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Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe "Texte und Gedanken zur Schöpfung", September/Oktober 1999

 

Predigt zur Themenreihe "Schöpfung"
von Stefan Knobloch

Psalm 8: "Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott.
Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände."

Wer in diesen Tagen und Wochen über die "Schöpfung" nachdenken will, muß eine schwere Hürde nehmen. Er steht unter dem Eindruck schrecklicher Bilder. Bilder der Zerstörung - in der Türkei, in Athen, in Taiwan. Und wo demnächst noch? Bilder der Zerstörung, hervorgerufen von gewaltigen Erdbeben. Die Bilder verwischen mit ganz ähnlichen Szenen von in Schutt und Asche gelegten Häusern in Moskau, die das Opfer fanatischer terroristischer Sprengstoffanschläge geworden waren. Es fällt schwer, die Bilder auseinanderzuhalten, so sehr gleichen sie sich. Überall sind die Rettungsmannschaften im Einsatz, suchen Suchhunde nach Überlebenden, werden Tote - und wie durch ein Wunder -, auch Lebende, geborgen.

1. Die Schöpfung - ein Chaos?

Ist der Kosmos der Schöpfung in Wahrheit ein Chaos? Passen die zerstörerischen Kräfte, die von den sich gegeneinander verschiebenden Erdschollen ausgehen und die Erde erbeben lassen, zum Wunderwerk der Schöpfung Gottes? Müssen wir an diesem Wunderwerk Abstriche machen? Haben die Recht, die sagen, das mit der "Schöpfung in Gottes Hand" sei Quatsch, sei ein Mythos, der vor der Realität nicht standhält? Menschen früherer Zeiten, weit zurückgegriffen etwa der Psalmist des Psalms 29, scheinen in der Lage gewesen zu sein, auch solche Chaoserfahrungen in ihr Bild des Schöpfergottes zu integrieren. Mag sein, daß in Psalm 29 nur von einem heftigen Gewitter die Rede ist, das die Zedern des Libanon wie Streichhölzer knackt. Nein, da ist von mehr die Rede, von einem Erdbeben ganz offensichtlich: "Er - Gott, der Herr - läßt den Libanon hüpfen wie ein Kalb, wie einen Wildstier den Sirjon" (Ps 29, 6). Wenn der Libanon hüpft wie ein Kalb, was kann das anderes sein als das Bild eines Bebens?

Heute freilich gerät der Glaube an den Schöpfergott nicht erst durch Naturkatastrophen ins Wanken. Er ist längst einer Haltung des Menschen gewichen, die das Universum als Aufgabe und Herausforderung des Menschen ansieht - und als sonst nichts. Und wenn man noch von "Schöpfung" spricht, dann eben nicht, um den Bezug zum Schöpfer zu signalisieren, sondern um den Lebensraum zu bezeichnen, den der Mensch einnimmt und immer mehr einnehmen soll, gewiß bei wachsender Verantwortung für seinen Bestand.

"Bewahrung der Schöpfung" ist in den letzten Jahrzehnten ein Thema geworden, das das Ohr und das Interesse der Menschen findet. Nur ist solches Interesse abgekoppelt vom Gedanken an einen "Schöpfer". Das Schicksal der Schöpfung ist in die alleinige Regie des Menschen gegeben. "Gegeben", von wem? Das wird nicht mehr gefragt, nicht mehr hinterfragt, so unhinterfragbar es ist. Die Schöpfung ist "gegeben" worden, sie ist nicht vom Menschen gewaltsam an sich gerissen, okkupiert worden. Sie ist "gegeben" worden - von jemandem, auf den heute nur selten der Blick fällt: auf den Geber der Welt, auf Gott, ihren Schöpfer.

2. Verantwortung, Achtung, Ehrfurcht

Es tut gut, einmal den Horizont des Psalms 8 einzunehmen:

"Du - Gott - hast den Menschen als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt: All die Schafe, Ziegen und Rinder und auch die wilden Tiere, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, alles, was auf den Pfaden der Meere dahinzieht."

