Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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21. Sonntag nach Trinitatis
24. Oktober 1999
Matthäus 10, 34-39

Georg Plasger

„Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ (Mt 10,34-39)

Liebe Gemeinde,

wer diese harten Worte aus dem Evangelium hört, der hat es schwer, denen etwas entgegenzuhalten, die immer schon auf die negativen Wirkungen des Christentums und vielleicht sogar aller Religion verweisen. „Die Religion bringt Kriege hervor, die ganze Geschichte zeigt, wie sehr Blutvergießen gerade durch die Christenmenschen und ihre Vertreter in die Welt gebracht wurde.“ So höre ich es immer wieder, sei es als ernstgemeinte Frage, an der Menschen verzweifeln können oder sei es auch nur aus einer Biertischlaune heraus oder vielleicht sogar nur, um herauszufordern. Egal – dahinter steckt eine ernsthafte Frage. Und vielleicht stellen Menschen die Frage nicht ganz so deutlich, weil sie auch gar nicht wagen, sie zu stellen.

Ist das Christentum nicht von seiner Wirkung her letztlich negativ, die Welt negativ beeinflussend? Kriege verursachend oder doch zumindest fördernd?

Wer die Geschichte der Kirche kennt, wird sich hüten, zu schnell von den positiven Wirkungen zu erzählen, die die christliche Kirche verursacht hat. Nicht, daß da gar nichts berichtet werden könnte – aber damit läßt sich nun einmal der christliche Glaube, das Christentum nicht rechtfertigen. Selbst mit ihren besten Werken und selbst mit einer sehr gut arbeitenden Diakonie kann die Kirche sich selbst nicht begründen. Dafür gibt es eben auch die anderen Seiten, die immer wieder dem christlichen Glauben vorgehalten werden können – und vorgehalten werden.

Und wenn wir, diese Fragen im Hinterkopf - diese Fragen von anderen, die vielleicht auch ein bißchen unsere eigene Fragen sind - wenn wir damit den Bibeltext hören, dann kann uns das Grausen kommen. Denn: Hat denn Jesus in diesem Abschnitt nicht genau das gesagt, genau das angekündigt, was an Schrecklichkeiten eingetreten ist? Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Grausamer geht es ja nicht. Was machen wir mit solchen biblischen Aussagen? Tun wir sie beiseite, nach dem Motto: Es gibt ja auch andere Bibelstellen, wo von Frieden die Rede ist, an die wollen wir uns halten. Und an diese Stelle eben nicht, die ist uns zu grausam. So verfahren wir immer wieder gerne. Das, was uns passt, nehmen wir uns heraus, und das, was uns nicht passt, übergehen wir gerne. Aber das ist kein guter Rat. Denn damit basteln wir uns unseren christlichen Glauben selber und zimmern uns letztlich unseren eigenen Gott. Also: wir werden, wenn wir denn ernsthaft bei der Sache sind, uns schon auf diese harten Worte einlassen müssen.

Schauen wir also einmal genau hin, was da gesagt wird.

Es ist wahr, Jesus redet hier vom Schwert. Aber damit ist nicht das Schwert auf dem Schlachtfeld gemeint, sondern es geht, wie im weiteren Verlauf deutlich wird, um Trennungen. Ein Schwert trennt, schneidet durch. Darauf wird Bezug genommen. Es geht nicht um die tötende Wirkung des Schwertes, in der Tat, das kann ein Schwert ja auch, aber hier geht es um die trennende Funktion. Das, was sich hier im ersten Vers unseres Abschnittes gegenüber steht, ist nicht: Krieg und Frieden, sondern Friede und Trennung. „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern die Trennung.“ Die Alternative ist Friede oder Trennung. Die Alternative kennen wir aus anderen Zusammenhängen wohl auch. Es gibt Ehen, die in einer Phase stecken, wo man geneigt ist, eine Trennung einem letztlich unfriedlichen Zusammenleben vorzuziehen. Der Friede, vielleicht den Kindern zuliebe, der äußere Friede, der in Wirklichkeit im Inneren nicht existiert, ist zuweilen ein fauler Friede. Hier kennen wir die Wahl – und da kann Trennung manchmal der bessere Weg sein, wenn alle anderen friedensstiftenden Maßnahmen versagt haben.

