Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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15. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 1. Oktober 2000
Predigt über Galaterbrief Kap. 5, 25 - 26 und Kap. 6, 1 - 3 und 7 - 10,
verfaßt von Wilhelm von der Recke

Bemerkungen zu Text und Predigt

Predigt über Galaterbrief Kap. 5, 25 - 26 und Kap. 6, 1 - 3 und 7 - 10

1.

Christsein könnte so schön sein. Wenn da nicht die anderen wären - die Menschen, mit denen wir zusammenleben: Der streitsüchtige Nachbar mit dem wir Wand an Wand auf der Etage leben; der Chef, der aus jeder Kleinigkeit eine große Geschichte macht; die alte Betschwester in der Gemeinde, die sich ständig in den Vordergrund zu spielen weiß. Ja, manchmal ist es die eigene Frau oder der Pastor in Person, die es uns schwer machen, wirklich als Christen zu leben.

Die Aufforderung des Apostels kommt nicht von ungefähr: Wenn wir Christen sein wollen, dann müssen wir auch als Christen leben. Nicht die Theorie, sondern die Praxis ist der Ernstfall. Und die Praxis führt uns nicht in Wunschwelten. Sie fordert uns dort heraus, wo wir gerade sind: im kleinkarierten, oft lähmenden Alltag. Dort ist unser Bewährungsfeld - im Menschlichen, meistens allzu Menschlichen.

Aus diesem Grunde spricht Paulus als erstes die Konkurrenz-Situation an, in der wir uns vielfach ungewollt vorfinden, selbst in der Familie: Wir haben Angst, zu kurz zu kommen. Wir wollen, ja, wir müssen uns gegen die anderen behaupten. Wir suchen die allgemeine Anerkennung und möchten die anderen gerne in den Schatten stellen - und sei es auf fromme Art und Weise: Wir halten uns für die besseren Christen, und wir lassen es die anderen spüren. Dabei machen wir uns gar nicht klar, wie schnell wir in die Haut des selbstgerechten Pharisäers schlüpfen.

Einer trage des anderen Last, heißt es bei Paulus. Dabei ist nicht an den großen Rucksack gedacht, den wir dem anderen auf der Wanderung abnehmen. Gemeint sind alle Dinge, die ihn belasten, nicht zuletzt seelisch belasten: Schicksalsschläge zum Beispiel, die er zu verkraften hat, die ihn zu überfordern drohen und ihn bitter machen. Gemeint sind aber auch seine Schwächen und gerade die ärgerlichen Schwächen, die das Zusammenleben mit ihm so mühsam machen. Er reizt uns mit seiner Selbstbezogenheit, mit seiner Aufdringlichkeit, mit seiner wenig einfühlsamen Beschränktheit. Er macht uns ebenso wütend wie ratlos.

Gleichzeitig hält uns dieser Mitmensch einen Spiegel vor: Welche Rolle spielen wir denn für ihn? Sind wir etwa besser? Vielleicht haben wir ja nicht dieselben Schwächen wie er, aber sicher andere. Die mögen in unseren Augen eher verzeihlich sein, tatsächlich aber machen sie den Menschen neben uns das Leben schwer. Darum: Ein jeder prüfe sich selbst! Er stelle sich den eigenen Unzulänglichkeiten. Er gebe sich Rechenschaft über seine schwachen Seiten, mit denen er seiner Umgebung zur Last fällt. Er - das sind wir. Wenn wir mit dem ausgestreckten Finger auf unseren Nächsten zeigen, dann weisen die drei anderen Finger auf uns zurück, so hat es der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann einmal im Bundestag gesagt. Der Volksmund drückt das so aus: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Ins Positive gewendet: Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch; das ist der eigentliche Sinn aller biblischen Gebote - so Jesus in der Bergpredigt.

Wir brauchen nicht perfekt zu sein. Aber wir sollten uns unsere Unvollkommenheit eingestehen. Dann werden wir auch leichter mit der Unvollkommenheit der anderen leben können. Leichter - also verständnisvoller, liebevoller und darum großzügiger. Einer trage die Last des anderen. Damit ist auch die Last gemeint, die der andere für uns bedeutet. So können wir das Gesetz Christi erfüllen. So lernen wir von der Einstellung Jesu. Wir übernehmen seinen Stil, sozusagen seine Methode: Die Liebe, die von dem anderen keine Gegenliebe erwartet; die sich durch die Blindheit und Bosheit der anderen nicht entmutigen läßt; die den anderen nicht durch gewaltsamen Widerstand, sondern durch Freundlichkeit entwaffnet und überwindet. So hat es Martin Luther King vor 40 Jahren im Kampf um die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner erfolgreich gepredigt. Laßt uns sie herauslieben aus ihrer Verblendung. Wir müssen sie besser verstehen als sie sich selbst!

