Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Ewigkeitssonntag
21. November 1999
Lukas 12, 42-48

Elisabeth Tobaben

Liebe Gemeinde!

Der November ist schon ein ganz besonderer Monat: entweder begegnet er uns mit strahlend blauem Herbsthimmel - oder er wirft uns in ein nebligtrübes, naßkaltes "Novemberwetter" .

Da gibt es das warme Licht auf leuchtend gelben Resten von Herbstlaub - und zugleich zermatschte Blätter auf glitschigen Straßen und Fußwegen, den ersten Frost, verfrorene Blumen..

Und es gibt die Reihe von Gedenk- und Erinnerungstagen im November, angefangen mit dem kath. Allerseelenfest über den staatlichen Volkstrauertag und den vielumstrittenen Buß- und Bettag bis heute, den Totensonntag oder Ewigkeitssonntag.

Und zugleich sind in diesen Wochen bereits überall weihnachtlich geschmückte Schaufenster zu sehen, und in manchen Städten hängt sogar schon der Weihnachtsschmuck über den Straßen.

Einerseits gehen die Gedanken in dieser Zeit oft zurück in die Vergangenheit, weilen vielleicht bei denen, die heute nicht mehr unter uns sein können.

Viele gehen heute Nachmittag auf den Friedhof, zu den Gräbern von Menschen, mit denen sie besonders verbunden waren.

Andererseits kommen sie anschließend womöglich an schon hell erleuchteten Tannenbäumen vorbei, essen vielleicht Lebkuchen und Weihnachtskekse zum Kaffee.

Kein Wunder, wenn sich gerade um diese Zeit im Jahr so viele Menschen in ein erhebliches Stimmungswirrwarr gestürzt vorfinden!!

Da ist es gut, dass wir uns an einem Sonntag wie heute einen Moment Zeit nehmen, um innezuhalten.

Wir haben unser Andenken sichtbar gemacht, haben Kerzen angezündet für die Verstorbenen des letzten Jahres aus unserer Gemeinde...

Innehalten werden einige von der nächsten Woche an auch wieder beim Fasten .

Zum Innehalten und Besinnen ruft uns auch der Bibeltext auf, der uns heute morgen zum Nachdenken vorgeschlagen ist.

Es ist ein Gleichnis, das verstärkt wieder zur Verantwortung zurückruft:

Lesung: Lukas 12,42-48

Wie kommen wir mit so einer Geschichte klar - gerade in der beschriebenen Stimmung dieser Jahreszeit und des Ewigkeitssonntags?

Gucken wir uns den Text darauf hin noch einmal an.

Jesus vergleicht seine Jüngerinnen und Jünger ganz einfach mit einem Verwalter.

Eigentlich eine ganz klare Sache, denn für diesen Verwalter kommt es nur darauf an, dass er zur rechten Zeit ordentlich und verantwortungsbewußt das tut, was sein Auftrag ist: nämlich Löhne auszahlen.

Und wenn er seine Arbeit anständig macht, wird er klug und treu genannt.

Er hat sich bewährt und bekommt eine Aufstiegschance.

Und: er wird sogar selig gepriesen dafür!

"Selig ist der Knecht, den der Herr so tun findet, wenn er kommt." (V. 43)

Glück und Zufriedenheit, ein gelungenes Leben, neue Möglichkeiten!

Aber - wie das Leben so spielt - es gibt auch die andere Situation, der Chef ist auswärts, bleibt länger weg als geplant, und schon sieht dieser Verwalter nun ganz und gar nicht ein, weshalb er ohne Aufsicht oder geeignete Kontrollinstanzen eigenständig vernünftig arbeiten soll.

Er legt sich nicht nur auf die faule Haut, wird nachlässig oder gleichgültig, nein.

Er kommt - wie man im Norddeutschen so schön sagt "an den Buddel", kriegt Alkoholprobleme, veranstaltet offenbar die reinste "Freßgelage" und - was wahrscheinlich das Schlimmste ist- er prügelt die Knechte und Mägde, für deren Versorgung er eigentlich zuständig ist!