Wenn wir mit dieser Möglichkeit des faulen Friedens unseren Vers noch einmal bedenken, dann heißt es: „Ich bin nicht gekommen, faulen Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, faulen und falschen Frieden zu bringen, sondern die Trennung.“

Aber was ist das denn in dieser Hinsicht: ein fauler oder falscher Friede, gegen den Jesus sich wehrt. Wann ist denn ein Friede falsch?

Das wird im weiteren Abschnitt von Jesus ganz genau erläutert. „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ (Vers 37)

Das „mehr“ ist hier das entscheidende Wort. Es geht in unserem Abschnitt um Entscheidungen, die vollzogen werden müssen, aber in der Gefahr stehen, nicht vollzogen zu werden. Es gibt, so Jesus, die Möglichkeit und vielleicht sogar die Notwendigkeit zu Entscheidungen. Wenn jemand vor der Frage steht, welcher Autorität in letzter Hinsicht zu folgen ist, dann, so Jesus, muß es eine Entscheidung geben. Aber wann ist das? Wann gilt es, eine Trennung zu vollziehen, und wann, gerade das nicht zu tun?

Es fällt auf, daß Jesus hier allgemein bleibt und keine konkreten Situationen benennt. Daß er uns und keinem anderen vorschreibt, wann eine Trennung von den Eltern zu erfolgen hat oder von den Kindern.

Es gibt diese Aufforderungen zur Trennung, zur Wahl zwischen dem Weg des Gehorsams und Treue Jesus gegenüber und dem Weg, der als Weg des Ungehorsams zu sehen ist. Von drei Konkretionen will ich Ihnen erzählen.

Da ist zum einen Jesus selber. Seine Familie hält nichts vom Weg Jesu. Akzeptiert nicht, daß er als Wanderprediger auftritt und Jünger um sich sammelt. „Er ist von Sinnen“ (Mk 3,21), er ist verrückt, er spinnt – so sagen sie sich. Und weil es ihr Sohn bzw. Bruder ist, wollen sie ihn nicht einfach gewähren lassen, sondern wollen ihn bewegen, von seinem Weg zu lassen. Während er – so berichtet das Markusevangelium – mit Schriftgelehrten spricht, kommen Mutter und Geschwister Jesu zu ihm und lassen ihn rufen. Also: wollen ihn aus seiner Tätigkeit herausholen zurück in die Familie. Sie wollen nicht nur einfach zu ihm kommen und mit ihm reden, sie wollen ihn aus dem Gespräch, aus seiner Tätigkeit herausholen. Und dann wird Jesus deutlich: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“ Jesus distanziert sich hier von seiner Familie, nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern in einer Situation, in der die Familie von Jesus erwartet, daß er nicht Gott, sondern ihr folgt. Die Familie hält natürlich Jesu Weg nicht für Gottes Weg und kann darum auch Jesu Argumentation kaum verstehen. Aber darum geht es nicht. In Situationen, in denen nach einer Entscheidung gefragt wird, kann man dieser Entscheidung nicht ausweichen, ohne seinen Weg zu verraten. Das also ist die erste Konkretion: Jesus selber hat so gelebt, wie er es hier verkündet. Zu anderen Zeiten ist sein Umgang mit der Familie anders gewesen, so steht Maria auch unter dem Kreuz – ihr scheint Jesu Weg einsichtiger geworden zu sein. Aber am Anfang der Tätigkeit Jesu ist das noch anders.

