Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

Reformationstag 1999
Erzbischof Prof. Dr. Kretschmar, St. Petersburg: Predigt anläßlich der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 31. Oktober 1999 in Augsburg, St. Ulrich

Predigt am 31. Oktober 1999 in Augsburg, St. Ulrich

Hohe und liebe Festgemeinde,

in diesen Tagen und Monaten geht mir immer wieder ein Text durch den Kopf, der vor 100 Jahren entstanden ist aus der Feder der großen russischen Religionsphilosophen Wladimir Sergeewitsch Solowjow. Wir nennen diesen Text „Die Legende vom Antichrist“. Da der Autor im Jahr darauf starb, ist sie gleichsam sein geistliches Testament. Er kam aus orthodoxer Tradition, aber am Ende ging es ihm nur um die eine Kirche Christi auf Erden. Solowjow schildert im Rückgriff auf uralte Traditionen die letzten Tage der Menschheit. Im 21. Jahrhundert entstehen die Vereinigten Staaten von Europa, der Materialismus als Ideologie bricht zusammen, die Erdteile rücken politisch und ökonomisch immer mehr zusammen. Und diese umfassende Globalisierung wird der Rahmen für das Auftreten des Antichristen. Er bringt Frieden und Wohlstand und kann die Mehrzahl der Christen und Juden auf seine Seite ziehen. Die geistlichen Führer der großen christlichen Gemeinschaften allerdings durchschauen ihn. Sie ziehen aus der großen Weltkonzil aus. Schließlich treffen Papst Peter, Bischof und Starez Johannes und der evangelische Theologieprofessor Ernst Pauli zusammen. Sie umarmen sich. „So vollzog sich die Vereinigung der Kirchen in finsterer Nacht an einem hochgelegenen und einsamen Ort“. Es gibt keine Lehrerklärungen, keine Neubestimmung früherer Verurteilungen. Es zählt nur noch eins: das Christusbekenntnis, das „Ja“ zu Christus und das „Nein“ zum Antichrist.

Das hat etwas mit Rechtfertigung zu tun, obgleich Solowjow, als orthodoxer Christ, kaum das Wort Rechtfertigung kannte, noch gelernt hatte, in der Sprache dieser Tradition zu denken. Aber er hat die Mitte des Glaubens, das Evangelium, herausgestellt: Christus allein.

Wir werden schon das nun zu Ende gehende 20. Jahrhundert nur mit apokalyptischen Kategorien erfassen können. Millionen von Märtyrern, wie nie zuvor in der Geschichte, Millionen ermordeter Juden. Die meisten dieser Toten lebten in der damaligen Sowjetunion.

Bei Solowjow ziehen am Ende Juden und Christen vom Jordantal und vom Sinai her dem in Herrlichkeit erschienenen Christus in Jerusalem entgegen.

2. Das ist Vision der Zukunft. Wir haben erfahren, dass sich nach dem Ende der Verfolgungen und Repressionen Kirche, faktisch die Kirchen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, wieder sammeln konnte. Es ist für mich ein kaum fassbares Wunder: obgleich wohl vier fünftel der Menschen, die vor der Wende zu unseren lutherischen Gemeinden zählten, inzwischen ausgewandert sind, haben wir kaum weniger Gemeinden, als damals. Im Europäischen Russland und in der Ukraine sind neue junge Gemeinden gewachsen, mit einer anderen Spiritualität, als die Brüdergemeinden in Asien. Beide Traditionen zusammen zu sehen und zusammen zu halten ist eine der wichtigsten Aufgaben in unserer Kirche.

