Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Drittletzter Sonntag nach Trinitatis, 12. November 2000
Predigt über Hiob 14, 1 – 6, verfaßt von Karsten Matthis

Liebe Gemeinde,

in vielen Romanen, Gedichten und Theaterstücken fand die Hiob - Erzählung Eingang. Denken wir nur einmal an das Vorspiel zu Goethes Faust, in welchem Gott mit Mephisto um die Seele des Faust wettet. Der 1930 erschienene Roman „Hiob“ des österreichischen Erzählers Joseph Roth greift Motive aus gleichnamigen Buch des Alten Testaments auf. Der Roman, der auch verfilmt wurde, erzählt die Schicksalsgeschichte des osteuropäischen Juden Mendel Singer.

Mendel Singer, ein frommer und gottesfürchtiger Jude, lebt als Dorfschullehrer in dem idyllischen Städtchen Zuchnow in Ostgalizien und führt dort mit seiner Familie ein beschauliches Leben. Diese friedliche Existenz wird jäh durch eine ganze Reihe von „Hiobsbotschaften“, harten Schicksalsschlägen, zerstört. Mendels jüngster Sohn erkrankt schwer. Sein ältester Sohn Jonas wird zum Militär einberufen, was für osteuropäische Juden mit dem Glauben als nicht vereinbar galt. Sein zweiter Sohn Schemarjah flieht nach Amerika. Seine Tochter Mirjam hat eine Liebschaft mit einem Kosaken, was Mendel Singer als strenggläubigen Juden völlig inakzeptabel ist. So entschließt er sich, nach Amerika auszuwandern. Bei der Emigration in die USA muss Mendel Singer seinen kranken Sohn zurücklassen und in seiner neuen Heimat erleben, wie seine Tochter schwachsinnig wird. In New York dauern die Schicksalsschläge mit unverminderter Härte an. Seine Frau stirbt aus Trauer und Gram. Die Kette der Schicksalsschläge trifft Singer so hart, dass er den gesamten Lebensmut und letztlich seinen Glauben an den Gott Israels verliert. Er kann die Ereignisse nicht mehr als Prüfung Gottes hinnehmen. Demut und tiefe Frömmigkeit verkehren sich in Rebellion und Verzweiflung. Wie in der biblischen Erzählung tritt unerwartet eine Wende zum Besseren ein: Der erstgeborene Sohn Menuchim, der aufgrund seiner Epilepsie und angeblicher Geisteskrankheit nicht in die Staaten mit der Familie auswandern durfte, tritt als berühmter Komponist und angesehener Dirigent unter dem Namen Alexej Kossak in der Situation der totalen Hoffnungslosigkeit auf und nimmt den Vater zu sich. Wie in der alttestamentlichen Hiob - Erzählung ist der Roman von den großen Themen der Heimsuchung Gottes und seiner letztendlichen Gnade bestimmt. Joseph Roth erzählt das Schicksal des Mendel Singer so direkt und anschaulich, wie das Alte Testament zu uns spricht.

Der Autor Joseph Roth hat eine vergleichbare Lebens- und Leidensgeschichte wie seine Romanfigur Mendel Singer. Er ist selbst ein Leidender. Jemand, der nach der göttlichen Gerechtigkeit suchte und in Verzweiflung endete. Joseph Roth wurde in Galizien geboren. Sein Elternhaus war vom chassidischen Judentum geprägt. Die Schrecken des 1. Weltkrieges, seine ständige materielle Unsicherheit als freier Schriftsteller und Journalist sowie verschiedene private Schicksalsschläge - wie die Erkrankung seiner Frau an Schizophrenie- machen ihn zum Alkoholiker. Die politische Entwicklung in Deutschland zwingen ihn zur Emigration nach Frankreich, da er zunächst mit der Sozialdemokratie sympathisiert hatte. Später engagiert Roth sich in österreichisch - monarchistischen Kreisen gegen den Nationalsozialismus. Im Mai 1939 stirbt Roth an seiner Alkoholsucht in einem Pariser Armenhospital. Sein Leben findet ein tragisches Ende. Er stirbt nicht lebenssatt und getröstet im Vertrauen auf Gott wie Hiob, sondern völlig verarmt, gesellschaftlich isoliert und verzweifelt. Seine Popularität nach dem 2. Weltkrieg dürfte er zu keiner Sekunde seines Lebens auch nur erahnt haben.

