Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres
7. November 1999
Lukas 11, 14-23

Jürgen Jüngling

1.Haben Sie auch manchmal das Gefühl, daß sich eine richtiggehend depressive Grundstimmung unter uns breitmacht? Neulich habe ich jemanden sogar von „Depri-Inflation“ reden hören. Und der November mit seinem Wetter, seiner frühen Dunkelheit und den bevorstehenden „traurigen“ Sonntagen trägt das Seine dazu bei. Da möchte man sich manchmal am liebsten zurückziehen, unter der Decke verkriechen und nichts sehen und hören.

Aber in unserem Inneren wissen wir natürlich: Das geht wieder vorbei. Spätestens wenn in den Innenstädten die Adventsbeleuchtungen angehen und zu Hause die ersten Weihnachtssterne blühen, dann fühlen wir uns schon wieder ganz anders. Außerdem haben wir noch nicht endgültig die Hoffnung aufgegeben, daß eines Tages die Arbeitslosenzahlen wieder stärker sinken und die Wirtschaft wieder kräftiger wachsen werden. Im Grunde finden wir uns ab mit dem Wechsel von mageren und fetten Jahren, von guten und schlechten Zeiten.

Schlimm jedoch ist es für die, die aus ihrem dunklen Loch niemals herauskommen, die so in sich gefangen sind, daß sie den Kontakt nach außen verloren oder nie richtig gehabt haben. Schlimm ist es für die, die weder sich selbst etwas trauen oder zutrauen noch den anderen über den Weg trauen. Die kapseln sich ab, fühlen sich von allen guten Geistern verlassen und hätten es doch lieber ganz anders.

2. So ähnlich haben wir uns jenen Mann vorzustellen, von dem es heißt, daß Jesus ihn von einem bösen Geist befreit hat: Stumm geworden gegenüber Leben und Menschen, isoliert in Nachbarschaft und Familie, unverstanden von denen, die ihn kannten, eingemauert in versteinerter Traurigkeit. Und dann kommt einer daher, der das nicht mehr mit ansehen kann, der sich auf den Mann einläßt und ihm schließlich hilft, die Zunge zu lösen und das Herz zu öffnen. Wir wissen nicht, wie das geschah, aber das ist ja bekanntlich bei manchen Hilfen so. Wichtig ist: der richtige Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort, das treffende und das befreiende Wort, der offene Blick und die Gewißheit: Der meint es so, wie er es sagt. Und unser Mann läßt sich auf ihn ein, sieht plötzlich wieder eine Perspektive vor sich, findet seine Sprache wieder, so daß sich alle nur wundern können. Von solchen Situationen träumen wir. Deshalb nennen wir sie "Wunder" - damals bei Jesus, aber auch sonst oft genug im Leben. Wunder gibt es eben immer wieder -Gott sei Dank

Aber das mit „Gott sei Dank“ scheint in der geschilderten Situation nicht so klar zu sein, jedenfalls nicht für die Umstehenden. Und damit bewegt sich die Geschichte gewissermaßen auf eine zweite Ebene zu: Eben noch hatte der Mann mit dem bösen Geist im Mittelpunkt gestanden, sein Schicksal, sein Ergehen und seine gründliche Besserung. Das wäre schon Stoff genug zum Erzählen gewesen. Aber nun drängt sich auf einmal eine ganz andere Frage in den Vordergrund, nämlich die nach der Rolle Jesu. Er soll sich legitimieren, soll Rechenschaft über sein Reden und Tun ablegen, soll schlüssig die Frage beantworten: In wessen Namen tust du so etwas? Für die Umstehenden ist nämlich klar: Er kann nur mit dem Teufel im Bunde stehen. Er treibt Böses mit Hilfe des noch viel Böseren aus. Diesen Vorwurf kennen wir – bis auf den heutigen Tag – aus mancherlei Zusammenhängen; und oft ist ja auch etwas Wahres dran. Aber mit dieser Unterstellung stand natürlich Jesu gesamte Rolle und Sendung auf dem Spiel, auf Messers Schneide sogar.

Und deshalb wird es jetzt noch ein weiteres Mal spannend in der Geschichte. Wie wird er reagieren? Daran entscheidet sich alles. Schnell wird klar, daß er diesen ungeheuerlichen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen kann. Er begründet das übrigens ausgesprochen logisch: Wäre es wirklich so, daß er mit dem Teufel paktierte, dann würde dieser sich ja freiwillig seiner Macht und seines Einflusses begeben. Das aber kann nicht sein, denn das Ziel des Bösen war und ist es ja, immer mehr zu binden und zu knebeln und zu versklaven. Auch das kennen wir aus manchen Zusammenhängen. Jesus aber hatte soeben das genaue Gegenteil dessen getan. Er löst die unseligen Bindungen, befreit von Ihnen, läßt den Mann wieder durchatmen. Kann das das Ziel des Bösen sein? Nie und nimmer! Also – so die logische Folgerung: Jesus kann nur im Namen eines ganz anderen handeln, eines, der stärker ist als Tod und Teufel zusammen. So liegt es auf der Hand: Er handelt im Namen Gottes, der von Anfang an das Leben seiner Menschen will – möglichst volles, möglichst offenes und ungeteiltes Leben, Leben ohne Zwang. Insofern leuchten Gottes Reich, Gottes Wille, Gottes Herrschaft auf im Reden und im Tun dieses Mannes aus Nazareth. Und wenn der Teufel noch so stark ist, Jesus ist der Stärkere, hat ihn entmachtet, hat ihm – wie es in der Erzählung heißt – sogar seine Rüstung weggenommen. Im Gesangbuch steht deshalb triumphierend:

„Jesus ist kommen, der starke Erlöser,
bricht dem gewappneten Starken ins Haus,
sprenget des Feindes befestigte Schlösser,
führt die Gefangenen siegend heraus.
Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser?
Jesus ist kommen, der starke Erlöser.“ (66,3)

Wie schon gesagt, es geht in dieser Geschichte um die Rolle Jesu. Die aber wird nun ganz deutlich, ist förmlich mit Händen zu greifen: Er soll und er will den Willen Gottes zum Ausdruck bringen – uns Menschen zum Wohl und zum Heil.

