Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Reformationstag, 31. Oktober 2000
Predigt über Galater 5,1-6, verfaßt von Gerhard Müller

Eine Sprachexplosion sei die Reformation gewesen, ist jetzt behauptet worden. Nun läßt sich schwer bestreiten, daß damals viel besprochen worden ist: Gerechtigkeit und Benachteiligung, Freiheit und Knechtschaft, Gott und Teufel, Demut und Hochnäsigkeit. Denn es gab eine Flut von Gedrucktem, wo über diese Fragen diskutiert wurde. Flugschriften werden sie genannt, kurze Texte zumeist, teilweise auf einem einzigen Blatt. Das war möglich, weil der Buchdruck erfunden worden war. Die Reformation war ein Medienereignis. Aber dahinter stand natürlich, daß diese Fragen bei den Menschen aktuell waren. Das Gesprochene wurde durch Bilder ergänzt: der angeblich törichte Bauer, der eine viel bessere Figur macht als der eingebildete Priester; der fleißige Handwerker und der aufgeblasene Müßiggänger. Die Sympathien waren deutlich! Ein Sprachereignis war die Reformation, weil sie die Volkssprache benutzte - nicht nur die Elite wurde angesprochen und konnte mitreden. Worum ging es und worum geht es? In Christus Jesus gelten Glaube und Liebe. So formuliert es der Apostel Paulus im heutigen Predigttext Galater 5,1-6:

"Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist."

1. Freiheit ist nicht nur ein Thema unserer Zeit. Schon die Israeliten flohen aus Ägypten, um der Sklaverei zu entgehen. Auch die Menschen zur Zeit Jesu suchten Freiheit - politische Freiheit von den Römern in Palästina und Freiheit zu Gott: Er ist nicht mehr der Ferne, das Geheimnis und Geheimnisumwitterte, sondern der, den ich anrufen kann als meinen guten Vater. Das sagt Jesus von Nazareth. Und der Apostel Paulus greift es auf: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" Sich selbst schließt er ein: Auch ich bin ein Befreiter! Um wahre Freiheit geht es für alle Getauften und Glaubenden.

Es gibt auch scheinbare Freiheiten. Es werden uns große Versprechungen gemacht, wenn wir uns auf etwas einlassen, was uns angeboten wird. Aber statt der "Großen Freiheit" der Gurus und Menschheitsbeglücker erleben wir nur neue, andauernde Unfreiheit. Wer nimmt uns unsere Angst ab? Wer befreit uns von den Sorgen, die um unser Lager stehen? Freiheit ist das Thema unserer Tage: Freiheit zur Selbstverwirklichung, Freiheit ohne Grenzen.

2 Aber wir erleben Knechtschaft. Wir sind abhängig von dem, was uns als unsere Selbstverwirklichung vorgegaukelt wird. Wir suchen Erlebnisse. Das Leben ist schal, wenn der große Kick fehlt. Ein Abenteuerurlaub muß her oder irgendein Event, der die folgende graue Zeit der Eintönigkeit überstrahlt.

Da wird die Erlebnisgesellschaft rasch zur Risikogesellschaft. Worauf lasse ich mich ein bei meiner Sucht zu Neuem? Wo wird das enden? Wer ist noch bei mir, wenn ich alle anderen zurückgelassen habe, um die Träume zu realisieren, die durch meinen Kopf und meinen Bauch gegangen sind?

Auch die Lustgesellschaft ist längst am Ende. Die Mega-Ereignisse mögen nachklingen. Aber hat mich das glücklich gemacht? Zufrieden? Ist meine Sehnsucht gestillt oder wird sie nur immer neu geweckt? Die Abhängigkeit von dem, was uns als lebenswert gezeigt wird, mag uns häufig nicht bewußt werden. Aber wenn die Ernüchterung kommt, stellen wir fest: Das war sie nicht, die große Freiheit. Das war die Jagd nach ihr, aber nicht mehr.

3 Gesetz und Gnade schließen einander aus. So der Apostel Paulus. Da gibt es in den Gemeinden Menschen, die sich doppelt absichern wollen. Kann doch nicht schaden. So denken sie. Sie werden auch von manchen, die behaupten, es mit ihnen gut zu meinen, gemahnt, das Gesetz zu übernehmen. Aber Freiheit und Gesetz widersprechen sich. So der Apostel Paulus. Niemand kann sich zur wahren Freiheit befreien lassen und dann noch durch das Gesetz eine "Zusatzversicherung" eingehen. Das war damals der Weg des GGesetz und Gnade schließen einander aus. So der Apostel

Doch Paulus mahnt: Christus oder "das Joch der Knechtschaft!" Beschneidung ist für uns kein Thema. Wir wissen von Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion kommen, die nicht beschnitten sind. Für sie ist das ein Thema. Aber für uns geht es um den Gegensatz von Gesetz und Gnade: Wer den Weg des Gesetzes geht, muß das dann total tun. Aber es ist nicht der Weg der Gnade. Es steht Gottes Gnade auf dem Spiel. Seine Zuwendung zu uns in Christus Jesus hat Freiheit geschaffen, Freiheit vom Gesetz und Freiheit vom Bösen.

Worin besteht für uns heute der Gegensatz? Es geht darum, ob uns Christus genügt oder ob wir weitere Heilslehren suchen, die wir damit verbinden möchten. Der Apostel Paulus mahnt: entweder - oder! Christus Jesus allein oder das vielfältige Sinnangebot, das durch unsere Welt geistert.

4 Glaube erhofft Gerechtigkeit. Auch wir Befreiten sind noch nicht am Ziel. Wie sollten wir auch? Unser Weg geht weiter. Aber wir warten "auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß." Wir können mit Geschick und gutem Willen die Ungerechtigkeit mildern, die wir bemerken. Aber die endgültige Gerechtigkeit, wo alle den ihnen zustehenden Platz erhalten, die müssen wir schon Gott überlassen.

Aber das bedeutet nicht zu resignieren. Im Gegenteil. Wir Befreiten vertrauen dem, der uns von vordergründigen und hinterhältigen Knechtschaften löste. Dieses Vertrauen, dieser Glaube, ist lebendig. Er ist "durch die Liebe tätig". Es war ein grandioses Mißverständnis zu meinen, die Reformatoren hätten auf Taten keinen Wert gelegt. In Wahrheit ist nur der Glaube dieser Bezeichnung würdig, der "durch die Liebe tätig ist." Glaube ohne Liebe ist ein Unsinn. Glaube ohne Liebe ist Unglaube.

Darüber wurde vor 450 Jahren gesprochen und geschrieben: Über die Freiheit, unser so modernes Thema; über Knechtschaften, die so übel sind, daß sie kaum als solche erkannt werden; über Gesetz oder Gnade, über Vertrauen oder zusätzliche Absicherungen; über die erhoffte Gerechtigkeit - das geheime Thema auch heute. In Christus Jesus gelten Glaube und Liebe. Nicht auf Äußerlichkeiten und Moden kommt es an. Denn diese kommen und gehen. Aber Glaube, Hoffnung und Liebe bleiben - in und durch Christus Jesus. Amen.

Landesbischof i.R. Prof. Dr. Gerhard Müller D.D.
Sperlingstr. 59
91056 Erlangen
Tel.: 09131 / 490 939


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