Natürlich werden wir nie so lieben können wie Jesus es tat, - nicht so bedingungslos, so ungeschützt und verletzlich. Gerade darum haben wir keinen Grund, uns hinter erlittenen Kränkungen zurückzuziehen. Wir sind ja im Prinzip nicht besser als die anderen. Mit welchem Recht könnten wir uns also beklagen?

2.

Wenn wir Christen sind, dann laßt uns auch als Christen leben! Gott läßt sich von uns nicht auf der Nase herumtanzen. Er läßt sich nicht als alten Mann verkaufen, als gutmütigen Trottel. Er will ernst genommen werden, und er nimmt uns ernst. Er nimmt uns beim Wort. Er fragt uns, ob wir wirklich Christen sein wollen - mit allen Konsequenzen. Wer auf das Fleisch säht, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten. Wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten.

Bei Fleisch denkt Paulus nicht an fleischliche Gelüste. Er meint eher das rohe Fleisch auf dem Küchentisch, das so vergänglich ist und schnell verdirbt. Er nimmt es als Bild für alles, was ein baldiges Verfallsdatum hat; alles, worauf man keine Zukunft bauen kann.

Also: die Aktie, die heute hoch im Kurs steht und morgen vielleicht im Keller ist. Oder der Traumjob, die Traumposition im öffentlichen Leben, die Traumreise, die Traumvilla, - all die schönen Fassaden, die verbergen, wie viel Mühe und Ärger und vielleicht auch Angst damit verbunden. Wie schnell verflüchtig sicht der Traum und wird zum Alptraum. Träume sind ja nichts Schlechtes. Wir brauchen sie geradezu als Anreiz und Anregung. Nur sollte man darauf keine allzu großen Hoffnungen bauen. Wieviele Medaillenträume sind dieser Tage in Sydney verflogen. Jahrelanges hartes, entbehrungsreiches Training, und dann kommt es ganz anders: Die Teilnehmerin an der Olympiade erwischt einen schlechten Tag oder eine ungünstige Auslosung, vielleicht kommt ein zweifelhaftes Schiedsrichterurteil dazu, und das Rennen ist aus. Aus der Traum. Tränen und tiefe Enttäuschung danach, das ist normal, das ist verständlich. Aber schlimm wäre es, wenn die jungen Leute noch nach einer Woche oder gar einem Jahr das Gefühl hätten, nun sei alles sinnlos, nun sei ihr Leben verfuscht.

Das meint Paulus: Wer auf das Fleisch sät - weiter oben sagt er: auf vergängliche Ehre -, der wird das Verderben ernten. Der hat kurzsichtig gehandelt, der hat falsch investiert. Was im Augenblick vielleicht nur mäßig attraktiv ist, das kann sich auf die Dauer bezahlt machen. Beim Warentest würde man sagen, das Preis-Leistungsverhältnis muß stimmen. Der Apostel rät darum, auf den Geist zu setzen; auf das, was von Gott kommt. Also das, was einen höheren Sinn hat und eine tiefere Befriedigung verschafft; was Ewigkeitswert hat: Leben mit Gott.

Noch einmal: Geistlich sein erschöpft sich nicht darin, die richtige Glaubens-Überzeugung zu haben und fromme Worte im Munde zu führen. Geistlich sein heißt: im Geiste Jesu zu l e b e n . Das ist manchmal ein ganz armer Geist, ein unscheinbarer, ein angefochtener. Wer von diesem Geist bestimmt wird, der muß sich nicht selbst zur Geltung bringen. Er weiß sich ja gehalten. Wer sich von diesem Geist bestimmt weiß, der kann auch den anderen neidlos eine Chance geben. Der Geist Jesu ist ein Team-Geist. Er verbindet uns mit anderen Menschen. Laßt uns Gutes tun, sagt darum Paulus. Und er wiederholt es. Es ist ihm wichtig: Laßt uns Gutes tun!

Aber was ist das, dieses Gute? Hundert Mark für eine Hilfsaktion spenden? Dem vaterlosen Jungen von nebenan bei der Reparatur seines Fahrrad zu helfen? Die einsame alte Frau besuchen? Das sicher auch. Doch das Nächstliegende übersehen wir häufig; auch weil es das Schwierigste ist.

