Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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17. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2000
Predigt über Jesaja 49, 1 - 6,
verfaßt von Heinrich Rusterholz
  1. Höret auf mich, ihr Gestade, und merket auf ihr Völker, von fernher! Von Geburt an hat mich der Herr berufen, meinen Namen genannt vom Mutterschoss an.
  2. Er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert, barg mich im Schatten seiner Hand; ermachte mich zum glatten Pfeil, versteckte mich in seinem Köcher.
  3. Und sprach zu mir: Du bist mein Knecht, durch den ich mich verherrliche.
  4. Ich aber sprach: umsonst habe ich mich gemüht, um nichts und nutzlos meine Kraft verzehrt; und doch - mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.
  5. Nun aber spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht gebildet, um Jakob zu ihm zurückzubringen und Israel zu ihm zu sammeln - ja, ich bin geehrt in den Augen des Herrn und mein Gott ward meine Stärke -,
  6. er spricht: Zuwenig ist es, dass du mein Knecht sein solltest, nur um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Geretteten Israels zurückzubringen; so will ich dich denn zum Lichte der Völker machen, dass mein Heil reiche bis an das Ende der Erde.

Zürcher Bibel

Liebe Gemeinde,

Unsere evangelische Kirche kennt grossartige Menschen, historische Gestalten, die trotz Widerwertigkeiten treu ihre Aufgabe erfüllten.

August Hermann Francke: Dem sprachgelehrten theologischen Lehrer wurde aus Unverständnis, Neid und Missgunst zunächst viel Widerstand entgegengesetzt. Er hielt aus. Sein fester Glaube führte ihn weiter zu neuen Aufgaben. Durch die Gründung einer Armenschule gab er Anstoss zur Neugestaltung des gesamten Bildungswesens. Das machte ihn bekannt. Mit seinem sicht- und hörbaren Zeugnis evangelischer Frömmigkeit fand er schliesslich Unterstützung und persönliche Anerkennung.

Rauhere Wege wurden zwei spätere evangelische Glaubensgenossen geführt: Johann Heinrich Pestalozzi und Henri Dunant. Eine Anerkennung, wie sie Francke zuteil wurde, blieb ihnen zeitlebens versagt. Trotz Widerstand, Not und scheinbarem Misserfolg liessen sie vom einmal erkannten Auftrag nicht ab. Sie hielten durch und starben recht einsam und bedürftig. Heute geniessen beide, der grosse Pädagoge und der Gründer des weltumspannenden Roten Kreuzes, ebenso weltweit Achtung und Verehrung.

Alle drei hielten fest an ihrer Berufung. Trotz aller Widerstände und hunderterlei Gründen resignierten sie nicht. Sie gingen ihren Weg zu Ende und blieben nicht auf halber Strecke stehen!

Viele namenlose Christinnen und Christen verhalten sich gleich. Auch andere, ebenso tief überzeugte Menschen, stehen treu zu ihrem Glauben und bekennen ihn öffentlich und freudig. Doch plötzlich legt sich der Schatten eines scheinbaren Misserfolges auf ihr Gemüt und sie beginnen an sich selbst zu zweifeln. Sie werden daran irre, dass sie ein so geringes Echo finden und für das, was sie erfüllt, kaum Anerkennung ernten. Eine Folge kann sein, dass sie sich resigniert und verbittert zurückziehen, weil sie sich "umsonst gemüht haben". Sie bleiben auf halber Strecke stecken.

Andere haben ihre Verantwortung für die grössere Gemeinschaft aufgegeben. Sie beschränken sich auf den persönlichen Bereich und suchen eine Gemeinschaft ähnlich denkender Menschen. Im exklusiven Kreis finden sie ihre besondere Glaubenserfahrung bestätigt und geniessen die erwartete Anerkennung. Sie geben die Erfüllung ihres einmal erkannten Auftrages auf und geniessen die scheinbare Sicherheit der Bestätigung, die sie da erfahren. Auch sie bleiben auf halbem Wege stehen.

