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Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe "Texte und Gedanken zur Schöpfung", September 1999

Ist die Religion auf dem Rückzug vor der Naturwissenschaft?
von Rudolf Kippenhahn

Früher hielten die Menschen Blitz und Donner, Sonne und Mond für Gottheiten. Das ist vorbei. Heute wissen wir, was bei einem Gewitter vor sich geht, und wir kennen die Naturgesetze, denen die Himmelskörpern gehorchen. Die primitiven Religionen haben den Naturwissenschaften Platz machen müssen. Ähnlich scheint es auch in der Gegenwart zu sein. Was heute noch als eine Art Wunder angesehen wird, etwa die Entstehung des Lebens in einer befruchteten Zelle, wird vielleicht schon morgen eine in ihren Einzelheiten vorherberechenbare Reaktion der beteiligten Moleküle sein. Ist die Religion auf dem Rückzug vor der Naturwissenschaft? Ist Gott nur der Lückenbüßer, der mit dem Fortschritt der Wissenschaft immer mehr an Terrain verliert?

Ich glaube, so kann nur jemand schließen, der nichts von den Naturwissenschaften versteht. Ich sehe es gerade umgekehrt. Mit jedem weißen Fleck, den wir auf der Landkarte unseres Wissens beseitigen, mit jeder Lücke, die wir schließen, wird für mich das Wunder größer und unverständlicher, das Wunder nämlich, daß wir in der Lage sind, die Naturgesetze zu erkennen, mit denen wir die Erscheinungen erklären, ja mit denen wir Naturereignisse exakt voraussagen können. Man denke nur an die totale Sonnenfinsternis vom letzten August, deren Eintreffen zum Beispiel schon in einem 1887 erschienenen Buch exakt vorausberechnet ist. Für mich ist das tatsächlich ein Wunder. Wieso ist die aus organischen Molekülen bekannter Art bestehende matschige Masse meines Gehirns in der Lage, Voraussagen zu machen über eine Welt weit draußen im Raum, von der sie nur über die Sinnesorgane Kunde hat? Mit dem Verschwinden der weißen Flecken in unserer Naturerklärung, in denen die primitiven Religionen ihre Götter ansiedelten, sind neue Rätsel erstanden. Wenn wir heute Blitz und Donner keinerlei Ehrfurcht mehr entgegenbringen können, und wenn wir selbst dem Geheimnis des Lebens mit Hilfe der Molekularbiologie näher rücken, so ringt mir doch die Existenz von Gesetzen, nach denen die Natur abläuft, Staunen und Ehrfurcht ab: Ist es eine uns nicht zugängliche Macht, die alles so eingerichtet hat? Der Fortschritt der Wissenschaft beseitigt das Unerklärliche keineswegs, er verschiebt es nur auf eine andere, auf eine höhere Ebene.

Die Naturwissenschaft stellt uns ständig vor neue Rätsel, sie schafft das Unerklärliche nicht aus der Welt. Ich glaube aber nicht, daß sie eine unmittelbare Stütze für die Religion ist. Die Übereinstimmung des Wortes „Es werde Licht“ aus der Genesis mit dem Bild der Astronomen vom Urknall halte ich für zufällig, wonach das Weltall in einem gewaltigen Strahlungsblitz, also einer Art Lichtblitz, entstanden ist. Der Urknall ist keine Stütze für die Religion. Ich kann auch der Schlußweise nicht folgen: „Alles hat eine Ursache, also muß auch das Weltall eine Ursache haben, die wir Gott nennen.“ Der Satz von der Ursache ist ein Erfahrungssatz, der sich auf alles bezieht, was wir im täglichen Leben beobachten. Aber das Weltall als Ganzes gehört nicht zur Erfahrung des täglichen Lebens ebenso wie ein einzelnes Atom nicht zu unserer täglichen Erfahrungswelt gehört, und das, wenn es radioaktiv ist, zu einem nicht vorhersagbaren Zeitpunkt zerfällt, ganz ohne Ursache. Ich halte auch nichts davon, wenn wir versuchen, Religion naturwissenschaftlich zu untermauern. Ebensowenig glaube ich, daß sich Religion, wenn sie nicht wortwörtlich an den alten Texten klebt, naturwissenschaftlich widerlegen läßt. Niemand wird doch ernsthaft mit dem Satz von der Erhaltung der Materie gegen die wunderbare Brotvermehrung des Neuen Testamentes angehen!

