Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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3. Advent
12. Dezember 1999
Römer 15,4-13

Hans–Gottlieb Wesenick

Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.

Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, daß ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.

Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: „Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.“

Und wiederum heißt es: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!“ Und wiederum: „Lobet den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!“ Und wiederum spricht Jesaja: „Es wird kommen der Sproß aus der Wurzel Isais und wird aufstehen, um zu herrschen über die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen.“

Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, daß ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes.

Liebe Gemeinde!

Ein bißchen viel wird uns heute zugemutet vom Apostel Paulus, Gedanken und Worte, in die er scheinbar alles hineingepackt hat, was er einer christlichen Gemeinde sagen möchte. Im neuen Kirchenjahr, das am 1. Advent begonnen hat, werden wir das noch häufig so erleben. Denn nachdem die Predigttexte des letzten Jahres vor allem Abschnitte aus den Evangelien waren, sind in diesem Jahr die Predigttexte (4. Reihe) den Briefen des Neuen Testaments entnommen, von denen die meisten der Apostel Paulus geschrieben hat. Nicht wenige Predigttexte stammen aber auch aus der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, sowie aus Schriften des Alten Testaments.

Im heutigen Abschnitt ist besonders viel vom Loben die Rede, auch von der Hoffnung. Die Gemeinde in Rom, an die Paulus seinen Brief richtete, hatte das wohl besonders nötig. Tatsächlich gab es bei ihr Streit über zahlreiche Fragen. Allerdings standen die Christen in Rom damit nicht allein. In Korinth und anderen Gemeinden gab es auch viel Streit. Und uns ist das ja auch nicht fremd: Überall gibt es Konfliktstoff genug unter uns Christen, in Göttingen ebenso wie in unseren Landeskirchen und in der weltweiten Christenheit, ganz zu schweigen von den nach wie vor nicht unerheblichen Differenzen zwischen uns und den römisch-katholischen Christen wie auch den orthodoxen Kirchen.

Aber deswegen wohl redet Paulus vom Loben, weil er weiß: wer gemeinsam mit anderen ein Loblied anstimmen kann, der hat schon einen ganz entscheidenden Schritt von der Zwietracht zur Eintracht getan! Dabei stehen nämlich nicht die Streitfragen an erster Stelle, sondern all das, worin wir bei allem Streit dennoch übereinstimmen und uns einig sind. Deshalb können wir das Lob Gottes immer wieder gemeinsam zum Ausdruck bringen.

Nun werden wohl nirgendwann so viele Lieder gemeinsam gesungen wie in der Advents- und Weihnachtszeit. Und wenn überhaupt friedliche Gesinnung einmal zu spüren und zu erfahren ist, dann vermutlich am ehesten in dieser Zeit. Gewiß, im Gegensatz dazu werden uns gerade deshalb vielleicht in dieser Zeit besonders schmerzhaft auch all die Brüche und Konflikte bewußt, mit denen wir zu tun haben. Dennoch bedeutet es viel, wenn wir trotzdem solche Loblieder singen. Denn es scheint so, als ob das Kommen Gottes in die Welt dabei irgendwie sein Licht auf uns wirft und wir uns jedenfalls hier und da doch davon verändern lassen. Und darum geht es dem Apostel in seinem Brief: er möchte uns, die Gemeinde Jesu Christi, auf das Kommen Gottes vorbereiten. Dazu bietet er seine Hilfe an.

Sein zentraler Satz lautet: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob!“ Es ist schon erschütternd, wenn man nur kurz einmal für sich durchmustert, wo überall Menschen sich nicht annehmen konnten oder können und welches Unheil daraus bereits erwachsen ist und fortlaufend noch erwächst. Ich denke jetzt nur daran, daß in der vergangenen Woche die außerordentlich wichtige Welthandelskonferenz in Seattle gescheitert ist, weil man sich dort nicht einmal über die Tagesordnung einig werden konnte. Weitere Beispiele kann ich mir, denke ich, ersparen, weil jeder von uns sofort etliche aufzählen könnte.

Wir Christen müssen uns das freilich vor allem auch selber fragen lassen. Denn in der Kirche Jesu Christi gibt es all die Schwierigkeiten, die Streitereien, die tiefen Gräben, die Machtkämpfe und auch die Gemeinheiten untereinander genau so, wie es sie überall gibt, wo Menschen leben und ihr gedeihliches Zusammenleben ständig aufs neue regeln und organisieren müssen. Der Unterschied zu Nichtchristen: unter Christen werden Konflikte zuweilen mit heiliger Intoleranz und nicht mehr begreiflichem Fanatismus geradezu „gepflegt“.