Seine Kollegen und Kolleginnen also! Unmöglich, werden wir sagen, wie kann er nur?!

Trotzdem: das Fazit klingt schon ganz schön brutal !

Der Geschäftsinhaber kommt unerwartet doch zurück, findet das unglaubliche Chaos und die untragbaren Zustände vor - und läßt den untreuen Haushalter in Stücke hacken.

Dass der zur Verantwortung gezogen wird, das ist ja soweit schon in Ordnung.

Es leuchtet ja sofort ein, dass einer so willkürlich nicht mit ihm anvertrauten Menschen umgehen darf, aber muß man ihn deswegen gleich umbringen...? Und auch noch auf solche Weise? Auch wenn das die übliche Strafe für untreue Sklaven war?

Für mich stellt sich heute vor allem die Frage: wie können wir diese Gleichnisgeschichte eigentlich zusammenbringen mit dem Thema dieses Sonntags, mit "Tod und Ewigkeit" und den damit verbundenen Stimmungen?

Ich denke daran, wie oft Texte wie dieser als Gerichtsandrohung am Ende aller Zeiten verstanden worden sind!

So wie der Herr dieses Verwalters, hat man dann gedeutet, so ist auch Gott am Ende zu uns...

Menschen wurden in Angst und Schrecken versetzt durch Bilder der Rache und Vergeltung, von einem abrechnenden und entsetzlich strafenden Gott.

Tag der Rache, Tag des Zorns...

In der Musik z.B. in berühmten Trauermusiken - etwa dem Requiem von Verdi, Mozart o.a. - wird gerade dieser Teil besonders gewaltig auskomponiert: (kurz hineinhören:)

Verdi - "Dies irae" einspielen Satz 5. aus dem Requiem!

Tag der Rache, Tag des Zorns...

Das kann man sich vorstellen, dann ist die Welt wieder in Ordnung.

Da wird zur Verantwortung gezogen und das Recht wieder hergestellt.

Aber geht das einfach so?

Wollte Lukas diese Gleichnisgeschichte tatsächlich so zugespitzt auf eine endzeitliche Vergeltungsaktion hin erzählen?

Insofern ist die Frage vom Anfang, mit der Lukas die Geschichte einleitet, eben doch nicht ganz unwichtig.

Er läßt die Jünger fragen: Jesus, wem sagst du das eigentlich? Uns allen? Oder nur denen, die besondere Verantwortung tragen? Oder wem sonst?

Uns in allem Hin- und Hergerissensein zwischen:

- Erinnerung und Zukunftsbewältigungsstrategien,

- zwischen Trauer und (Vor) Freude;

- zwischen Angst und Hoffnung?

Das Hin- und Hergerissensein - zwischen eigenen Gefühlen und öffentlicher Stimmungsmache;

- zwischen phantastischen Träumen und nüchterner Realität;

- zwischen Lebenssehnsucht und Heilsangst macht doch schon unsicher genug!

Hin - und Hergerissensein, zerrissen vielleicht sogar manchmal, das wirft Fragen auf:

- Wo stehe ich denn in all dem, was an mir zerrt?

- Welche der beiden Seiten hat augenblicklich mehr Gewicht?

- Wer bin ich überhaupt ?

Zerrissenheit hat wohl immer auch etwas Krisenhaftes, alles ist noch offen, es kann so oder so ausgehen, kann sich hilfreich oder zerstörend auswirken, aufrichten oder niederschlagen.

Sich mitten in der Krise mit ihr und mit sich selbst auseinanderzusetzen, ist doppelt schwierig, das droht einen oft noch mehr zu zerreißen.

Wer einmal Menschen erlebt hat, die in Depressionen versunken sind und diese Welt und das Leben nur noch düster und in den schwärzesten Farben sehen können, für den sind solche endzeitlichen Horrorvisionen plötzlich ganz präsent und greifbar!