Denken wir an uns selbst, über welche Geschenke freuen wir uns am meisten? Die teuren, die edel eingepackt sind, mit denen wir aber nicht so schrecklich viel anfangen können? Würden es uns nicht viel mehr berühren, wenn der Mensch, mit dem wir tagein-tagaus zusammenleben, eine lästige Gewohnheit bei sich abstellen könnte? Wenn er sich ein bißchen einfühlsamer und rücksichtsvoller uns gegenüber verhielte?

Das Gute, das uns die Bibel ans Herz legt, ist nicht irgendein schöner Gegenstand, den wir an andere weitergeben, sondern immer etwas von uns selbst. Mit diesem Guten werden wir nicht unbedingt öffentlichen Beifall ernten. Aber wir wissen, es tut dem anderen gut. Es fehlt ihm, und wir sind die Erstenbesten, die ihm dazu verhelfen können.

Der andere kann jeder und jede sein: Zum Beispiel, der Mensch, der in meinem Wohnviertel lebt, aber nicht richtig dazugehört, der nicht richtig Anschluß findet. Vielleicht weil er sich auffällig spastisch bewegt oder weil er abstehende Ohren hat und Sachen trägt, die ihn zum Außenseiter stempeln. Oder deswegen, weil seine Hautfarbe ein bißchen dunkler ist und er mit starkem Akzent spricht. Oder weil er abgerissen und ungepflegt aussieht und nach Alkohol riecht. Dessau und Brandenburg können überall sein. Nächstenliebe kann manchmal auch Zivilcourage einschließen.

Dieser andere kann das Opfer aber auch der Täter sein: der junge Glatzkopf, der seine Unterlegenheitsgefühle, seine Wut an denen ausläßt, die für ihn noch weiter unten auf der sozialen Leiter stehen. Der nur in seiner Clique stark ist und dem eigentlich ein Mensch fehlt, der ein Herz für ihn hat und der sich Zeit nimmt.

Der andere, die andere haben viele Gesichter. Menschen, die durch eigene oder fremde Schuld oder durch die Verkettung unglücklicher Umstände oder durch Krankheit ins Abseits geraten sind. Manchmal nur vorübergehend, aber in jedem Fall: Sie brauchen Menschen, die das merken, die sich dadurch beunruhigen lassen, die ihre Phantasie anstrengen, die genug Entschlußkraft und vielleicht auch Selbstüberwindung und Mut aufbringen und die schließlich etwas tun.

Laßt uns Gutes tun, sagt der Apostel. Laßt uns Gutes an jedem Menschen tun, und laßt uns bei denen anfangen, mit denen wir zusammenleben: den Schwestern und Brüdern. Nicht weil das das Einfachste ist. Manchmal kommt uns das am härtesten an. Wir haben sie uns nicht unbedingt ausgesucht. Aber hier ist unser Platz. Die Menschen neben uns, sie sind der Ernstfall für den Glauben.

Ein paar Bemerkungen zu Text und Predigt:

Nach sehr grundsätzlichen theologischen Auseinandersetzungen über das Evangelium, das Paulus vertritt, kommt er in den letzten beiden Kapiteln des Galaterbriefes zu den pastoralen Folgerungen, die er daraus zieht: Die christliche Freiheit will auch wahrgenommen sein, das Liebesgebot im gelebten Leben bewährt werden. Im Predigttext geht es um Anweisungen für das alltägliche Leben von Christen, in erster Linie in der Gemeinde und untereinander.

Die Metaphern von Saat und Ernte (Verse 8 - 9) haben mit dem Anliegen des Erntedanktages wenig zu tun. Sie illustrieren nur: Wer Christ sein will, der soll das auch konsequent leben und Frucht bringen. Dabei muß er nicht vollkommen sein. Doch soll er zu seinen eigenen Schwächen stehen und die der anderen in Liebe hinnehmen. - Die Predigt ist dem Stil nach eine Homilie. Zur Verdeutlichung folgt hier eine kurze Paraphrase des Predigttextes:

1. Laßt uns als Christen konsequent sein: Wir wollen nicht in Konkurrenz zueinander leben - dabei kann man sich schnell ins eigene Fleisch schneiden. Vielmehr wollen wir die anderen verständnis- und liebevoll mit ihren Schwächen ertragen (5, 25 - 26; 6, 1 - 3).

2. Gott läßt sich nichts vormachen. Das, was wir eigentlich erreichen wollen, das werden wir auch kriegen. Darum laßt uns Gutes tun, angefangen bei denen, mit denen wir zusammenleben (6, 7 - 10).

Pastor Wilhelm v. der Recke
Arno-Pötzsch-Platz 1
27472 Cuxhaven
E-Mail: ReckeCux@gmx.de


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