Von Anfang an ist der Weg der Christenheit unübersehbar davon gezeichnet und belastet, daß von einer Gruppe erhobene Absolutheitsansprüche, die mit der Wahrheit des Evangeliums begründet wurden, Gemeinden und Kirchen sprengten und spalteten. Tatsächlich ist dies ja unheimlich schwierig: daß auch der Andersdenkende, der Andersglaubende von Christus angenommen sei, das kann man ihm ja wohl nur dann zubilligen, wenn man auch „seinen“ Christus, nämlich seine Art des Glaubens und Gehorchens und Handelns, die von der meinen, der unseren abweicht, als „legitim“ und „in der Wahrheit stehend“ erachtet. Doch geht das immer? Was heißt, was ist da „Wahrheit“? So fragte bekanntlich schon Pilatus.

Ich darf auch nicht verschweigen, daß auch unter Christen mitunter ein „Nein“ unausweichlich erscheint. Freilich wäre dann einige notwendige Fragen zu stellen. Zum Beispiel: wie begründet sich dieses „Nein“? Welchen Rang nimmt es ein? Werden hier womöglich doch nur menschliche, gesellschaftliche Vorurteile und Meinungsprofile mit Hilfe biblischer Argumente absolut gesetzt, oder steht hier jetzt wirklich die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel? Kann dann aber womöglich das „Nein“ zu einer anderen Meinung doch noch durch das „Ja“ zum gemeinsamen Christus überhöht werden? Ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten tatsächlich nicht doch viel größer als der Vorrat an Unterscheidendem, Trennendem? Diese Fragen werden oft leider nicht gestellt.

Wie aber, liebe Gemeinde, können wir nun trotzdem solche schmerzlichen Vorgänge und Erfahrungen mit den Verheißungen des Advent in Einklang bringen? Sicherlich müssen wir erkennen: daß unsere Welt von zahlreichen Widersprüchen und Differenzen befallen ist, beruht darauf, daß wir immer noch auf dem Weg sind, nämlich auf dem Weg aus der – wie Theologen es formelhaft und altmodisch, aber auch treffend ausdrücken – „gefallenen Schöpfung“ zur endgültigen Vollendung im Reich Gottes. Die Christenheit und natürlich überhaupt die ganze Welt steht noch unter dem Zeichen des Noch–Nicht; es ist noch nicht da, was Gott uns verheißen hat. Darum verfügen Christen noch nicht über die volle Erkenntnis der Wahrheit, sondern suchen sie auf sehr verschiedenen Wegen und in sehr verschiedenen menschlichen Situationen. Daraus entstehen dann jene Differenzen im Glauben und im Gehorchen, von denen schon die ersten Gemeinden heimgesucht waren und die im Laufe der Geschichte unendlich viele Spannungen und Spaltungen hervorgerufen haben. Darunter leiden wir bis heute. Wie können wir dennoch miteinander zurechtkommen?

Die meisten Konflikte werden dadurch vergiftet, daß wir meinen, wir allein müßten recht haben und bekommen, oder dadurch, daß wir selber uns anderen überlegen dünken, besser, klüger, erfahrener, gläubiger – wie auch immer. Unter Christen führt das dazu, daß sie Christus gleichsam für sich allein „in Pacht“ nehmen wollen. Demgegenüber schärft Paulus ein: daß Christus uns angenommen hat, daß wir auf seinen Namen getauft sind und seinen Namen tragen dürfen, erinnert uns daran, daß wir ihm allein und ihm gemeinsam unseren Glauben, unsere Existenz verdanken. Wenn Christus uns mit unserer ganzen Fragwürdigkeit und trotz unserer Unvollkommenheit dennoch erträgt und hält, sollten wir dann nicht erst recht mit derselben Bereitschaft denen gegenübertreten, die mit uns auf dem Weg zu ihm sind?

Das braucht ja keineswegs zu bedeuten, daß wir unsere eigene Meinung, Überzeugung oder Glaubensweise preisgeben. Es wird aber zur Folge haben, daß wir bereit sind, auch ein anderes Profil, einen andersgearteten Typ des Meinens und Glaubens wenigstens zu respektieren. Und wenn uns das möglich ist, dann können wir auch zulassen, können es uns erlauben und es aushalten, daß dabei dann unsere eigene Selbstgerechtigkeit und Selbstsicherheit in Frage gestellt wird. Wenn wir schon traurig sind und klagen über Konflikte, Gegensätze, Unversöhnlichkeit und Unfähigkeit zum Frieden in so vielen Bereichen menschlichen Daseins im kleinen wie im großen, müßten nicht wenigstens wir Christen dann als „Licht der Welt“ durch unseren Stil ermutigende Zeichen und Beispiele setzen?

