Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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1. Advent
28. November 1999
Offenbarung 5,1-5 (6-14)

Henry von Bose

Entscheidungen für die Predigt

Liebe Gemeinde,

wie sieht die Zukunft aus? Welche Bilder machen sich die Menschen von der Zukunft der Welt? Solche Bilder gehören zu einem bewußten Wahrnehmen von Zeit. Selten wird das Vergehen von Zeit so deutlich erlebt wie jetzt am Jahrtausendwechsel.

Am 1. Advent, heute, beginnt ein Kirchenjahr, dessen Zählung schon in das neue Jahrtausend hineinreicht: das Kirchenjahr 1999/2000. In dem Predigttext für diesen Sonntag werden überraschend klare und überwältigend schöne Zukunftsbilder gezeigt. Ihre Beschreibung hört sich geheimnisvoll fremd an.

In der Offenbarung des Johannes öffnet sich eine überaus bewegte Szene im Thronsaal Gottes. Der Thron wird beschrieben, der Seher Johannes ist in den Himmel geführt worden und darf ihn sehen; er kann ihn beschreiben in seiner ganzen Herrlichkeit. Gottes Thron ist umspannt von einem Regenbogen, „anzusehen wie ein Smaragd“ (4,3). Der Regenbogen ist das uralte Zeichen für den ewigen Bund, den Gott zur Zeit Noahs und der Sintflut zwischen sich und allem geschlossen hat, was auf der Erde lebt. Sich selbst wollte Gott mit diesem bunten Lichtbogen in den von der Sonne beschienenen Wetterwolken während der ganzen jahrtausendlangen Geschichte der Schöpfung an seinen Bund erinnern (1. Mose 9, 12-17). Zum Erweis dessen, dass er seinen Bund nie vergessen hat – der Bund gilt weiter –, läßt Gott den Regenbogen über seinem Thron stehen – ein Zeichen des ewigen Friedens zwischen Gott und der Schöpfung. Der Regenbogen steht für die nicht endende Treue Gottes.

Jetzt sieht ihn Johannes über Gottes Thron. Um den Thron im himmlischen Saal werden Älteste, Gestalten und Engel beschrieben. Alle haben ihren Platz in einer beziehungsreichen Ordnung. In der Mitte des Geschehens wird Gott gehuldigt, ihm wird Ehre erwiesen und Dank gesagt. Gott wird angebetet: „Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen“ (4,11). Dann heißt es:

„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.

Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?

Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen.

Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“ (5, 1-5)

Für den Seher erschließt sich eine erschütternde Erfahrung. Alle Aufmerksamkeit gilt einem Buch mit sieben Siegeln. Niemand, wirklich niemand ist würdig, die Siegel zu brechen, das Buch zu öffnen und darin zu lesen. Das ist für den Seher zum Weinen. Er darf von dem Zeugnis geben, was sich im Thronsaal Gottes ereignet, und darf doch nur zusehen. Er muss erkennen, wie groß der Abstand zwischen Gott und allen anderen in der Schöpfung ist. Unüberbrückbar groß ist dieser Abstand. Das löst seine Tränen. Nicht würdig sind alle überall, das Buch „aufzutun und hineinzusehen“: niemand darf Einblick nehmen in den Plan Gottes. Was aus der Schöpfung werden soll, was Gott mit ihr vorhat, kann niemand wissen. Allen bleibt es verschlossen. Johannes‘ Tränen künden die Machtlosigkeit der Menschen vor Gott.

Denn um Macht geht es hier. Ein Buch mit sieben Siegeln ist eine Urkunde; innen und außen beschrieben, doppelt also, zur Bestätigung wird der Inhalt auf der Hülle wiederholt, vor Verfälschung gesichert. In den weiteren Kapiteln der Offenbarung des Johannes wird deutlich, dass dieses eine Buch die Zukunft von Himmel und Erde enthüllt: Wer seine Siegel lösen kann, der weiß, was darin steht, der kennt die Zukunft, der hat die Macht über die Zukunft. Der hat alle Macht in seiner Hand.