3. Vor einer Woche war ich in einer kleineren Stadt Sibiriens zu einem Gottesdienst geladen. Eine Diakonisse aus Deutschland, aus der Michowitzen Schwesternschaft, sammelt jetzt zweimal in der Woche meist alleinstehende Frauen, die auf der Suche nach einem Ort sind, wo sie Kraft und Sinn für ihr meist schweres Leben finden. Es sind großartige Frauen, die hungern und dürsten nach Gottes Gerechtigkeit, dem Evangelium. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Traditionen. Aber am Gottesdienst der lutherischen Ortsgemeinde, in der alten bruderschaftlichen Tradition, können sie faktisch nicht teilnehmen. Dort stehen noch die alten Festungsmauern aus der Zeit des Bekenntnisses gegen den Antichristen: es wird noch Deutsch gesprochen, Kleidervorschriften sind zu beachten, Frauen dürfen den Mund nicht auftun, Kinder sind ausgeschlossen. Diese Gemeinde tapferer und treuer Bekenner wird recht bald ausgestorben sein. Die Engel werden sie im Himmel empfangen und zu Ehrenplätzen geleiten. Aber auf Erden haben sie sich ihre Zukunft verbaut.

Sind die Frauen um Schwester Brigitte die neue Gemeinde? Das weiss nur Gott allein. Aber sie werden wohl dazugehören. So wie an diesen sibirischen Ort, ist es nicht überall in Asien. Gerade in Mittelasien haben die alten Gemeinden sich geöffnet, sammeln Menschen, die auf dem Wege zum Glauben sind, aus vielen Nationalitäten und Sprachen. Auch diese Spiritualität ist Christus Bekenntnis.

4. Aber nun führt uns ja heute das Thema Bekenntnis in einer besonderen Zuspitzung zusammen. Theologische Lehraussagen als Christusbekenntnis. Das ist ein spezifisch lutherischer Sprachgebrauch, der viel mit Augsburg zu tun hat. Hier ist die von Melanchton 1530 erarbeitete Schutzschrift der Protestanten zur „Confessio Augustano“ geworden. Auch die altkirchlichen Symbole, Apostolicum und Nicaenum, nennen wir, Lutheraner, Glaubensbekenntnisse. Andere Kirchen haben das in der Regel nicht übernommen.

Kann man Jahrhunderte alter Lehrstreit um die Wahrheit des Glaubens, um das Evangelium, durch gemeinsame Lehraussagen heute überwinden? Gemeinsam Christus bekennen gegenüber dem Antichristen, gemeinsam sterben, das kann man. Kann man das auch in Worte fassen? Ist ein Text wie die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ überhaupt im Zusammenhang des Herrenwortes zu stellen: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem Himmlischen Vater“?

Man muss es doch wohl; denn es geht jedes Mal um Christus allein, den gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes, es geht um das Evangelium und unser Heil hier und vor Gottes Thron. Wir sollten uns davor hüten, nur die Schlachten von gestern zu schlagen, wie die tapferen Schwestern und Brüder in ihrem Bethaus in Sibirien, von dem ich sprach.

Natürlich wird alten Lehrstreit nur überwunden, wenn klar ist, dass wir die gleiche Kirche sind, wie unsere Väter damals. Deshalb muss eine gemeinsame Erklärung ganz lutherisch und ganz katholisch sein, sonst kann sie niemand unterschreiben. Aber vor allem muss sie den Weg freimachen für das gemeinsame Christusbekenntnis heute vor den Menschen, nicht den Menschen von damals, sondern unseren Zeitgenossen, sollten Christen sein oder Suchende, wie die Frauen aus Sibirien, oder Atheisten.

Vom gemeinsamen Sterben in den Lagern der Sowjetunion und auch den Konzentrationslagern in Deutschland ist in der Regel wenig nach Außen gedrungen. Aber ich bin überzeugt, dass die Gebete der Märtyrer von Gott darin erhört worden sind, dass Er uns in unseren Kirchen eine Neuanfang geschenkt hat. Was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Aber heute sollen und dürfen wir gemeinsam Zeugen des Evangeliums sein und damit gemeinsam Christus bekennen.

Möge der heutige Tag uns darin gemeinsam voran bringen.

Amen.

Erzbischof Prof. Dr. Georg Kretschmar, St. Petersburg

(zurück zum Seitenanfang)