Jeder wird sagen: Ja, natürlich müßten wir das! Doch zugleich spüren wir, daß wir dadurch bei weitem überfordert sind. „Nehmt einander an!“ Wunderbar! Doch manchmal bringen wir das einfach nicht fertig.

Appelle zur Toleranz kennen wir zur Genüge, und unser Versagen haben wir auch oft genug erlebt. Dazu gehört dann noch die deprimierende Erfahrung, daß unsere Bemühungen zur Toleranz nicht selten mit intoleranten Agressionen beantwortet wurden oder daß trotz unseres redlichen Engagements um Frieden eben doch weiterhin Angst und Haß, Feindschaft und Krieg ihre Herrschaft ausüben. „Es hat ja doch alles keinen Sinn!“ Das ist die Versuchung zur Resignation! Leicht kommt sie uns sehr nahe. Damit wir ihr nicht erliegen, sollten wir um so genauer auf die Botschaft von der großen Hoffnung hören, die uns immer wieder im Advent und heute auch vom Apostel Paulus gesagt und bestätigt wird. Sie vermag unsere Augen für jene faszinierende Perspektive zu öffnen, die unserem Glauben, unserem Leben, ja der ganzen Geschichte ein Ziel setzt.

Diese Perspektive zeigt uns nämlich: Alles, was wir jetzt noch als vorläufig und unvollkommen, als ungerecht und unverständlich erfahren, wird am Ende der Tage zu seiner Vollendung und Erfüllung kommen. Dann wird endgültig offenbar, daß Gott der Herr der Geschichte ist und Christus zur Herrschaft über die Welt berufen wurde. Und dann werden wir uns annehmen, „wie Christus uns angenommen hat zu Gottes Lob“. Die Botschaft des Advent lautet: Christi Herrschaft hat längst begonnen und will allen Widrigkeiten zum Trotz schon jetzt in uns zur Wirkung kommen.

Und manchmal geschieht das sogar recht deutlich. Manchmal kommt gegenseitige Annahme, kommt Versöhnung, kommt der entschlossene Wille zum Frieden tatsächlich auf den Weg, sogar unter Menschen, die Todfeinde waren. In diesen Tagen ist es wieder passiert: es ist tatsächlich gelungen, eine eigene Regierung für Nordirland zu bilden; vor wenigen Tagen hat sie ihre Arbeit aufgenommen. Die erbitterten Gegner IRA und Protestanten haben ihre Vertreter in dieser Regierung und beginnen mit der gemeinsamen Arbeit für ihr Land. Ein ganz zartes Pflänzchen ist das zwar nur. Jeden Tag kann es zertreten werden. Aber es ist da und wächst – hoffentlich wird daraus einst ein kräftiger Baum!

Daß manchmal doch Versöhnung geschieht, daß der entschlossene Wille zum Frieden tatsächlich Todfeinde zusammenbringen kann, haben wir auch vor sechs Jahren erlebt. Da haben sich der israelische Ministerpräsident Rabin und PLO–Chef Arafat in Kairo in Kairo die Hand zum Frieden gereicht. Wir wissen: dieser hoffnungsvolle Weg ist durch die Ermordung Rabins schmerzlich unterbrochen worden. Er schien eine Zeit lang sogar wieder völlig versperrt. Inzwischen wird er wieder begangen, trotz vieler großer und kleiner Rückschläge. Und dabei sind es nicht in erster Linie Christen, die sich auf diesem Wege gegenseitig annehmen wollen!

Liebe Gemeinde, solche Geschichten sind passiert und passieren in unseren Tagen! Sie sind also möglich, allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz. Wenn aber Lösungen schwierigster Konflikte im politischen Raum tatsächlich zustande kommen können, um wieviel eher sollten sie dann auch unter Kirchen und Gemeinden, unter Christenmenschen möglich sein, die wissen, daß Christus sie doch schon angenommen hat! Das alles, was trotz der redlichen Bemühungen von Menschen schließlich doch noch unvollkommen bleibt, das Stückwerk, die bleibenden Differenzen und Zweifel über das, was denn nun tatsächlich richtig und recht, was „aus der Wahrheit ist“, das alles können wir schließlich getrost dem wiederkommenden Christus überlassen. Er wird das Unvollkommene vollenden, die verbliebenen Rätsel lösen.

Darum wollen wir ihn bitten, daß er uns mit aller Freude und Frieden im Glauben erfülle, damit wir immer reicher werden an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes und zuversichtlich den Weg des Friedens einschlagen, wo immer wir können. Dabei wollen wir nicht müde werden, ihm unsere Loblieder singen. Amen.

Pastor Hans–Gottlieb Wesenick, Göttingen
E-mail: H.-G.Wesenick@t-online.de


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