Zu unterschiedlichen Zeiten stellte sich für sie alle die Frage: Soll und kann ich den mir bestimmten Weg zu Ende gehen? Oder ist es besser, ihn vorzeitig abzubrechen, sozusagen auf halber Strecke stehen zu bleiben?

Im heutigen Text beschreibt Jesaja eine tiefe Krise der Gottesknechts. Damit führt er uns mitten hinein in das Dilemma des Menschen, dessen weiteres Schicksal auf Messers Schneide steht. Hautnah erleben wir seinen inneren Kampf. Gibt er auf? Bleibt er seinem Auftrag treu?

Der Knecht Gottes ist nicht der Mensch, der sich selbst überfordert, weil er eine ganz besondere Leistung vollbringen will. Im Gegenteil. Er bekennt: "Für diesen Auftrag habe ich mich nicht selbst entschieden. Er ist mir von Mutterleib an übertragen. Ich bin ergriffen. Ich kann nicht anders."

Trotzdem er in solcher Ergriffenheit seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt, bleibt der erwartete Erfolg aus. Es gelingt ihm nicht, das Volk aufzurichten, ihm neue Hoffnung zu geben. Dessen Trauer über das unglückliche Schicksal ist stärker und bedrückt es schwer. Es kann nicht hören. Es kann die Zeichen der Hoffnung nicht erkennen.

Das hingegen bedrückt nun ihn. Auch er sieht kaum Zeichen des Erfolgs. Keine Anerkennung wird ihm zum Lohn für seinen Einsatz. Diese bittere Erkenntnis kann er kaum wahrhaben. Es darf doch nicht sein, dass sein Einsatz im Auftrag des Herrn völlig sinnlos gewesen ist! Das schmerzt. Hoffend, dass ihm wenigstens jemand Verständnis entgegenbringt, schreit er seinen Schmerz hinaus in die weite Welt: "Höret auf mich, ihr Gestade, und merket auf, ihr Völker, von fernher!" Der Herr habe ihn gerufen, durch ihn wolle er sich verherrlichen, habe er gesagt, obwohl er als gehorsamer Knecht sich umsonst gemüht und vergeblich seine Kraft verzehrt habe.

Er ist der Resignation gefährlich nahe. Doch auf dem seelischen Tiefpunkt spürt er die frühe Ergriffenheit und bekräftigt in einem Atemzug sein Vertrauen: "Mein Recht ist bei dem Herrn". Der Knecht will ja treu sein. Er will seinen Auftrag erfüllen. Er will seinem Dilemma entrinnen und schreit seine Verzweiflung hinaus bis er, zwischen Hoffen und Bangen, den Zuspruch vernimmt, der ihn der Resignation entreisst. Es ist ein aufrichtendes Wort, denn Gott macht ihn nicht verantwortlich für die ihn bedrückende Erfolglosigkeit und mutet ihm, dem verunsicherten Knecht, wider Erwarten mehr zu und nicht weniger. In unerwarteter Weise nimmt Gott Rücksicht und bestimmt seinen Knecht zu Aussergewöhnlichem. Über den engen Kreis seines Volkes hinaus beruft er ihn "zum Licht der Völker". Er gibt dem verzweifelten Knecht den entscheidenden Anstoss, über Selbstmitleid und Schmerz hinauszukommen und sich nicht zu ergeben.

Gottes Rücksicht erweist sich als Voraussicht für den Knecht, der beinahe an seinem Auftrag irre geworden ist. Der durch das Leiden seines Volkes tief aufgewühlte Knecht, bleibt nicht auf halber Strecke stehen. Er bleibt seiner Berufung treu. Gott ermutigt ihn dadurch, dass er ihm etwas zumutet, so wie das die Redensart ausdrückt: Wer fordert, fördert.

Das in ihn gesetzte Vertrauen richtet den Knecht wieder auf und er erkennt im Wort Gottes die Kraft, die sein Leben von Anfang an durchzogen hat. Das erleichtert ihn entscheidend. Er kann sich freuen und sich durch Gottes Zumutung geehrt fühlen, dass er nicht allein dazu da sei, "die Geretteten Israels zurückzubringen". Für ihn hat Gott das Ziel weiter gesteckt. Er ist dazu bestimmt, zum "Licht der Völker" zu werden, damit Gottes Heil bis an das Ende der Erde bekannt werde.