3. Ich lenke noch einmal den Blick zurück, bevor ich zu dem - überraschenden - Schluß der Geschichte komme: Zu Beginn wird die wunderbare Errettung eines Menschen durch Jesus geschildert. Einer, der von sich selbst und anderen längst abgeschrieben war, kehrt in den Alltag zurück. Dieses Geschehen löst eine Diskussion über die Rolle Jesu aus; und er selbst ist es, der scharfsinnig nachweist: Er ist nicht des Teufels, sondern er handelt im Namen Gottes. Gut dran ist der, der das erkennt und für sich gelten läßt. Damit könnte der Evangelist Lukas seine Geschichte beschließen. Doch er beendet sie so ganz anders:

„Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ (Vers 23)

Warum gerade dieses Wort?
Meines Erachtens nimmt der Evangelist Lukas damit noch eine dritte Ebene in den Blick, nämlich die Ebene derer, die sich künftig an diesen Jesus von Nazareth halten möchten. Auch da gibt es nämlich – ebensowenig wie bei Krankheit oder Gesundheit oder wie bei Satan oder Gott – kein Sowohl – Als auch, kein Wischiwaschi, sondern nur ein klares Entweder – Oder. Lauheit und Enthaltung haben im Selbstverständnis der Christen keinen Platz, sondern: „Es gilt ein frei Geständnis in dieser, unserer Zeit“. Wer den Weg Jesu bejaht und sich an ihm orientiert, der wird ihn auch gehen. So einfach ist das – und in der Wirklichkeit doch oft so schwer.

Das aber hat Konsequenzen für den Weg der Christen und führt uns zunächst alle zurück an den Anfang der Geschichte mit der wunderbaren Errettung. Denn an der Stelle, an der eben noch Jesus gestanden hat, stehen nun wir, die wir ihm nachfolgen möchten. Und die Fragen von damals gelten uns: Wie gehen wir um mit den bösen Geistern, die heute genauso virulent wie damals sind? Wie verhalten wir uns denen gegenüber, die nicht mehr weiter wissen und in sich selbst gefangen sind? Wir stehen wir zum nahen oder auch zum fernen Nächsten? In wessen Namen handeln und reden wir – im Namen des Bösen oder im Namen Gottes? Das alles sind sicher sehr grob gerasterte Fragen, und die Antworten sind im konkreten Fall oft schwer zu geben. Vor ihnen haben Christen immer schon gestanden. Vielleicht hilft es weiter, darauf zu hören, wie der Apostel Paulus mit dieser Problematik umging. Er hat es einmal – abgekürzt – so ausgedrückt: Seht zu,

„damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ (Römer 12,2).

Gottes Wille also als Maßstab für unser Leben – es lohnt sich, darauf zu hören und danach zu tun.

Amen.

Bemerkungen zum Text

Der Text ist Bestandteil des zweiten Hauptabschnittes im Lukas-Evangelium. Dieser ist bekannt als der sogenannte „Lukanische Reisebericht“, denn er schildert die Begebenheiten und Äußerungen Jesu auf seinem Weg von Galiläa im Norden des Landes in die Hauptstadt Jerusalem, wo sich sein Schicksal entscheiden wird.

Den Text empfinde ich – trotz seiner großen inneren Spannung – auf das erste Lesen hin als eher spröde und diffizil. Deshalb entscheide ich mich dafür, seine drei wesentlichen Hauptebenen, bzw. Schritte herauszuarbeiten und gemäß der vorgegebenen Abfolge zu behandeln:

  • die Wunderheilung
  • die Frage nach der Rolle Jesu
  • die Frage nach der Rolle der Christen.

Ich setze ein bei den unterschiedlichen Depressiv-Erfahrungen von Zeitgenossen und versuche von daher, die Situation und die wunderbare Genesung des ehemals Stummen zu charakterisieren.

Von da ist ein nahezu logischer Schritt (und eine entsprechend dramatische Weiterentwicklung der Erzählung), nach dem Maßstab von Jesu Handeln zu fragen: im Namen des Bösen oder im Namen Gottes? Hier scheint mir die „Schaltstelle“ des Textes zu liegen.

Auf diesem Hintergrund ist es folgerichtig, in einem weiteren Schritt nach Rolle und Handeln der Christen zu fragen. Um dabei nicht zu sehr im allgemeinen zu bleiben, füge ich als Kriterium den paulinischen Gedanken ein zu prüfen, „was Gottes Wille ist“ (Römer 12,2). Diese permanente Prüfung aber sind wir aber schuldig – Gott, der Mitkreatur und uns selbst.


Oberlandeskirchenrat Jürgen Jüngling
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, Landeskirchenamt
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