Liebe Gemeinde, wie kann Gott zulassen, dass ein Mensch leidet und sich ruiniert. Das Drehbuch des Lebens beinhaltet nicht immer ein „Happy End“ wie in der Bibel oder im Roman Hiob. Im Gegenteil: Die Übermacht von Leid und Tod gehören zu den Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten immer wieder fragen lassen: Wie kann Gott das zulassen? Hiob schreit zu Gott „.... du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.“ (Hiob 14,3). Dieser Aufschrei des Hiob geht durch Mark und Bein! Der Ruf des Gequälten geht unter die Haut. Warum müssen selbst Kinder und Unschuldige leiden? Diese quälende Frage des Hiobs steigert sich zum Protest, der um so heftiger mit seinen Leiden zunimmt.

Hiob ist zum Pseudonym der vielen Leidenden geworden: Der Leidenden in den Gaskammern von Auschwitz, Buchenwald oder Birkenau, des Archipel Gulags unter Stalin, die Opfer des Massenmordes des Pol Pots in Kambodscha oder die Leiden der Menschen in der Hölle von Bosnien und Tschetschenien in jüngster Zeit. Die Kette des Grauens und die Zahl der Schicksalsgenossen ist ungezählt und endlos. Und wieder stellt sich die Frage nach Gott angesichts des vielfachen Leids. Wo ist Gott im Leid? Wann stand Gott den unschuldigen Opfern bei?

Hiob klagt nicht nur über das zeitliche Ende des Menschen. Er hadert nicht vorrangig mit der Zerbrechlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen, sondern er klagt Gottes Gericht an. Hiobs Schrei ist Ausdruck der brennenden Frage: Ist Gott ein Gott der Willkür? Wenn er ein Gott der willkürlichen Beliebigkeit ist, welcher Mensch kann sich ihm entziehen? Wie kann der Mensch vor Gottes Zorn fliehen. Wie dem Gott der Ungerechtigkeit entkommen? So könnte der Psalmist verstanden werden, wenn es im 139. Psalm 7 + 8 heißt:

Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.

Ist es nicht unerträglich, so fragt Hiob weiter, dass der Ungerechte auf Gottes Erden nicht schlecht lebt, offenbar vielfach besser als der Gerechte. Der Weg des Frevlers ist offenbar erfolgsgesegnet, während der Gerechte zum Leid verurteilt ist. Diese Fragen Hiobs sind auch Fragen, die Juden und Christen im 21. Jahrhundert stellen. Hiob – ist er nicht zum Urbild der Menschen geworden, die unerklärliches Leid tragen und schultern müssen. Steht er nicht stellvertretend für viele, die verzweifelt in ihrem Leid nach Gott rufen?

In der biblischen Erzählung weicht Gott Hiob aus und beantwortet seine bohrende Fragen nicht. Der Mensch kann Gottes Handeln und seinen Ratschluss nicht verstehen. Des Schöpfers Größe und Kreativität kann er nicht erfassen. Gott beantwortet Hiob die Frage nach dem Sinn des Leidens nicht. Der katholische Theologe und Philosoph Romano Guardini und viele andere großer Denker abendländischer Tradition haben gefragt: Warum benötigt Gott zu seinem Heil diesen fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen und die Schuld?

Liebe Gemeinde, diese Spannung zwischen dem liebenden Gott, der in Jesus Christus offenbar geworden ist, und dem verborgenen Gott in der Welt des Leids ist nur schwer erträglich. Sehr verführerisch ist ein Gottesbild, Gott nur als den liebenden Vater im Himmel zu sehen, der wohlwollend über Menschheit und Schöpfung wacht. Lehrt uns die menschliche Erfahrung nicht, dass wir Gott nicht habhaft werden können, erst recht nicht im furchtbaren Leid und angesichts himmelschreiender Ungerechtigkeiten auf der Welt? Wissen wir nicht auch um den verborgenden Gott, der uns so widersprüchlich und unnahbar erscheint?