Sofern man nicht gerade auf dem Land lebt, könnte einen bei diesem Text ein wehmütig-romantisches Gefühl überkommen. Schafe, Ziegen, Rinder: "Urlaub auf dem Bauernhof" fällt einem da ein, wenn Großstadtkinder erstaunt den Herden auf der Weide mit der Hand durch das Fell streichen und stolze Väter die Szene mit der Kamera festhalten. Von Dinosauriern ist in Psalm 8 nicht die Rede, über sie war die Entwicklungsgeschichte lange hinweggeschritten. Die Übertragung der Verantwortung für die Schöpfung in Psalm 8 meint offenbar nicht die Verantwortung für ihren "Status quo", daß alles so bleibe, wie es ist. Sie meint die Offenheit für Entwicklungen, die sich in der Schöpfung, in der Natur abspielen, in der ein Kommen und Gehen herrscht. Sie meint auch die Offenheit für vom Menschen initiierte Veränderungen, für die "kulturelle" Gestaltung des Lebensraumes der Welt. Da taucht dann in unseren Köpfen rasch das Wort von der "Manipulation" auf. Manipulation hat in unseren Ohren einen schlechten Klang. Wer "manipuliert", in welchem Zusammenhang auch immer, dem müsse das Handwerk gelegt werden. Dabei übersehen wir gern, daß unser Umgang mit der Natur im Grunde immer ein "Hand-Anlegen" (manus) an sie bedeutet, ein "Hand-Anlegen", das schonend, behütend, gestaltend, nicht zerstörerisch sein soll. Darauf will das verantwortliche "Herrschen" in Psalm 8 hinaus. "Hand-Anlagen", das machen wir dauernd, in unendlich vielen alltäglichen Gesten, auch an uns selbst, z.B. - man verzeihe die Banalität - beim täglichen Zähneputzen! Zweimal täglich, mahnen die Zahnärzte. So erhalten wir uns die natürlichen Zähne länger, als es die "bloße Natur" ohne unsere Pflege könnte. "Manipulation"?

Es geht nach Psalm 8 um ein Herrschen über die Schöpfung als Werk Gottes. Damit kommt in unseren Umgang mit ihr etwas wie Ehrfurcht, ja fast wie Gehorsam herein. In der Sozialenzyklika "Sollicitudo rei socialis" von Johannes Paul II. von 1987 findet sich eine Passage, in der Achtung, Ehrfurcht und Gehorsam gegenüber der Schöpfung anklingen. Die Schöpfung verdiene - so der Papst - in dreifacher Hinsicht unsere Achtung:

"Die erste besteht darin, daß es angemessen ist, sich zunehmend dessen bewußt zu werden, daß man nicht ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen - Naturelemente, Pflanzen, Tiere - rein nach eigenem Gutdünken und entsprechend den eigenen wirtschaftlichen Erfordernissen Gebrauch machen kann. Im Gegenteil, man muß der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen.

Die zweite Überlegung gründet sich ... auf die ... Feststellung von der Begrenztheit der natürlichen Hilfsquellen, von denen sich einige, wie man sagt, nicht regenerieren. Diese Quellen mit absolutem Verfügungsanspruch zu benutzen, als ob sie unerschöpflich wären, bringt ihr Fortbestehen nicht nur für die gegenwärtige Generation, sondern vor allem für die künftige in ernste Gefahr.

Die dritte Überlegung bezieht sich ... auf die Folgen, die eine gewisse Art von Entwicklung auf die Lebensqualität in den Industriegebieten hat. Wir wissen alle, daß ein direktes oder indirektes Ergebnis der Industrialisierung immer häufiger die Verschmutzung der Umwelt ist, mit schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung" (Nr. 34).

Drei Aspekte der Verantwortung stellt dieser Text heraus. Zum einen die Verantwortung gegenüber der Natur; das menschliche Verhalten dürfe sich nicht nur an ökonomischen Gesichtspunkten ausrichten; zum anderen die Verantwortung gegenüber der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen, zum dritten die Verantwortung gegenüber der globalen Sicherung der Lebensqualität.

3. Aber es ist nicht alles "in Ordnung"

Und trotzdem: Nimmt hier nicht die Schöpfung eine Aura ein, als sei sie die "Unschuld in Person", als könne sie kein Wässerchen trüben? Als rühre alles Böse ausschließlich von dem mißratenen "Herrschen" des Menschen her? Daran lassen uns schon die Erdbeben mit ihren Opfern zweifeln. Daran läßt uns auch ein genauerer Blick in die Natur zweifeln. Als es vor zwei Jahren dem schottischen "Roslin-Institut" gelang, das Schof "Dolly" zu klonen, ging ein Aufschrei der Betroffenheit um die Welt. Die Wissenschaft dürfe sich nicht an die Stelle Gottes setzen. Nur, ganz unaufgeregt dagegengefragt: Wird durch das experimentelle Klonen von Tieren tatsächlich die "Ordnung" der Schöpfung und damit die Ordnung Gottes gestört? Geht es in ihr nur "ordentlich" zu? Darwin machte vor mehr als hundert Jahren darauf aufmerksam, daß die Natur auf dem Weg der Evolution keine moralischen Gesetze und Grenzen kenne, daß sie auf dem Weg zum Erfolg "Hekatomben von Lebewesen" opfere. Die Schöpfung als das Werk Gottes ist offensichtlich nicht zimperlich. Sie ist verschwenderisch, sie arbeitet mit riesigen Überschüssen, um die sie sich nicht weiter kümmert, die sie verrotten läßt. Das entspricht nicht unseren Ordnungsvorstellungen, aber es ist so. Die Natur kommt offenbar nicht ohne Obszönitäten, nicht ohne Schlachtbanken aus. Ahmt also die Wissenschaft, die Klonierungsversuche mit Tieren macht, im Grunde nur die verschwenderische, grausame Natur nach? Ein heikler, komplexer Zusammenhang, der uns die Augen dafür öffnen kann, daß die Natur als Werk Gottes nicht einfach ein Ausbund von Unschuld, sondern verschwenderisch, launenhaft und unberechenbar ist. Sie hat offenbar keine Mühe damit, unter ihren Schafen ein geklontes Schaf "Dolly" mitlaufen zu lassen.

