Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Buß- und Bettag
17. November 1999
Psalm 90

Klaus Schwarzwäller

Liebe Gemeinde,

Der Bußtag wurde als Feiertag abgeschafft. Das neue Jahrtausend steht vor der Tür. Beides gibt Anlaß zum Nachdenken darüber, was diese Abschaffung enthält und was es mit der Zeit auf sich hat. Immerhin hat es den Bußtag an die 140 Jahre gegeben, und nun wurde er sang- und klanglos aufgegeben und scheint insgesamt nur wenig vermißt zu werden. Der Beginn des neuen Jahrtausends, Jahrhunderts, Jahrzehnts und Jahres in der kommenden Silvesternacht hingegen, das ist etwas Außerordentliches. Mir drängt sich dabei eine Balkenwaage vors Auge: Der Bußtag in der einen Schale sinkt hinunter, geht dahin; umso höher steigt dafür auf der anderen Seite der Jahrtausendbeginn und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Die zahlreichen Worte, Vorbereitungen und Veranstaltungen aus Anlaß der Jahrtausendwende flüstern und flößen uns ein: »Hurra, eine neue Zeit beginnt!« und erzeugen den Eindruck, als käme nun eine andere, die gute Zeit. Buße jedoch - das haben wir hinter uns.

Ich werde dieses Bild der Waage nicht los. Es macht mir Angst. Je länger ich ihm nachsinne, desto mehr, desto erschreckender scheint es sich zu bestätigen. Denn in der Tat: Buße ist nicht »in«. Buße – das Wort läßt an Zerknirschung und Selbstanklage denken, an Demütigung und Selbsterniedrigung; damit kommen selbst die Kirchen nur noch verstohlen, wenn überhaupt. Statt dessen jedoch - Ein prominenter Politiker, wegen Steuerbetrugs rechtskräftig verurteilt, also ein Straftäter, sagte vor laufender Kamera, hierauf angesprochen: "Es sind Fehler gemacht worden." Eine der letzten Größen der DDR schilderte, vor der Kamera befragt, gewissermaßen schulterzuckend, er habe nur das Beste im Blick gehabt; doch es sei eben anders gekommen. Hier wie dort: Das war’s. Kein Wort des Bedauerns hüben wie drüben, um von Entschuldigung zu schweigen; nicht einmal eine Geste der Betroffenheit. Der eine betrügt die Steuerzahler zugunsten seiner Partei, der andere wirkt mit in einem korrupten Unterdrückungssystem – Reue, Buße? Der eine hat sich erwischen lassen, der andere hatte das Pech, daß sein System abgewickelt wurde – und? Was geht das diese Männer an? – Deutsche Politiker der Gegenwart. Der Bußtag ist und bleibt abgeschafft. Der Blick auf das Jahr 2000 gibt wenig Anlaß zu Hoffnungen.

Umso mehr zu Besorgnis. Ich werde dieses Bild der schiefe Waage einfach nicht mehr los. Der Bußtag ist abgeschafft; Skrupellosigkeit blüht. Buße ist out, feixende Abgebrühtheit ist obenauf. Das stimmt in sich nicht. Es stimmt in sich nicht, daß es wie eine Mode ist, nicht mehr zur eigenen Vergangenheit und zu den eigenen Taten - und Untaten! - stehen zu müssen, sondern sich ihnen mit Phrasen zu entziehen und damit durchzukommen, und das nicht allein in der Politik, sondern schier allenthalben. Es stimmt in sich erst recht nicht, wenn geschäftstüchtige Gewissenlosigkeit und brutales Erfolgsdenken belohnt werden und Gewissenhaftigkeit und Treue Nachteile und Nackenschläge eintragen. Und es macht bitter und resigniert, daß wir - wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen - unentrinnbar hineinverwoben sind in Zusammenhänge und Systeme, die durch kalte Skrupellosigkeit geprägt und die in ihren Strukturen unmenschlich sind. Wir hoffen zwar anders, doch im Innersten wissen wir: Das neue Jahrtausend wird daran nichts ändern. Es wird eher noch schlimmer werden.

Es liegt nicht in unserem Vermögen, das umzuwenden. Wohl aber können wir diesen Abend dazu nutzen, für uns selber die Weichen zu stellen für die neue Zeit und sie so zu stellen, daß, soviel an uns ist, die über Leichen gehende Arroganz der Mächtigen und der Möchtegern-Mächtigen ein dickes, ein solides Kontergewicht bekommt. Daß also die Buße unter uns ihren Ort zurückerhält und ihre Bedeutung und auch ihre Würde. Ja, Buße hat Würde. Denn sie läßt uns unsere Würde neu finden. Darin ist die Buße zutiefst menschlich und aufbauend. Unser Psalm läßt es deutlich werden.