Die zweite Konkretion ist der Blick hin zur Reformation. Die Reformatoren, egal ob Luther oder Zwingli oder Calvin, haben die Trennung von der römisch-katholischen Kirche nicht erstrebt, nicht gewollt. Vielmehr haben sie das Ziel gehabt, die Kirche zu reformieren, wieder auf den rechten Kurs zu bringen. Oder anders gesagt: Sie haben aufgrund ihrer Erkenntnis der Bedeutung der Rechtfertigungsbotschaft und der Eindeutigkeit der Bibel zu ganz bestimmten Konsequenzen aufgefordert. Sie haben die Trennung von der römisch-katholischen Kirche nicht gewollt, aber sie haben sie durchaus in Kauf genommen. Denn in der familia dei, in der Familie Gottes, wie die Kirche immer wieder genannt wird, gilt das Gleiche wie in der normalen Familie: Auch dort gilt, daß in den Fällen, wo der Gehorsam Gott gegenüber auf dem Spiel steht, eine Entscheidung und damit eine Trennung vollzogen wird.

Ich nenne eine dritte Konkretion, die etwas ausführlicher. Helmuth James Graf von Moltke, geboren 1907, gehörte zu den Gegnern des Nationalsozialismus und sammelte den Kreisauer Kreis um sich. Er wurde im Januar 1944 verhaftet, weil er einen Freund vor dessen bevorstehender Inhaftierung warnte. Am 23. Januar 1945 wurde von Moltke hingerichtet. In einem Brief vom 11. Januar 1945 schreibt er an seine Frau über seinen Prozeß: „Das Dramatische an der Verhandlung war letzten Endes folgendes: in der Verhandlung erwiesen sich alle konkreten Vorwürfe als unhaltbar, und sie wurden auch fallengelassen. Nichts davon blieb. Sondern das, wovor das Dritte Reich solche Angst hat, daß es fünf ... Leute ... zu Tode bringen muß, ist letzten Endes nur folgendes: ein Privatmann, nämlich Dein Mann, von dem feststeht, daß er mit zwei Geistlichen beider Konfessionen, ohne die Absicht, irgend etwas Konkretes zu tun, und das ist festgestellt, Dinge besprochen hat, ‚die zur ausschließlichen Zuständigkeit des Führers gehören‘. Besprochen war: nicht etwa Organisationsfragen, nicht etwa Reichsaufbau ..., sondern besprochen wurden Fragen der praktisch-ethischen Forderungen des Christentums. Nichts weiter; dafür allein werden wir verurteilt. Freisler sagte zu mir in einer seiner Tiraden: ‚Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: wir fordern den ganzen Menschen!‘ Ich weiß nicht, ob die Umsitzenden das alles mitbekommen haben, denn es war eine Art Dialog ... zwischen F.[reisler] und mir ..., bei dem wir uns durch und durch erkannten. ... Nein, es war hier blutiger Ernst: ‚Von wem nehmen Sie Ihre Befehle? Vom Jenseits oder von Adolf Hitler!‘ ‚Wem gilt Ihre Treue und Ihr Glaube?‘ Alles rhetorische Fragen natürlich - ...“(1)

Soweit der Brief von Moltkes an seine Frau. Drei Konkretionen habe ich benannt, in denen mir deutlich geworden ist, wie in der Geschichte der Kirche dieses Wort Jesu verstanden worden ist. Wo bemerkt wurde, daß Entscheidungen getroffen werden müssen, die zur Distanzierung von wichtigen Beziehungen führen können: In der Familie, in der Kirche, im Staat. Es gibt keine Größe, keine Beziehung, keine Gegebenheit, die davon ausgenommen wäre, hier einmal in Frage gestellt zu werden. Es kann die Frage kommen, an jeden und jede unter uns: „Hast Du Deine Familie mehr lieb als mich? Hast Du Deine Kirche mehr lieb als mich? Hast Du Dein Land mehr lieb als mich?“

Aber wann diese Frage kommt, wann dieser Aufruf zur Entscheidung und damit zur Trennung kommt, das kann von außen nicht wahrgenommen oder beurteilt werden. Es ist auch nicht so, daß der christliche Glaube eine geheime Sehnsucht danach in sich habe, die Trennungen geradezu zu suchen. Nein, keineswegs. Der christliche Glaube ist nicht weltverachtend.

