Schuld, dass der Onkel seinen Wagen falsch geparkt hatte. Dort hätte man den Wagen nicht parken dürfen, nicht einmal wegen der Renovierungsarbeiten in seinem Haus. Der Onkel hat es auch zugegeben, aber war trotzdem böse gewesen. Man kann es auch verstehen, die Spiegel sind ja schliesslich nicht ganz kostenlos. Und es war noch ein Sportwagen mit zwei Sitzen. Alles ist so elend, denkt Jakob, und ich habe Angst. Wie wird der Vater reagieren? Wird er mich an den Haaren zupfen? Oder er gibt mir kein Taschengeld für einen Monat? Es wäre ja schrecklich, ganz ungeheuerlich, weil Weihnachten vor der Tür steht.

Der Vater kommt. Man kann sehen, dass er mit dem Nachbarn gesprochen hat. Und er hat den Fussball in seinem Hand. So muss ich auf seinen Schoss, um den Urteil zu erfahren. Hören wir zu: Du hättest nicht den Fussball auf den Spiegel richten dürfen, das weisst du wohl. Der Onkel hat aber auch falsch gemacht. Verspreche mir, dass du nächstes Mal vorsichtiger bist, so lassen wir es dieses Mal?" Was, kein Zupfen an den Haaren, und das Wochengeld? Ja, ich verspreche es dir, ich verspreche alles mögliche. Aber ich liebe dich Vater. Du hast mich immer verstanden. Wunderschön, dass du zu Hause bist. Und ich kann bei dir sein. Spielen wir?

8. Jesus ist in die Welt gekommen, damit wir alle einen Platz haben, wo wir zu Hause sein können. So, dass auch ich den Schoss des Vaters habe und wissen kann: Er liebt mich. Auf seinem Schoss weiss ich, dass das Vergangene vergangen und vergessen ist, und dass das Leben vor mir steht. Damit weiss ich, dass ich zusammen mit dem Vater zu Hause sein kann.

Kommentare:

Der Text ist aus Offenb. 2: 8_11

Der Text behandelt die Synagoge des Satans und die erlebten Heimsuchungen und schliesslich durch diese gewonnenes Leben. Für die Apokalypse ist typisch, dass ihr Text in einer prophetischen Sprache verfasst ist. Ihre Analyse mit dem exegetischen Verfahren ist deswegen nicht so wesentlich wie bei anderen Texten.

In meiner Predigt versuche ich mit Symbolen, Vorstellungen und Erinnerungen sprechen. Sie vermitteln Gefühle, und die Symbole sind die Muttersprache des Glaubens. Nach der Predigtanleitung von Buttrick habe ich für meine Predigt einige Elemente (“moves") gesucht, die es ermöglichen, eine deutliche Gesamtstruktur auszubilden. Es bleibt dem Leser zu entscheiden, ob es mir gelungen ist.

Die Frage nach dem Leben ist im Text wesentlicher als die Frage nach dem Tod, obgleich ich mich mit beiden Themen befasse. Deswegen ist das Hauptthema dieser Predigt die Frage nach dem Leben und Tod so, wie Finnen, Deutschen und andere Vertreter anderer Nationalitäten im vorigen Sommer erlebt haben. Dieses Thema hat auch einen Zusammenhang mit dem Sonderthema des Tages, mit dem Volkstrauertag. Dieser Tag wird in Finnland in diesem Sinne nicht gefeiert. Deswegen hat meine Predigt keinen direkten Bezug auf diesen Tag. Und darum unterscheidet meine Predigt von einer gewöhnlichen deutschen Predigt für diesen Tag. Einige werden es sicherlich bedauern, aber ich hoffe, dass einige es auch positiv finden.

In diesem Zusammenhang wird die Frage hervorgehoben, welche Bedeutung die Erlösung erlangt. In der westlichen Kirche spricht man viel von der Erlösung in der lateinischen Bedeutung des Wortes, die aus Rechtssprache stammt: Die Strafe wird entzogen. In dem Neuen Testament ist ihr Inhalt jedoch umfassender. Reine Befreiung ist nicht das ganze Leben. Dazu gehört auch ein neuer Lebensinhalt, neue Werte, neue Möglichkeit von vorn zu beginnen. Nach meiner Meinung spiegeln sich alle diese Züge interessant im Gedanken von den Geiseln wieder, die nicht auf der Insel Jolo bleiben, sondern nach Hause kehren. Daraus ergibt sich das Thema der Predigt: Jesus führt nach Hause und gibt das Leben zu Hause.

Mit dem Thema würde eigentlich noch der Gedanke zusammenhängen, dass das Heim des Christen die Gemeinde ist. Ein einzelner Christ ist zwar frei und in Verbindung mit Gott. Aber er ist an das Leben nicht so gebunden, wie er als Mitglied einer Gemeinschaft der Gleichgläubigen sein kann. Hier habe ich jedoch nicht mit diesem Gedanken auseinandergesetzt. Der Leser kann dafür eine Anwendungsstelle suchen und vielleicht auch die sprachlichen Symbolen für seine Konkretisierung finden.

Ich freue mich sehr über die Kommentare zu dieser Predigt per e_mail.

Universitätslektor Esko Ryökäs, Helsinki
Systemaattisen teologian lehtori
Joensuun yliopisto, PL 111, 80101 Joensuu
013-251 4355
e-mail: esko.ryokas@joensuu.fi


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