Wir würden es uns zu einfach mit unserem Gottesbild machen, wenn wir alles Unerklärliche und Unfassbare einfach ausklammern und nach dem Schema erklären: „Alles Schreckliche geschieht durch Menschen, die ein falsches Bewusstsein haben und ohne vernünftige Werte leben. Krankheiten und Naturkatastrophen sind möglicherweise Schöpfungsfehler, christlicher Auftrag ist es, gegen diese Unvollkommenheiten vorzugehen. Wissenschaft und Forschung haben gegen dieses Leid zu kämpfen.“ Die Widersprüche in der Welt passen nicht in ein so naives Gottesbild, welches doch so bequem wäre, um den Sinn des Leids zu verstehen. Dass das Übel in der Welt nicht einfach per Federstrich abgeschafft werden kann, braucht wohl keiner ausführlichen Beweisführung. Dennoch: Viele Menschen gehen an dieser Sicht zugrunde. Viele fallen gerade deshalb in Depressionen, weil das Leid und das Schreckliche nicht einfach sich abschaffen lässt. Auch der Autor Joseph Roth ist daran verzweifelt und darüber schwermütig geworden, dass er Unrecht und Leid nicht erfolgreich bekämpfen konnte.

Liebe Gemeinde, ist nicht durch den leidenden Christus am Kreuz der verborgene Gott uns vor Augen geführt? Die Abwesenheit Gottes erfährt selbst Jesus am Kreuz in seinem Leiden und Sterben. Die Kreuzigung Jesu lehrt uns auch die Nichterklärbarkeit des Leides. Schweres Unrecht – nach menschlichen Maßstäben - und schreckliche Qualen erlitt der Sohn Gottes am Kreuz. Der Schrei Jesu: „ Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ (Mt. 27,46b) ist inhaltlich gleich mit der verzweifelten Frage Hiobs und hunderttausender Leidender in der Geschichte der Menschheit.

Das Schicksal des Jesus von Nazareth machte seine Jünger irre. Für den Jüngerkreis war der Kreuzestod unfassbar, denn der doch die Nähe Gottes in seinem Wirken verkörperte, wurde wie ein Verbrecher und Frevler hingerichtet. Wer am Galgen hängt, so die jüdische Tradition, der ist verflucht. Die Hinrichtung ihres Herrn und Meisters war eine harte Anfechtung für ihren Glauben. Dieser Anfechtung kann sich niemand entziehen, der sich wirklich ernsthaft mit dem Kreuzesgeschehen auseinandersetzt. Wer die Auferstehung isoliert ohne das Geschehen am Karfreitag betrachtet, klammert das Leiden am Kreuz aus. Noch einmal sei der Schrei des Hiob erwähnt: „.... du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.“ Dieser Aufschrei des Hiob ist ein Anklage gegen Gott und sein Gericht. Der heutige Predigttext aus dem Hiobbuch bietet keinen Ausweg aus der Klage hin zur Hoffnung.

Dem Verzweiflungsruf des Hiob: „Gott blick doch weg von mir“ können wir nur den Segenwunsch: „Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig“ entgegensetzen. Gegen alle Erfahrungen mit dem verborgenen Gott spricht der Glauben an den liebenden Vater Jesu uns Errettung und Erlösung zu. Es bleibt uns nur die Flucht zum liebenden Gott, der sich in Jesus Christus als barmherziger und gnädiger Gott gezeigt hat. Im Lichte des Glaubens an den Auferstandenen hat auch der 139. Psalm nichts Bedrohliches mehr, sondern soll uns trösten und ermutigen: „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten..... Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ (Verse 16 + 24)

Amen

Literatur:
Joseph Roth: Hiob. Roman eines einfaches Mannes, Köln 1982
Martin Zentgraf in Deutsches Pfarrerblatt Heft 19/ 2000, Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2000, Hiob 14, 1-6

Dipl. Theol. Karsten Matthis, Predigthelfer
Hochheimer Weg 11a, 53343 Wachtberg
E-Mail: mat@vnrmail.de


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