Menschen und alle göttlichen Wesen, so nah sie Gott in ihrer Anbetung sein dürfen, bleiben hier außen vor. Ihnen fehlt die Würde, die Macht, in Gottes versiegeltes Buch, in die Zukunft zu sehen, die er bestimmt.

Aber die Blicke derer, die Johannes‘ Beschreibung dieser Szene im Himmel betrachten, werden auf den weinenden Seher gelenkt. Damit wird ihnen zugleich der tiefe Sinn dieser Offenbarung erschlossen. Gottes Macht, alle Zukunft zu bestimmen, äußert sich im Trost für den einzelnen Menschen. „Weine nicht!“ Zur Begründung weist der Älteste Johannes in seiner Erschütterung auf Jesus Christus. „Der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids“ – die Familie Jesu gehört zu den ältesten in Israel, ihre Geschichte reicht bis zu den Anfängen der 12 Stämme. Als Jakob sie segnete, hat er sie alle beim Namen genannt, sie in ihrer Eigenart beschrieben und ihnen die Zukunft aufgedeckt. „Juda ist ein junger Löwe“ (1. Mose 49,9). Hier in der großen Endzeitvision klingt es wieder an. Von Juda stammt David ab und Jesus, der Messias. „Er hat überwunden“ – Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi kommen in den Blick. Er hat überwunden und deshalb hat er von Gott, dem Vater, die Macht, die Siegel zu lösen und das Buch zu öffnen.

„Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet“. Das darf der Seher ebenfalls betrachten. „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt“: Das Bild für die Befreiung der Menschen von ihrer Schuld. Der Regenbogen über dem Thron und vor ihm das Lamm – das sind die tröstenden Bilder für den erschütterten Seher.

Der Trost bleibt das Innerste der Zukunftsschau am Thron Gottes. Das Lamm bricht die einzelnen Siegel des Buches. Auf dem Höhepunkt, als es an das siebente Siegel kommt, öffnet sich eine nicht zu überbietende Verheißung. Ein Bild von der Zukunft der Menschen bei Gott wird beschrieben, das alle Schrecken überwindet, und jede Angst wegnimmt. Aus dem Zusehen wächst Zuversicht. Dieses Bild tröstet wie kein anderes in der Sorge um die Zukunft der Welt.

Eine unzählbar große Schar „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“ steht vor dem Thron (7,9), betet an und hört nach anderen Verheißungen zuletzt die höchste: „Das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen des lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ (7,17)

Das wird am Ende wiederholt, wie zum Beweis, dass wirklich dies in der Zukunft, die Gott herbeiführt, das Wichtigste ist: der Trost für die Leidenden, für die in der Tiefe ihres Empfindens Erschütterten.

Am Ende des Buches der Offenbarung des Johannes führt der Seher den Betrachtenden das Bild vom neuen Jerusalem vor Augen, „die heilige Stadt“, „von Gott aus dem Himmel herabgekommen“ (21,2).

„Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (21,3-5)

Zwischen Gott und der ganzen Schöpfung ist so lange ein weiter Abstand, wie er selbst ihn nicht schließt. Der Anfang dafür ist von Gott gemacht: Er hat den Regenbogen in die Wolken gesetzt, er hat der Welt seinen Sohn zum Retter gegeben. Vielen einzelnen in allen Generationen seitdem hat Gott seine Nähe geschenkt, indem er sie durch sein Wort zum Glauben geführt hat. Das tut er auch heute. Zum Bekenntnis des christlichen Glaubens gehört die Erwartung, dass Gott einmal, zu seiner dafür bestimmten Zeit, zu der Menschheit und der ganzen Schöpfung kommt und sie erlöst.

Der Glaube macht die Menschen ebenso empfindlich für Leid wie empfindlich für Zeit. Die Offenbarung des Johannes kann verstanden werden als eine „Vision von der befristeten Zeit“ (J. B. Metz). Sie tröstet mit dem Blick auf das Ende, an dem Gott alles neu macht. Sie bringt aber auch in Bewegung, weil sie die Einsicht vermittelt, dass noch Zeit ist, noch eine Frist gegeben ist, die Schöpfung nach Kräften zu bewahren und die Lebensverhältnisse gerechter zu ordnen.