Der Gott, zu dem er zu beten anleitet, ist immer schon. Er ist wie eine rettende Festung von Ewigkeit her – ehe noch der Urknall war und die Erde sich aus kosmischem Staub zusammenklumpte und wir Menschen uns aufrichteten. Auch die Erde kann wanken, und dieses Jahr hat erschreckend darüber belehrt.

Gott bleibt.

Wir nicht. Das ist die Kehrseite. Wir bleiben nicht. Er läßt uns sterben, er ruft uns zurück aus dem Leben. Ja, Gott ist es, der uns sterben läßt, er, der den Tod ausschickt. Er – nicht das Schicksal und auch nicht die Henker und Schergen und Teufel, die da Schicksal spielen und die uns von Gott anvertraute Macht so himmelschreiend mißbrauchen. Gott – indem ich das sage, denke ich an den letzten Monsun in Ostindien, der auch dann katastrophal gewirkt haben würde, wenn die Behörden die Sturmwarnung ernst genommen und Vorsorgemaßnahmen ergriffen hätten; ich denke an die in den Fluten umgekommenen Tausende und frage: - Gott? Er? Einsicht und Antwort dieses Gebets - und es sagt sich nicht leicht: Ja, Gott. Vor ihm sind wir, wie wir im All sind, und haben wir die entsprechende Größe: winzig. So winzig, daß 1000 Jahre – die Zeit von 30 Generationen! – vor ihm wie ein rasch verflogener Tag sind, wie eine Nachtwache. Was zählt das schon –

Eine durchwachte Nacht kann unendlich lang sein! Und unsere gesamte Lebenszeit sollte vor Gott nicht zählen? Wenn nicht vor ihm, wo und vor wem dann? Wenn selbst nicht vor Gott, - dann müssen wir uns selber Bedeutung verschaffen und uns wichtig machen. Dann müssen wir mitspielen, aktiv mittanzen im "Tanz der Vampire" um Geld und Macht und Erfolg. Doch es ist gerade umgekehrt: Weil einzelne Stunden nicht vergehen wollen und doch unsere Lebenszeit davoneilt wie ein fliegender Vogel, denn wir sind winzig: darum haben wir allen Grund, unsere Tage und Jahre, die uns gewährte Zeit, zu nutzen und zu verkosten, statt sie zu vertun. Haben wir zumal allen Grund, uns auf den zu besinnen, der da ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und der, wie winzig wir auch sind, Interesse nimmt an uns, leidenschaftliches Interesse.

Wir merken es - jedenfalls indem wir uns vom Psalm anleiten und die Augen öffnen lassen - ganz unmittelbar, und zwar zunächst einmal negativ. Das nämlich ist die Aussage, die message dieses alten Gebets: Unheil und Verderben unter uns und insbesondere den massenhaften Tod und seine Schrecken und seine lähmende Sinnlosigkeit wirkt Gott. In seinem Zorn läßt er uns unsere eigenen Wege gehen und verzichtet ingrimmig darauf, uns auf ihnen zurückzuhalten. Wir wollen, daß die Waagschale der Buße fällt und die der Gewissenlosigkeit emporsteigt? Nun, so sollen wir es auch so haben – und wir haben es in einem Maß, das uns grauen läßt. Wir wollen ohne ihn sein und leben? Nun, so sollen wir es auch, doch unsere Lebenswelt hat mit Gott zugleich Halt und Sinn, Ziel und Werte verloren und taumelt, immer schneller strudelnd, wie irre – und in die Irre. Rummel und Glanz um die Jahreszahl 2000 mögen das für eine Weile zudecken. Doch ich fürchte, die Böller und Raketen in der Silvesternacht müssen ganz viel Angst übertönen, begründete, berechtigte Angst –

Buße beginnt mit der Einsicht: "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig...": Das ist das Menschenmaß. Siebzig, auch achtzig Jahre: Wir haben die Möglichkeit, die uns gewährte Zeit zu füllen und zu gestalten - als Menschen und in den Grenzen unserer Fähigkeiten. Siebzig, achtzig Jahre haben wir Frist zu Recht und Wahrheit. Siebzig, achtzig Jahre haben wir Frist, unsere Endlichkeit zu akzeptieren, statt sie in Frage zu stellen mit Projekten und Plänen, die unsere Grenzen überschreiten. Siebzig, achtzig Jahre haben wir Frist, uns darauf zu besinnen, wem wir gehören und auf wen oder was wir hören. Siebzig, achtzig Jahre haben wir Frist, uns unserer Schuld und unseres Unrechts bewußt zu werden und

Buße zu tun. Mit einem Wort: Siebzig, achtzig Jahre sind uns gewährt, als Geschöpfe Gottes zu leben, also Gottes Gebot zu halten, in Liebe zu handeln und mit Umsicht zu wandeln vor Gottes Angesicht (Mi. 6,8b).

