Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
(Tipps zum Speichern und Drucken: Hier klicken)

16. Sonntag nach Trinitatis, 8. Oktober 2000
Predigt über Apostelgeschichte 12,1-12,
verfaßt von Matthias Opitz

Homiletische Entscheidungen

Liebe Gemeinde,

für Lukas, den ersten Chronisten der Kirchengeschichte, liegt es klar auf der Hand: Gott hat Petrus befreit. Ihm gebührt der Verdienst an dieser Befreiung. So zumindest stellt er es etwa 120 nach Christi seinen Lesern dar: Engel sind es, die Ketten lösen, und Türen öffnen. Gott befreit.

Im Jahre Zehn nach der Wiedervereinigung liegen die Dinge nicht so eindeutig. Kräftig tobt der Streit zwischen den großen Parteien: „Wer hat die deutsche Einheit gemacht?“ Die Christdemokraten verweisen auf Dr. Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit und seine Leistungen. Das möchte die SPD so nicht gelten lassen: „Es kommt nicht auf den Kanzler an!“ Wehren sie ab.

Viele der ehemaligen DDR- Bürger und vor allem die Bürgerrechtler jener Jahre reagieren pikiert über diesen Streit. „Hat nicht das Volk die Mauer eingedrückt?“ fragen sie verschnupft.

Zehn Jahre nach der deutschen Einheit mag so keine rechte Freude aufkommen. Statt dessen: Streit um das Urheberrecht am historischen Ereignis. Ein unwürdiges Spiel.

Was wäre, wenn auch Lukas nach Helden in der Geschichte gesucht hätte? Wenn er die Befreiung aus dem Gefängnis beispielsweise dem Petrus selber zugeschoben hätte:

Lukas hätte einen bärigen Typen malen können, der mit harten Faustschlägen die Wächter überrumpelt, die Ketten sprengt, und dann mit die Türen zur Freiheit öffnet. Oder wenigstens einen schlauen Fuchs hätte der Chronist zeichnen können, der listig den Schlaf der Wärter nutzt, um heimlich davon zu schleichen.

Dann hätten die verfolgten Gemeinden im Ersten Jahrhundert ein leuchtendes Beispiel gehabt. „Petrus den Gefängnisbezwinger!“ Voller Stolz hätten sie ihren ersten Jerusalemer Apostel gefeiert. Mit so einer Befreiungsgeschichte aus der frühen Christenheit hätten auch wir Heutigen sicherlich keine Schwierigkeiten.

Doch Lukas, der gewissenhafte Geschichtensammler, berichtet anderes: Petrus erscheint eher verwirrt als gewitzt: Der Engel muss dem ehemaligen Fischer sogar erinnern, die Schuhe anzuziehen: „Gürte dich und tu dir Schuhe an!“ Sonst wäre der Apostel wohl noch barfuss in die Freiheit getapst.

Nein, ein Heldengemälde des Petrus wird uns nicht präsentiert. Eher ein verschlafener Trottel, der bis zum Schluss kaum begreift, welch ein handfestes Wunder ihn hier rettet!

So liebe Gemeinde unterscheidet sich die Sicht auf Vergangenes: Während die einen in der Geschichte nach Beispielen für die Weitsicht und Geschicklichkeit ihrer Helden suchen, berichten andere von Engeln und wunderbarer Befreiung.

Man könnte übrigens auch die Geschichte der Einheit als Wunder erzählen: Man könnte etwa über die erstaunlichen Umstände staunen, die einen Mann wie Gorbatschow an die Macht spülten.

Wir würden der Wahrheit nichts hinzufügen, wenn wir uns über diesen rätselhaften Zettel wundern würden, der am neunten November dem Günter Scharbowksi auf einer Pressekonferenz in die Finger geriet. Dieser Zettel verführte das Mitglied des Politbüros dazu, öffentlich die Ausreisemöglichkeit aller DDR- Bürger zu verkünden. Der Sturm auf die Mauer begann.

Unzählige solcher wunderbaren Zufälle und Gegebenheiten haben zur Wiedervereinigung geführt. Es ist fast, als wären Engel im Spiel gewesen.

Doch wird Geschichte so erzählt, schrumpft die Leistung und die Macht der Menschen zusammen. Darum hören die meisten Leute dann doch lieber von großen Staatsmännern und einem mutigen Volk. Wundergeschichten sind nicht angesagt.

Wer, wie Lukas, das wunderbare Eingreifen von Engeln beschreibt, zeichnet ein bescheidenes Bild von Menschen, schätzt ihre Möglichkeiten nicht hoch ein.

Für Viele jedenfalls sind Wundergeschichten eine Zumutung. Heute wurden uns gleich zwei deftige Wunder vor Ohren geführt: Erst die schon fast unappetitliche Erzählung über die Auferweckung des Lazarus und dann noch die wunderbare engelhafte Befreiung des Petrus.

Für aufgeklärte Mitteleuropäer schwerer Tobak. Als Prediger würde man hier gerne ausweichen: Auf den Symbolgehalt der Geschichten verweisen, das mystische Denken in den ersten christlichen Jahrhunderten höflich entschuldigen: „Damals dachte man eben so!“ Möchte man gerne sagen und nach Möglichkeiten suchen, das Wunderbare dieser Geschichten aus dem Weg zu räumen.

Ich will das nicht tun. Ich möchte das Wunderhafte dieser Geschichten anstößig stehen lassen. Ich will lieber fragen, warum wir hier im nüchternen Deutschland solche Schwierigkeiten mit Wundergeschichten haben. Die Mehrheit der Weltbevölkerung– in Afrika, Südamerika oder Asien rechnet auch heute noch fest mit dem Eingreifen Gottes, oder anderer Mächte. Nur wir Mitteleuropäer sind vorsichtig.