Eines der naturwissenschaftlichen Argumente gegen die Existenz Gottes findet sich im Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“ des englischen Physikers Stephen Hawking. In der modernen Kosmologie, der Wissenschaft vom Weltall als Ganzem, wird von einem bestimmten Anfangszustand ausgegangen, während in der Folgezeit die Naturgesetze den weiteren Ablauf bis zum heutigen Tag bestimmen. Die einzige, Möglichkeit, wie nach Hawkings Meinung Gott in die Natur eingreifen kann, ist der Ausgangszustand. Später sind ihm durch die Naturgesetze die Hände gebunden. Nun hatte Hawking sich ein Weltsystem ausgedacht, dessen Entwicklung sich periodisch wiederholt, bei dem es demnach keinen Anfang mehr gibt. Also schließt er messerscharf, daß nun Gott überflüssig geworden ist. Ich glaube blauäugiger kann man nicht argumentieren. Sehen wir einmal davon ab, daß zum Unterschied von seinen anderen Leistungen Hawkings Weltmodell keineswegs von den meisten seiner Kollegen akzeptiert wird. Selbst wenn er recht hätte, beten denn die Gläubigen, seien sie Christen, Muslims oder Juden, ihren Gott wegen der Anfangsbedingungen eines kosmologischen Weltmodells an? Die Welt, in der wir leben, ist doch viel mehr als das, was wir mit den Naturwissenschaften erfassen können! Liebe, Angst, Zorn, Enttäuschung, Freude und Schmerz, das alles sind Dinge, die uns tagtäglich bewegen, und die uns mehr bedeuten als die Anfangsbedingungen des Weltalls!

Es ist diese unser ganzes Leben umfassende Welt, in der wir Hoffnung schöpfen und in der Verzweiflung Trost finden. In ihr erweisen sich die Werkzeuge des Naturwissenschaftlers als stumpf. Das ist die Welt in der der Gott der Religionen über uns wacht. Diese Welt wird auch nicht durch den Fortschritt der Naturwissenschaften eingeengt. Ist diese Welt nur in uns, also gewissermaßen nur eine Einbildung, oder ist sie objektiv außerhalb von uns vorhanden? Keines von beidem läßt sich beweisen. Wo der Beweis versagt, bleibt eben nur der Glaube, der sich allerdings ständig mit dem Zweifel auseinanderzusetzen hat.

Die beiden Welten, die sich gegenüberstehen, auf der einen Seite die Welt des Naturwissenschaftlers und auf der anderen die des Glaubens, wurden mir an einem Ereignis deutlich, das in den Siebzigerjahren durch die Presse ging: Eine Gruppe junger Leute wollten die Zugspitze über das Höllental besteigen. Der steile Weg nach oben war durch ein Seil gesichert. Während des Aufstiegs zog ein Gewitter auf, und ein Blitz fuhr gerade in dem Augenblick in das stählerne Seil, als einer der jungen Männer daran Halt suchte. Er war auf der Stelle tot. Naturwissenschaftlich liegt in der elektrischen Entladung, die einen Blitz erzeugt, kein Geheimnis. Wir wissen, unter welchen Bedingungen die sogenannte Stoßionisation eintritt und welche Gesetze den Weg der Entladung bestimmen. In der Welt des Naturwissenschaftlers ist der Vorgang sonnenklar. Doch was hilft all dieses Wissen den Eltern, wenn sie mit dem Verlust ihres Kindes fertig werden müssen?

Trost können sie letztlich nur in der Welt des Glaubens finden, in der Wissenschaft keine Bedeutung mehr ist.

Professor Dr. Rudolf Kippenhahn, Astronom, Göttingen

Email: kippen@gwdg.de