Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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15. Sonntag nach Trinitatis / Erntedank, 1. Oktober 2000
Predigt über 1. Timotheus 4, 4–5,
verfaßt von Wilfried Theilemann

Bemerkungen zu Predigt

Liebe Gemeinde, das biblische Wort zum Erntedankfest, das wir heute feiern, steht im

1. Timotheusbrief und lautet: „Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“ – Wenn wir dieses Wort so unmittelbar hören, klingt einerseits Befremdliches an, aber andererseits auch etwas, das wir spontan bejahen können am heutigen Tage. Das ist die Danksagung für die Ernte, der Dank für das, was wir empfangen, was wir zum Leben brauchen und durch unsere Arbeit uns erschlossen haben. Dabei denken wir nicht nur an die Erträge der Felder, Wiesen und Weiden, sondern im weitesten Sinne an all das, was das Leben am Leben hält, es ermöglicht. Wir haben doch ein Gefühl dafür, daß das Leben eine Gabe ist, eine gute Gabe, und dafür dankt man. Daß das Leben ist und nicht vielmehr gar nichts, das ist gut und dafür ist Dank angesagt. Aber können wir über dieses Gutsein hinaus sagen, daß alles gut ist? Ist alles, was Gott geschaffen hat, gut? Dagegen sperrt sich ein anderes Gefühl in uns, ein Gefühl, das aus Erfahrung spricht. Die Natur selbst hat doch die Dimension des Katastrophalen: Überschwemmungen, Trockenheit, Erdbeben, Epidemien. Da können wir nicht sagen, daß alles gut ist. Da gibt es nichts zu ernten, vielmehr: die Not ist groß. Dazu kommt noch, was alles in Folge menschlichen Eingriffs in die natürlichen Zusammenhänge ausgelöst wird. Ein Reaktorunglück hat ein weites Land auf lange Zeit vergiftet, ernteuntauglich gemacht, das Leben krank gemacht, ein Beispiel. Wir kommen nicht umhin zu bemerken: ein ambivalentes Gefühl stellt sich ein. Einerseits ist Dank angesagt für das, was wir zum Lebenserhalt ernten können. Andererseits verschlägt es uns die Sprache, wenn uns vor Augen geführt wird, wieviel Not, Hungerstod aus mangelnder Ernte herrschen, wieviel Unheil um die Welt zieht. Daß alles gut ist, können wir nicht sagen, dagegen spricht unsere Erfahrung.

Aber wenn wir vom Maßstab unserer Erfahrung ausgehen als entscheidendes Kriterium, dann erscheint unser Wort als ein törichtes Wort. Aber die Frage ist, ob es überhaupt ein Wort aus der Erfahrung ist. Weil aus ihm nicht unsere tägliche Erfahrung spricht, ist es befremdlich, ja, es mutet uns einiges zu, denn: Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Unser biblisches Wort bekennt Gott als den Schöpfer. Wenn Gott Schöpfer der Welt und allen Lebens ist, wenn er alles geschaffen hat, hat er dann auch das ganze Übel geschaffen? Das ist die geradezu unheimliche Frage, die sich uns aufdrängt. Nicht nur, daß sich diese Frage aufdrängt, sie wird auch zum Stein des Anstoßes. Denn Gott als Schöpfer bekennen, der alles gut geschaffen hat, angesichts von Katastrophen und Unheil, das will nicht zusammenpassen. Für viele Menschen bricht an dieser Stelle der Glaube an Gott zusammen, das „Ich glaube an Gott, den Schöpfer...“ will nicht mehr über die Lippen kommen. Und wenn wir dann allein von unserer Erfahrung als Maßstab ausgehen, können wir allerdings nur noch uns sagen: So ist es nun einmal mit der Welt. Gutes und Böses, Positives und Negatives, Leben und Tod, immer ist beides da. Das ist eben so, damit muß man sich abfinden. Die Welt ist dann nicht mehr Gottes Schöpfung, die Dinge, von denen wir leben, sind nicht mehr Gaben Gottes. Aus den Gaben wird etwas, das einfach bloß vorhanden ist, das man zum Leben verbraucht, aber wem sollte gedankt werden? Aus dem Erntedankfest wird ein Erntefest, wo man die Natur und den Naturgenuß feiert, die dunklen Seiten der Natur und des Lebens möglichst im Dunkel des Verdrängens ausblendet. Man kann versuchen, das Dunkle einfach als gegeben hinzunehmen, das Unerklärliche daran als unerklärlich stehenzulassen. Man kann es versuchen, aber der Stachel des Unerklärlichen bleibt.