Ich habe Sehnsucht nach dieser Buße. Denn ich habe Sehnsucht danach, daß der Waagebalken nicht noch weiter sich verdreht, sondern daß er zurückschwingt in ebene Lage. Ich habe Sehnsucht danach, daß an die Stelle von Arroganz und Gewissenlosigkeit Umsicht tritt und Bescheidenheit und insbesondere dies, daß man zu Fehlern und Vergehen steht - und stehen kann, ohne deswegen in die Pfanne gehauen zu werden. Kurz, ich habe Sehnsucht danach, daß es menschlich zugeht unter uns. Danach, daß an die Stelle von shareholder value und Erfolg, von Sorge um Einfluß und um den Eingang der Kirchensteuern, von Berechnung und doppelzüngigem Taktieren; daß an die Stelle von alledem das trete, was sich so leicht dahersagt und doch so kostbar ist: - Menschlichkeit. Menschlichkeit - wo wir einem Menschen begegnen und aufatmen können, da haben wir etwas von dem erfahren, was "Menschlichkeit" meint. Wo jemand redlich zu seinem Tun und auch zu dem steht, was ihm die Schamesröte ins Gesicht treibt, da können wir durchatmen: Hier wurde der unmenschliche Teufelskreis von Lüge und Brutalität durchbrochen. Mit einem solchen Menschen kann man zusammenleben.

Ich bin sicher: Das ist nicht meine Sehnsucht allein, auch wenn manche das Wort "Buße" stören wird. Viele sehnen sich nach einer menschlichen Welt und träumen von ihr. Nach einer Welt, in der Krankheit und Leid nicht in erster Linie als Versagen oder Kostenfaktor geächtet und zugleich um jeden Preis bekämpft werden, sondern - es klingt so altmodisch! - angenommen und gemeinsam getragen. So daß also Menschen nicht unter den Zwang geraten, ein Kind im Mutterleib, dessen genetische Ausstattung eine Krankheit als möglich erwarten läßt, vorzeitig zu beseitigen - ein solcher Mensch würde eine Last sein und Geld kosten. Nach einer Welt, in der ich mich nicht als Depp oder als Versager zu fühlen brauche, wenn ich nur kleine Brötchen backe oder weil ich etwas versehen habe. In einer solchen Welt kann ich dazu stehen, nicht nur unvollkommen, sondern fehlerhaft zu sein bis hin zur Fragwürdigkeit meiner Person, ja meines Charakters. In ihr darf ich - Mensch sein, so wie ich’s bin: beschränkt, unvollkommen, womöglich krank, für meine Mitmenschen nicht nur Freude, sondern auch Last, schuldig werdend, vor Gott und seinem Gebot versagend und ständig versucht, das alles durch Überheblichkeit zu kompensieren.

Bußtag als Gelegenheit, hieran zu denken, es zu begreifen und diesen Abend zu nutzen, uns auf den Weg zu machen - den Weg zur Menschlichkeit. Das ist nicht der Weg der Vorsätze, der Projekte oder der moralischen Anstrengungen. Es ist ein Weg der Besinnung, der Besinnung darauf: Wir sind Gottes Kreaturen. Als diese haben wir unsere Menschlichkeit. Als diese haben wir Maß und Ziel. Als diese haben wir das Recht zu menschlichem Leben, sind wir also weder Verbrauchsmaterial der Mächtigen noch selber Möchtegerngötter. In alledem finden wir unsere Würde und erweist sich die Würde der Buße.

Vor allem aber haben wir als Gottes Geschöpfe einen uns zugewandten Schöpfer, uns leidenschaftlich zugewandt, verkörpert und verbürgt in Jesus Christus. Darum haben wir das Recht zu Gebet und Bitte und das Vorrecht, von Gott Hilfe zu erwarten. So lassen Sie uns den Weg der Buße, also den Weg der Rückkehr zu Gott und zu unserer Menschlichkeit; lassen Sie uns diesen Weg einschlagen und in Anlehnung an die Bitten des Psalms unsererseits bitten:

Laß uns einsichtig werden und annehmen
die Enge der Grenzen, die du uns ziehst;
damit wir Menschen seien.
Laß uns nicht dahingehen
in Kummer und Schuld;
verachte nicht unser kleines Leben,
sondern schenke uns Freude und Jubel!
Laß uns erfahren -
ein Stück nur, Herr,
doch erfahren, spüren - :
Du gibst die Schuldigen nicht preis
und bewahrst im Versagen.
Gewähre Stärke und Gelingen.
Halte zusammen, was uns zerrinnt,
zerrinnt unter unseren Händen.
Schenke uns zähe Beharrlichkeit,
bewahre uns vor Müdigkeit und Resignation.

Und der Herr unser Gott, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, der aus Liebe zu uns sich an unsere Seite stellte und ans Kreuz schlagen ließ: er fördere unsere Schritte. Ja, unsere Schritte wolle er fördern.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller, e-mail: kschwar1@gwdg.de


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