Zwei Gründe scheinen mir bei der mitteleuropäischen Wunderskepsis eine Rolle zu spielen:

Einmal: Wunder schmälern den Verdienst der Menschen! Wer mit der Macht Gottes rechnet, denkt bescheiden: „Der Mensch kann vieles, doch die wesentlichen Aufbrüche muss Gott schaffen! Der rettet aus dem Gefängnis!“ So schrumpft der Mensch zusammen: Statt einem leuchtenden Helden, ein verschlafener Petrus. Solch ein Blick auf die Menschen kränkt. Darum ziehen es die meisten vor, die Möglichkeit wunderbarer Einbrüche der Macht Gottes auszublenden: Wunder gibt es nicht!

Doch für mich hat dieser bescheidene Blick auf die Menschen etwas sympathisch unverkrampftes und entspanntes: Petrus braucht kein Held sein. Keiner, der Ketten zerreißt und Türen aufbricht. Gott kann auch einen etwas verschlafenen Petrus gebrauchen.

Vielleicht ist Lukas Blick auf uns Menschen geradezu liebevoll realistisch: Wer mit der wunderbaren Macht Gottes rechnet, kann die Grenzen der Menschen leichter akzeptieren!

Der zweite Grund, weshalb Menschen mit Wundergeschichten vorsichtig sind, ist: Wunder machen Angst!

Mit Wundern rechnen bedeutet, auf Gottes Macht zählen. Das ist unheimlich. Klingt nach Ausgeliefertsein. Eine fremde Gewalt erscheint in den Texten der Bibel: Engel – Jesus. Denen bin ich ausgeliefert. Statt Selbstbestimmung- Begegnung mit Gott. Das macht Angst.

Angst auch vor Enttäuschung! „Und wenn ich auf Gottes Hilfe zähle und es passiert nichts?“ Die Hoffnung auf Gottes Macht ist ein Wagnis! Davor fürchten sich die Leute. Darum flüchten sie lieber in ein geschlossenes Weltbild, fest ummauert von ehernen Naturgesetzen. Hier kann nichts Überraschendes mehr einbrechen, hier bin ich vor Enttäuschung sicher.

Auf der anderen Seite: Wäre es nicht schön, wenn doch mal engelhaft Gefangene frei würden und Todkranke geheilt? Wer es wagt, auf Gottes Macht zu zählen, riskiert Enttäuschung. Das ist sicher. Doch ein solcher Glauben schafft Raum für Hoffnung!

Als die Familie Wallert auf Jolo gefangen festsaß, haben sich in Göttingen Menschen in der Kirche versammelt. Abend für Abend –auch Kinder waren dabei – und haben gebetet:

Sie sind das Wagnis der Enttäuschung eingegangen und haben Gott etwas zugetraut. Sehr bewegend müssen diese Abende gewesen sein.

Natürlich: Verhandlungen haben stattgefunden, die Bundesregierung hat sich eingesetzt, Gaddafi hat seine Chance genutzt. Doch ich bin mir sicher: Die Beter und Beterinnen in Göttingen haben darin etwas Wunderbares erlebt: Sie haben gespürt: Gottes Macht umgreift die Enden der Erde.

Liebe Gemeinde, es mag eine Kränkung sein, wenn Menschen spüren, wie wenig Einfluss sie haben. Es ist ein Wagnis, sich der Macht Gottes auszuliefern. Doch ich glaube, es lohnt sich – auch in unserer aufgeklärten Welt.

Die Hoffnung auf Gottes rettende Kraft macht bescheiden und entspannt: Wir müssen es nicht alles selber schaffen. Die Hoffnung auf Gottes Wirken schenkt Hoffnung: Gottes Möglichkeiten sind nicht zu Ende – auch wenn wir keine Chance mehr sehen.

Wer im Jahre Zehn nach der Wiedervereinigung die wunderbare Macht Gottes spürt, verliert das Staunen nicht. Wird bescheiden und hoffnungsvoll, dass es bei allen Schwierigkeiten immer eine Zukunft gibt.

Darum liebe Gemeinde, es lohnt sich, auf Gott zu zählen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Homiletische Entscheidungen:

Der Predigttext, wie auch das Evangelium hat etwas drastisch Mirakelhaftes. Für mich ein Problem. Ich schätze, auch andere Hörer werden durch diese Geschichten verstört sein. Sie löst Ambivalenzen aus: Einerseits Sehnsucht: Wäre schön, wenn es das Gäbe, Rettung aus dem Tod, Befreiung aus dem Gefängnis. Andererseits: Wenn Gott so eingreift, wer sind dann wir Menschen? Und: Wenn ich Gott so etwas zutraue, was ist dann mit meiner Enttäuschung?

Hier wäre auch Möglich gewesen, ganz in der Erzählung des Lukas zu bleiben und darüber nachzudenken, wie es ist, dass Gott den Petrus rettet, den Jakobus aber sterben lässt. Wie wird das Petrus gewesen sein?

Ich habe mich für einen Einstieg über die Debatte über die Verdienste um die Einheit entschieden. Damit soll zunächst auch Übereinstimmung mit den Hörern erzeugt werden: Diese Debatte ist schädlich: Wer das Wunderhafte übersieht, verflacht die Geschichte. Darüber kann zugleich vermittelt werden: Wunder geschehen nicht mit Blitz und Donner, sondern „in mit und unter“ geschichtlich natürlichen Ereignissen.

Matthias Opitz
Bei der Kirche 3
37589 Echte
Tel: 05553-3197
E-Mail: matthias.opitz@bigfoot.de


(zurück zum Seitenanfang)