Der Advent eröffnet das neue Kirchenjahr auf Weihnachten und später Ostern und Pfingsten zu. Er bringt uns von Neuem die Hoffnung nah, dass Gott die Zukunft der Welt bestimmt; er stärkt in der Kraft des Heiligen Geistes den Glauben, dass Gott den Anbruch des neuen Himmels und der neuen Erde mit dem Trost für alles Leid auf der alten Erde verbindet; er befreit uns aber auch zu der Liebe, mit der wir Gottes Schöpfung insgesamt neu sehen lernen.

Trost und die Kraft zu neuer Verantwortung gehören zusammen. Des Sehers Tränen werden im himmlischen Thronsaal getrocknet, in dem das Bekenntnis zu Gottes Schöpfermacht erklingt. Der Advent weckt mit seiner Botschaft von dem Trost, dass Gott zu seiner Zeit kommt, von neuem Verantwortung für die Schöpfung. Diese Verantwortung geht auch von den Fragen nach der Zukunft aus, die sich immer mehr Menschen stellen, – heute erst recht beim bewußten Wahrnehmen der Zeit am Jahrtausendwechsel. Bei Vielen wächst die Einsicht, dass durch die Wirtschaftsweise und den Lebensstil eines Teils der Weltbevölkerung der Schöpfung kaum wieder gutzumachender Schaden zugefügt worden ist. Angst vor der Zukunft greift um sich. Von ihr ist der Glaube im Advent besonders herausgefordert. Solche Angst gilt es aufzunehmen und womöglich zu überwinden. Die Energie solcher Angst gilt es umzuleiten in die Bereitschaft zu Veränderung. Dem Aberglauben ist in den Kirchengemeinden und von ihnen aus zu widersprechen, es sei bereits zu spät, das vom Menschen selbst herbeigeführte Ende, und das hieße doch: das Verderben der Schöpfung sei nicht mehr aufzuhalten.

Ebenso ist aber denen zu widersprechen, die Nachrichten so in Umlauf bringen, als sei beruhigtes Zurücklehnen angesagt. Auch dieser Widerspruch gehört zur Verantwortung im Advent. Ich gebe zwei Beispiele. Da wird von den dafür bestellten Fachleuten, den „Weisen“ im Lande, für das kommende Jahr ein höheres Wirtschaftswachstum vorausgesagt. Das klingt in den knappen Nachrichten so wie vor Jahren schon. Es geht also wieder aufwärts, Wachstum ist doch noch möglich. Die beklemmende Voraussage seit den frühen 70er Jahren, das Wachstum sei an seine Grenzen gekommen, wird abermals überhört. Sie drohen ohne Folgerungen für politische Entscheidungen zu bleiben. Weiterhin nähren solche Wachstumsvoraussagen die Erwartung dauerhafter Entwicklungen, die auch späteren Generationen zugute kommen. Eben diese Erwartung ist aber längst und wird aktuell zum Jahrtausendwechsel von Zukunftsforschern erneut ernsthaft angezweifelt. Es sieht mit den Frischwasserreserven der Welt, mit der Fruchtbarkeit des Agrarlandes und der Umweltbelastung der Wälder weltweit, mit den Fischbeständen der Meere und den Vorräten an Rohstoffen alarmierend schlecht aus. Unverantwortliche Ausbeutung steht dauerhafter Entwicklung besserer Lebensverhältnisse entgegen. Wer also heute von Wirtschaftswachstum in unserem Land spricht, ist zu fragen, ob es wirklich frei von weiterer unverantwortlicher Schöpfungsbelastung erzielt werden wird. Was kostet der notwendige, aber heilsame Verzicht auf Ausbeutung? Was bedeutet solcher Verzicht für den Lebensstil? Das gehört zu den Fragen im Advent.