Wenn nichts mehr Freude machen kann, kein Weg aus diesen tiefen Gefühlen von Trauer und Schmerz herauszuführen scheint, dann füllen sich diese alten Bilder für mich plötzlich mit Leben.

Oder: vor mir sitzt jemand, der Nacht für Nacht vor Angst nicht einschlafen kann.

Gedanken quälen ihn, zwingen ihn, immer weiter zu grübeln und entsetzliche Selbstzweifel lassen ihn nicht zur Ruhe kommen...

Oder jemand wird von einer traumatischen Erfahrung verfolgt, nachts in Alpträumen, tagsüber mitten aus der Arbeit herausgerissen von den entsetzlichen Bildern, die klar wie in einem Film wieder im Kopf ablaufen, verschüttet im Schützengraben, überfallen, vergewaltigt, der Ablauf eines Unfalls, ein sterbendes Kind...

Tag der Rache, Tag des Zorns?

Menschen in diesen und ähnlichen Lebenssituationen erleben es längst, dieses Grauen.

Die Musik des ’Dies irae’ beschreibt Erfahrungen, die es gibt, die wohl keinem Menschen ganz fremd sein dürften.

Die Geschichte des Lukas kann in diesem Zusammenhang für mich gerade keine Drohgeschichte, sondern eine Hoffnungsgeschichte!

Sie hat für mich an einem Sonntag wie diesem das Ziel, Menschen gerade herauszureißen aus solchen qualvollen Erfahrungen, auch aus Lethargie und Depression, aus Schmerz und Verzweiflung.

Erinnern wir uns: Selig gepriesen wurde einer, der das ganz Normale tut.

Genau das, was so schwer fällt, wenn einen die Trauer noch einhüllt wie Nebel.

Man weiß eigentlich schon lange, was man tun sollte, was (wieder) dran ist.

Aber es geht nicht, irgendwie fehlt die Kraft...

Man kann sich gar nicht vorstellen, dass es auch wieder anders werden könnte, der Nebel verschwindet und die Sonne wieder scheint.

Und hier kommt in der Geschichte noch etwas Neues ins Spiel: das, was Gott uns zutraut!

"Wem viel gegeben ist, bei dem wird man auch viel suchen." (V. 48)

Gott erinnert uns damit an unsere Lebenskräfte, an das was uns geschenkt ist, von ihm geschenkt .

Gott traut uns zu, dass wir unser Leben gestalten und verantworten können.

Er wird unsere Füße auch wieder auf weiten Raum stellen, damit uns sichere uns zuversichtliche und eindeutige Schritte in die Zukunft gelingen.

Gott wird wieder Licht bringen in unsere Dunkelheiten.

Und damit schließt sich auch der Kreis des Kirchenjahres, die Gedanken an Tod und Ewigkeit bekommen einen hoffnungsvollen Schein vom beginnenden Advent her.

"Sehet, was hat Gott gegeben, seinen Sohn zum ewigen Leben.
Dieser kann und will uns heben aus dem Leid ins’ Himmels Freud".

In wenigen Wochen werden wir wieder Weihnachtslieder singen.

Die zwiespältige Stimmung wird sich vielleicht für einen Moment in festliche Freude und Klarheit wandeln.

Dass Gott selbst unser Leben, unsere Dunkelheiten und Zwiespältigkeiten geteilt hat, das kann sie aushaltbar machen, Kräfte wecken und Energien, um das Leben anzupacken-

und für ein hoffnungsvolles Lied. Darum:

"Kommt, und laßt uns Christus ehren, Herz und Sinnen zu ihm kehren.
Singet fröhlich, laßt euch hören, wertes Volk der Christenheit." (EG 39).

Amen.

Pastorin Elisabeth Tobaben
Kirchstr. 13, 37186 Moringen
Tel. 05554 - 39 06 80.


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