Wann, ob und wie uns die Frage gestellt wird, ob wir Jesus mehr lieb haben als alles andere, haben wir abzuwarten. Wir haben damit zu rechnen, daß so eine Frage an uns herankommt. Sie muß nicht in solch großen Dingen vonstatten gehen wie in unseren drei Konkretionen. Sie kann auch in kleinen Trennungen, im Loslassen von diesem oder jenem passieren. Es kann vorkommen, daß es Bereiche unseres Lebens gibt, in denen wir, so formuliert es die Barmer Theologische Erklärung, anderen Herren gehorchen. Wenn wir das erkennen, sind wir zur Umkehr aufgefordert. Im Kleinen, im persönlichen Bereich, aber auch im Großen. Das Christsein kreist nicht im Zentrum um diese Frage. Der christliche Glaube kommt nicht her und fängt nicht an mit einem „Nein“. Sondern am Anfang steht das Ja, das Ja Gottes zu uns. Aber dieses Ja Gottes kann ein Nein zu bestimmten Dingen beinhalten.

Damit bleibt der christliche Glaube ein Fremdkörper in dieser Welt, der sich nicht einfach in den Lauf der Welt integrieren läßt. Jesus Christus ist nicht ein Teil meiner Existenz, sondern er ist Haupt seiner Gemeinde und jedes Einzelnen. Wenn es in der Bibel heißt, daß die Christenmenschen ein Heimatrecht im Himmel haben (Phil 3,20), dann ist genau das damit gesagt: Von außen kommt Gott in diese Welt hinein. Und Christenmenschen wissen darum, daß dieses „außen“ alles in Frage stellen kann.

Am Anfang der Predigt stellten wir uns die Frage, ob denn nicht gerade unser hartes Wort vom Schwert, das Jesus in die Welt hineingebracht hat, Wasser auf die Mühlen derjenigen ist, die die christliche Botschaft so sehr durchwoben mit der Gewalt sehen, daß sie ihr keinen rechten Glauben mehr schenken können. So kann unser Wort verstanden werden, wenn man nicht genau hinschaut. Aber das wollen wir tun. Und gerade der letzte Vers unseres Abschnittes gibt diesbezüglich Auskunft. „Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“

Wer sein Leben findet, das heißt: Wer sein Leben gefunden hat, festhält und behalten will, der wird es nicht behalten. Wer sein Leben als seinen Besitz ansieht, den es zu verteidigen gilt, notfalls auch mit Waffengewalt, der ist nicht auf der richtigen Spur. Wer den christlichen Glauben als Habitus, als Besitz ansieht, wer immer schon Bescheid weiß, und nicht mehr fragt, was denn der Weg ist, der dem Herrn Jesus Christus angemessen ist, der wird sein Leben verlieren, der befindet sich auf der Seite derer, von denen Jesus sagt, daß sie seiner nicht wert sind.

Und wenn wir mit diesem Blickwinkel die Geschichte der Kirche durchgehen, dann sind im Namen des Gottes, der uns in Jesus Christus sein menschenfreundliches Gesicht gezeigt hat, immer dann menschenverachtende Taten erfolgt, wenn man Gott sozusagen immer schon sicher auf seiner Seite glaubte. Die Parole „Gott mit uns!“ ist so eine siegesgewisse und zugleich gottverachtende Parole.

Jesus setzt etwas dagegen: Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. Wer sich immer wieder die Frage stellt, wo der Glaube dem Herrn des Glaubens entspricht, wer den Glauben nicht als Besitz, sondern als Infragestellung der eigenen Person, des eigenen Glaubens und auch der eigenen Kirche ansieht, dem wird von Jesus Leben, himmlisches Leben verheißen. Das kann zu schmerzhaften Trennungen führen, das haben wir gehört. Aber die Trennung und der Schmerz sind nicht das letzte Wort. Das letzte Wort darf sein: Domini sumus, Wir gehören dem Herrn. Amen.

PD Dr. Georg Plasger, Göttingen

(1) Zitiert nach: Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 bis 1945. Hg. v. H. Gollwitzer, K. Kuhn u R. Schneider, München 1954, 86f. Den Hinweis auf den Brief von Moltkes verdanke ich D. Nestle, Neues Testament elementar. Texte der Verfolgten. Sprache der Liebe. Wort Gottes, Neukirchen 1980, 23.


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