Gleichwohl: "Du hast den Menschen als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände". Wir sind eingesetzt über ein Werk, das uns, je mehr wir seinen inneren Strukturen auf die Spur kommen, in immer neuen Rätseln das abverlangt, was es als Werk Gottes abverlangt: Achtung, Ehrfurcht und Gehorsam.

4. Das Verbindende: Die "Würde" von Mensch und Schöpfung

Psalm 8 sieht dabei einen engen Zusammenhang zwischen dem Auftrag zum Herrschen und der "Würde" des Menschen: Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott. Besagt das, daß unsere Nähe zu Gott, die hier ausgesagt ist - so könnte man in einer ersten Schlußfolgerung meinen -, uns der Welt, der Natur zu entfernt? Als seien wir etwas Besonderes, etwas Besseres, die wir der Schöpfung kaum Beachtung schenken müßten? Sollte das die Quintessenz unserer "Würde" sein? Nein, die Betonung unserer Würde und Größe will nicht eine Zäsur, einen Graben zwischen uns und der Schöpfung ausheben. Sie will vielmehr das Gemeinsame, das hintergründig Mensch und Schöpfung Verbindende hervorheben. Damit ist von mehr die Rede als von der puren Selbstverständlichkeit, daß der Mensch Teil der Schöpfung ist und insofern immer schon zu ihr gehört, sei es als "Krone", wie die einen sagen, sei es als "Dornenkrone", wie andere sagen. Auf einen ganz anderen Aspekt kommt es hier an, auf den Aspekt der Würde.

Psalm 8 spricht von der "Würde" des Menschen: nur wenig geringer als Gott. Wir haben darüber nachzudenken, worin diese Würde bestehe, ein Wort, das zwar heute in aller Munde ist, aber in seiner gebetsmühlenartigen Wiederholung nicht an Substanz gewinnt. Nach Kant besteht unsere Würde darin, daß wir nicht fähig sind, uns zu bewerten. "Würde" ist nicht nach Wert, nicht nach Warenwert, nicht nach Verwendbarkeit zu bemessen. Unsere Würde besteht darin, daß wir einer Bewertung entzogen bleiben. In der Tat: Mit der "Bewertung" des menschlichen Lebens wird der erste Schritt in das "lebensunwerte" Leben getan, in eine Unmenschlichkeit, an der unser Jahrhundert so schwer trägt. Unsere Würde liegt jenseits aller Wert- und Unwertvorstellungen. Sie ist nicht klar zu fassen, zu definieren - und bestimmt gerade darin unser Wesen.

In dieser Würde liegt das Gemeinsame, das uns mit der Schöpfung Verbindene. Was wir von der Schöpfung wissen, wahrnehmen, erkennen, uns zu eigen machen, nimmt ihr nicht ihre Rätselhaftigkeit, Verschlossenheit, Dunkelheit - ihre Würde. Mit jedem neuen Wissen über sie wächst unser Nichtwissen über sie. Erscheint damit die Schöpfung nicht in einer ähnlichen Aura der Würde, die wir von uns als Menschen behaupten? Eben diese Aura ist es, die uns mit der Schöpfung verbindet, die uns gemeinsam mit ihr zurückverweist auf den, von dem wir unsere Herkunft beziehen: auf Gott, den Schöpfer.

Das Buch Jesus Sirach scheint diese rätselhafte Würde der Schöpfung nachempfunden zu haben, wenn es nach einem geradezu lyrischen Lobpreis auf die Größe Gottes in der Schöpfung bescheiden bekennt:

"Die Menge des Verborgenen ist größer als das Genannte ... Alles hat der Herr gemacht" (Sir 43, 32-33).

Das Verborgene, nicht nur das faktisch noch Verborgene, sondern das an uns und an der Schöpfung grundsätzlich von uns nicht zu Entbergende - das ist das uns mit der Schöpfung Verbindende. Aus diesem Wissen heraus sollen wir, die wenig Geringeren als Gott, über die Schöpfung "herrschen" - schonend, behütend, gestaltend.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Lion Feuchtwangerstraße 38
55129 Mainz
Mainz, den 25.09.1999
E-Mail: pastoralunimz@hotmail.com
(16.9.1999)