Mit frischem Elan und dieser weitreichenden Perspektive geht er aus der Krise hervor und engagiert sich erneut. Er sichert dem Volk im babylonischen Exil die Bundestreue Gottes zu. Er, der mit seinem Volk alle Höhen miterlebt und mit ihm alle Tiefen durchlitten hat, ist eben doch der berufene Mann, sein Volk erneut zur Festigung der Gemeinschaft aufzurufen und ihm das Ende des Leidens und der Not anzukündigen.

Die Depression der aus Jerusalem nach Babylon verschleppten einflussreichen Schichten, die Führer, Handwerker, Händler und Offiziere ist verständlich. Sie waren nicht nur ihrer Freiheit und der Privilegien beraubt. Sie waren auch dem schützenden Raum des Tempels entrissen und vom Rest des führungslos zurückbleibenden Volkes getrennt. Um überleben zu können mussten sie zudem völlig ungewohnte Arbeiten verrichten und selbst Hand anlegen, um verödete Landstriche fruchtbar zu machen.

Da ist es nur zu verständlich, dass sich im Laufe der Jahre Auflösungserscheinungen zeigten und einzelne ihr Heil in der Anpassung suchten. Die religiösen Bindungen an den Tempel lösten sich nach und nach auf. Schon so früh zeigte sich, dass in einer Gesellschaft, wo jeder selbst seines Glückes Schmid sein will, der Glaube der Gemeinschaft deren Alltag nicht mehr entscheidend prägt. Mehr noch: Es wurde deutlich, dass durch die zunehmende Individualisierung sowohl die religiöse als auch die politische die Einheit des Volkes höchst zerbrechlich wird.

Offenbar ergeht es dem Volk, das an seinem Glauben festhalten will, ähnlich wie dem Knecht Gottes: Voller Angst, zutiefst erschüttert und der Resignation nahe, sieht es sich als kleiner gewordene Gemeinschaft in scheinbar aussichtsloser Lage. Es sehnt sich zurück nach Jerusalem. Es möchte weg von dem Ort, aus dem kein Entfliehen möglich ist. Beredten Ausdruck dieser inneren Lage geben seine gottesdienstlichen Klagen. Dort im Gottesdienstes war das Volk Israel unter sich und konnte seinem Schmerz freien Lauf lassen und um die Wiedererrichtung des Tempels flehen.

Auf diese Klagen hatte der Gottesknecht geantwortet. Er, der Anfeindungen und Schmähungen bisher "wie mit einem scharfen Schwert" entgegnen konnte, versuchte aus der Geborgenheit des "Schattens der Hand Gottes" heraus die Menschen wieder aufzurichten. Er, der erfahren hat, wie die Nähe Gottes Anfeindungen erträglich macht, versicherte ihnen: Unsere Rückkehr steht unmittelbar bevor. Wir werden im eigenen Land erneut einander dienen und Gott wieder im Tempel opfern können! Wir haben allen Grund zu hoffen!

Wir können mitfühlen. Die Lage des Volkes zwischen Hoffen und Bangen geht uns nahe. Haben wir nicht schon lange den Eindruck, dass der Bericht über die Rettung des Gottesknechtes aus tiefer persönlicher Krise auch unsere eigene Situation gut erfasst?

Wird hier nicht auch über uns persönlich und über unsere Kirche gesprochen?

Spricht hier ein einzelner Mensch als Knecht Gottes oder gar das Volk? Viel wichtiger als darauf eine schlüssige Antwort zu haben ist für uns, dass wir in diesem Bericht uns selbst und unsere Kirche als wie in einem Spiegel wahrnehmen.

Zwar erfreuen sich unsere Kirchen in Europa grosser Freiheit und sind fern der Leiden einer "babylonischen Gefangenschaft". Dennoch erfasst die schwindende Zahl von Freiwilligen in den Gemeinden oder gar die Verantwortlichen in Kirchenkanzleien gelegentlich eine Stimmung, die der Resignation gefährlich nahe ist.