Aber unser Wort will gerade verhindern, daß wir meinen, verdrängen zu müssen. Es bekennt Gott als den Schöpfer der Welt und allen Lebens und hält an diesem Bekenntnis fest, auch wenn Gutes und Schlimmes, Heil und Unheil immer zusammen da sind. Unser Wort will daran festhalten, daß alles, was Gott geschaffen hat, gut ist, und wendet sich dagegen, daß wir Menschen unser Leben in der Welt abwerten angesichts des Unheils, es für verwerflich erachten, wie unser Wort es ausdrückt. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß wir versuchen, möglichst lange möglichst viel für uns selbst aus dem Leben herauszuholen und dabei den Nächsten aus den Augen verlieren und aus der Liebe fallen.

Hält nun unser Wort den Glauben an den Schöpfer von allem fest, und zwar angesichts der Lebenswelt wie sie ist und wie wir sie erfahren, dann will dieses Wort offensichtlich etwas bei uns erreichen, an uns bewirken, nämlich: daß wir in unserer Erfahrung etwas anderes mit erfahren, das den Glauben an Gott den Schöpfer hervorruft. Das ist gleichsam die Dimension, die hinter unserem Wort steht und von ihm vorausgesetzt ist. Was wir in unserer Erfahrung als unheilvoll, als verwerflich erachten, wie unser Wort sagt, ist ja etwas, das wir nicht wollen, nicht wünschen. Aber wir können es nicht aus der Welt schaffen. Das steht nicht in unserer Macht. Das Unheilvolle, das lebenswidrige Böse, den Tod können wir nicht aus der Welt schaffen, denn bei aller Kreativität sind wir nicht Schöpfer. Unsere Kreativität lebt davon, daß sie immer auf etwas Vorgegebenes zurückgreift, davon Gebrauch macht. Wenn das so ist, dann zeigt sich doch darin, daß unser Lebenswille gleichsam auf einen Gegenwillen stößt, dem wir nicht gewachsen sind. Wir wollen unser Leben haben im Sinne von Besitzen, im Sinne von eigener Mächtigkeit und Unabhängigkeit. Niemand ist von diesem Bestreben ausgenommen, das ist gleichsam urwüchsig in jedem von uns da. Ebenso wollen wir uns und unser Leben selbst bestimmen, man möchte sein eigener Herr sein und im eigenen Haus leben, möglichst unabhängig von Abhängigkeiten. Und doch erfahren wir eine Gegenmacht, einen Gegenwillen, der uns Grenzen setzt, die nicht von uns zu überwinden sind. Es ist gleichsam das verschlossene Paradies, dessen Tor wir nicht öffnen können und dessen Mauer wir nicht überwinden können. Das ist der Widerspruch in unserem Leben: wir wollen sein, was wir nicht sind. Wir möchten ein Leben, das uns aber versagt ist. Und wenn wir das nicht einfach resignativ hinnehmen wollen, dann müssen wir uns von unserem Wort sagen lassen, was es voraussetzt: daß unser Leben von Gott geschaffen ist, gut geschaffen ist, nur daß wir unsere Abhängigkeit vom Schöpfer in einen Willen zur Autonomie, in einen Willen zur Eigenmächtigkeit verkehrt haben. Und nun leiden wir daran, daß Gottes Allmacht es verhindert, daß wir mit unserem Lebenswillen durchkommen, ein Wille, der Gottes Allmacht nicht von vornherein vorbehaltlos anerkennt und in unserem Lebensvollzug verwirklicht. Das ist der Entzug der Anerkennung Gottes als des Herren und zugleich die Undankbarkeit gegen Gott, weil er nicht so ist und handelt, wie wir wollen und wünschen. Es ist der Mißbrauch der Freiheit, zu der uns Gott geschaffen hat, der Freiheit, die ihre Grenze darin hat, daß sie von Gott geschaffene Freiheit ist und in ihrem Wesen es auf immer bleibt. Daß unser innerster Lebenstrieb dies nicht wahrhaben und anerkennen will, das ist unsere Verkehrtheit vor Gott, die nun die Unheilsdimension unserer Wirklichkeit widerspiegelt, das Scheitern unseres Wollens und Wünschens an der Wirklichkeit, die Gebrochenheit des Lebens durch Unheil und Tod. Die Abkehr von Gott schlägt um in die Verkehrung ins Unheilvolle unserer ganzen Lebenswelt.