Das zweite Beispiel ist ebenso aktuell: Viele Menschen in unserem Land haben im Sommer sehr viel Geld für die Flüchtlinge im Kosovo gegeben. Zahlreiche Kirchengemeinden tun es weiter für Aufbauprojekte in dem zerstörten Land, die langfristig Rückkehr und Lebensmöglichkeiten aller Flüchtlinge eröffnen sollen. Die kirchlichen und anderen Hilfsorganisationen mit Erfahrungen vor Ort melden unzweifelhaft, vor dem Winter können nicht mehr Flüchtlinge ins Land kommen, als jetzt schon zurück sind. Die Diakonie verantwortet mit dem Geld der Kirchengemeinden wirkungsvoll eigene Wiederaufbauprojekte in verschiedenen Landesteilen des Kosovo. Dennoch urteilte der Bundesinnenminister im Herbst: Rückkehr ist möglich, jetzt. Die Innenministerkonferenz erklärte daraufhin Ende Oktober die Aufenthaltsbefugnis der im Kontingent aufgenommenen Kosovoflüchtlinge für beendet. Die einzelnen Länder versandten Briefe an die Flüchtlinge mit der Aufforderung, innerhalb von vier Wochen auszureisen und in ein Land zurückzukehren, in dem sie allermeist dem Winter schutzlos ausgeliefert sein werden. Ihnen drohe zwangsweise Abschiebung, wenn sie unser Land nicht verlassen. Die Diakonie hat in ihrer Flüchtlingsarbeit keine Lösung des Widerspruchs zwischen der Kenntnis von der Lage im Kosovo und ihrer Einschätzung durch die Minister gefunden. Deshalb hat sie zusammen mit anderen Hilfsorganisationen in der Öffentlichkeit darum gebeten, dass die Flüchtlinge den Winter über noch bei uns im Land bleiben dürfen und erst ab dem nächsten Frühjahr freiwillig zurückkehren sollten. Wir sind froh, dass die Innenministerkonferenz vor einer Woche ihre Beschlüsse von Ende Oktober geändert und der Bitte der Diakonie und anderer entsprochen hat. Erst im Frühjahr 2000 sollen die Flüchtlinge ins Kosovo zurückgeführt werden.

Keiner darf sich mit Einschätzungen von Politikern zufrieden geben, die auf Schutz angewiesene Flüchtlinge wie eine Bedrohung des öffentlichen Lebens erscheinen lassen. Auch dagegen anzugehen, gehört zur Verantwortung im Advent.

Im Lied „Alle Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu“ heißt es: „Treib aus, o Licht, all Finsternis, ...und reich uns Tag und Nacht dein Hand, zu wandeln als am lichten Tag, damit, was immer sich zutrag, wir stehn im Glauben bis ans End und bleiben von dir ungetrennt.“ (Vers 3 – 4)

Erleben wir uns getröstet und zur Verantwortung neu befreit, dann erkennen wir darin auch etwas von der Schöpferkraft Gottes. Beides, Trost und die Kraft zur Verantwortung, wendet er aus der Hand zu, die in der Vision des Johannes das Buch mit den sieben Siegeln hält.

Amen.

Entscheidungen für die Predigt:

Ich habe mich für die kürzere Fassung der Perikope entschieden, um Kapitel 4 noch mitberücksichtigen zu können. Lediglich 5,6a habe ich einbezogen, um das Lamm-Motiv zur Verstärkung von 5,5 zu gewinnen. Exegetisch liegt mir an der Verbindung von 5,4. 7,17 und 21,4: So kann das zum Tragen kommen, was A. Grözinger in GPM 48, 1993 die „seelsorgerliche Dimension“ bei der Berücksichtigung des Weinens nennt. Dogmatisch leitet mich J. B. Metz‘ Verständnis des Glaubens mit seiner Leid- und Zeitempfindsamkeit sowie der Apokalyptik als „Vision von der befristeten Zeit“ (kurz zusammengefaßt in: Gotteskrise. Versuch zur „geistigen Situation der Zeit“ in: Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf 1994). Homiletisch lege ich entsprechend den Akzent auf die Verbindung von Trost und Verantwortung.

Henry von Bose, Kirchenrat
Klopstockweg 13, 72076 Tübingen
e-mail: vonBose.H@diakonie-wuertemberg.de


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