Das ist weiter nicht verwunderlich, denn für sie - und für uns alle - ist die Spannung zwischen ihrem Anspruch, als Volkskirchen für alle Menschen da zu sein, und der Gleichgültigkeit der Mehrheit manchmal beinahe unerträglich. Sie möchten ihren Auftrag treu erfüllen und auch denen Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geben, die nur nach Gott fragen, wenn sie ihn schuldig machen können für persönlichen Misserfolg.

Sie möchten gerade diese Menschen für Gemeinschaft und Solidarität am Ort und weltweit gewinnen, die meist nur nach dem persönlichen Glück trachten.

Dazu kommt der zunehmende Druck durch die knapper werdenden Finanzen, die den Dienst in Seelsorge und Diakonie nicht mehr im gewünschten Mass erlauben. Zur drückenden Last wird zudem, um nur noch einige Beispiele zu nennen: Die Aufgaben im Dienste von Familie, Bildung und Erziehung, der Schwund biblischer Kenntnis in der Gesellschaft, der Unterhalt kirchlicher Gebäude, das schwindende Vertrauen in die Institutionen und damit auch in den Staat.

Hin- und hergerissen zwischen der oft brutalen Wirklichkeit und dem Anspruch, das Evangelium durch Wort und Tat zu bekennen, spüren wir alle den schmalen Grat zwischen bedrückender Resignation und freudiger Weiterarbeit.

Bereits resigniert haben die, die sich ausschliesslich auf die Bewahrung des anvertrauten Gutes beschränken. Das Wort an den Knecht Gottes schützt sie davor, auf halber Strecke stecken zu bleiben: Sie sollen sich gerade nicht auf den relativ engen Kreis der Kirche beschränken. Sie sind nach wie vor dazu bestimmt, ihren Dienst mit dem weiten Horizont zu tun, der sie "zum Licht er Völker" werden lässt. Mit solchem Bewusstsein sollen sie ihrer Berufung nachkommen, dass "das Heil des Herrn bis an das Ende der Erde reichen soll".

Ob Gemeindeglied oder Pfarrer, wir alle kennen die ausserordentliche Spannung zwischen hoffnungsvollem Engagement und bedrückender Resignation, zwischen starkem Glauben und grossen Zweifeln.

Die Erfahrung des Knechtes Gottes soll uns darin bestärken, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, sondern den Weg weiterzugehen und im Glauben zu wachsen und keinesfalls an Zweifeln irre zu werden. Denn in seinem Ergehen zeigt sich, dass selbst der "von Mutterleib an Berufene" vor Zweifel nicht bewahrt ist, ja dass eigentlich nur an Gott zweifeln kann, wer tatsächlich mit ihm rechnet.

Wenn immer uns der eigene Misserfolg oder gar das eigene Scheitern an einer Aufgabe tief bedrückt, dann dürfen wir dieser Zusage gewiss sein und sie andern weitergeben: Als Christin, als Christ soll dir "der Himmel nicht auf den Kopf fallen", denn du bist berufen, mit weitem Horizont aufzubrechen und "zum Licht der Völker" zu werden. Denn seine Liebe gilt allen und deshalb gilt sie auch dir.

Wir dürfen damit rechnen, dass Gott auch uns gelegentlich mehr zutraut, als wir uns selbst. Zudem entdecken wir unter Umständen gerade durch eine besondere Belastung neue Fähigkeiten und werden frei, diese auch weiter zu entwickeln. Dabei dürfen wir gewiss sein, dass Gott uns nicht an Erfolg oder Misserfolg misst. Er hat uns als seine Kinder und mündige Menschen dazu bestimmt, nicht resigniert auf halber Strecke stecken zu bleiben, sondern unseren Weg zu Ende zu gehen und damit "zum Licht der Völker zu werden". Denn die Zusage Jesu gilt uns allen: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende der Welt".

Amen.

Präsident i.R. Pastor Heinrich Rusterholz
Spitalstr. 220
CH - 8623 Wetzikon
E-Mail: u-h.rusterholz@bluewin.ch


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