Wenn wir im Glauben das Gottesverhältnis bewahren, werden wir uns durchsichtig für uns selbst. Das geschieht zuhöchst, wenn wir sehen, daß menschliche Verkehrung vor Gott zum Kreuz auf Golgatha geführt hat, und wenn wir auf das christliche Urbekenntnis hören: Gott hat den Getöteten ins Leben zurückgeholt. Erst in diesem Urbekenntnis werden wir uns so durchsichtig, wie wir in Wahrheit vor Gott zu stehen kommen. Denn Gottes Antwort auf unser verkehrtes Streben und Wollen ist die Zusage seines Heils durch alles Unheil hindurch. Daß Gott den Gekreuzigten zu sich ins Leben geholt hat, das läßt uns Gott ins Herz schauen. Er zeigt sich da als der, der seinem Heilswillen treu bleibt, diesen Willen bestätigt hat und dadurch uns die Möglichkeit eröffnet, nun im Glauben an die unbeirrbare Liebe Gottes neu zu leben. Der Glaube stiftet ein neues Grundverhältnis unseres Lebens in der Welt, darum ist Glaube auch Schöpfungshandeln Gottes. Gott schafft durch den Glauben die Freiheit neu, die wir Menschen in der Verkehrung des wahren Verhältnisses zu Gott verloren haben. Es ist eine ganz eigentümliche Freiheit, weil sie nämlich mitten in allen Unheilsabhängigkeiten Bestand hat. Daß Gott durch alles Unheil und Tod hindurch an seiner Lebenszusage festhält, läßt uns gerade in aller Anfechtung durch soviel heillose Wirklichkeit mehr auf Gott vertrauen als auf das Sein im Hier und Jetzt. Daß wir auf Gottes grundsätzliches Versöhnugshandeln in Christus vertrauen dürfen, läßt uns in aller Not des Lebens aufatmen. Gottes schöpferisches Handeln in Christus ermöglicht es nun, daß wir Gott danken können. Danksagung ist unsere Antwort auf Gott als den Schöpfer des uns zugesagten Lebens.

Mit solcher Grundeinstellung des Dankes zu Gott als dem Schöppfer eröffnet sich der rechte Umgang mit den Gaben Gottes. Alles, was geschieht, kommt auf verborgene Weise von Gott und will uns auf Gott als den Herren über alles Leben ausrichten und durch alles, auch durch das in die Anfechtung stürzende Leiden-Müssen hindurch, auf Gott als den Vater ausrichten, der uns das endgültige Leben zugesagt hat. In solcher Ausrichtung lernen wir, die Gaben des Lebens so zu genießen, daß es geschenkte Gaben bleiben, für die zu danken ist, und nicht zum Besitz werden, dessen Verlust nur in die Verzweiflung führt. Das aber ist die christliche Freiheit, die wider alles Unheil nicht zum Scheitern verurteilt ist, sondern Leben in rechter Weise möglich macht. Amen.

Bemerkungen zu Predigt:

Leitgedanke: Alles ist gut! – Ist alles gut?

Der historische Sitz im Leben des Textes ist die antignostische Stoßrichtung. Die spekulative Ontologie der Gnosis führt zu einer Abwertung der Grundsituation diesseitigen Lebens und damit zu einer entsprechenden Haltung des Gnostikers, entweder harte Askese oder ein ebenso der Selbstvernichtung dienender reiner Libertinismus. Vgl. dazu die Homiletische Auslegung von G. Voigt. Der hermeneutische Ansatz zur Predigt war die Frage, wie es heute mit dem Glauben an Gott als Schöpfer steht, der die Bedingung zur Dankbarkeit ist. Zur Theologie der Schöpfung ist hifreich der TRE-Artikel „Schöpfung“. Die Frage, auf die ich bei den Gemeindegliedern stoße, ist die Ungewißheit in Bezug auf die Gaben der Schöpfung als gute Gaben zum Leben einerseits und der oft so geradezu grausamen Weise des unheilvollen Entzugs dessen, was das Leben so „lebenswert“ macht. Diese Ambivalenz ist die hintergründige Frage gerade am Erntedankfest. Sie sollte bewußt aufgenommen werden, um die Grundstellung dessen, was Glaube an Gott den Schöpfer ist, in einigen Gedankenschritten deutlicher zu machen.

Wilfried Theilemann
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