Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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13. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2000
Predigt über Genesis 4, 1-16a,
verfaßt von Paul Kluge

Liebe Gemeinde,

lassen Sie mich heute die Lebensgeschichte von Hans erzählen, wie sie sich vor Jahren zugetragen hat, eine Geschichte, die an das Leben des Kain erinnert:

Hans trat kräftig in die Pedalen. Denn wie immer kam der Wind von vorn, und an diesem kalten Herbsttag brachte der Wind Feuchtigkeit vom Meer. Etwa eine Stunde würde er noch radeln müssen, um vor dem Abendessen sein Ziel zu erreichen. Auch das ließ ihn kräftig zutreten. Und dann der plötzliche Aufbruch am Morgen. Hatte doch die Pfarrersfrau in G. ihn mit einem Hundertmarkschein zum Brötchenholen geschickt. Da hatte er schnell seinen Rucksack gepackt, seinen Schlafsack zusammengerollt und sich mit dem Geld auf den Weg gemacht.

Eigentlich wäre der Nachbarpfarrer von G. an der Reihe gewesen, aber das ging nun nicht. Er mußte seinen Plan ändern, an einen entfernteren Ort fahren. Dort würde die bestohlene Pfarrersfrau ihn nicht vermuten, und der Garten des Nachbarpfarrers konnte noch etwas warten. Da war Hans sicher.

Denn er kannte den Garten, er kannte viele Pfarrgärten und ebenso viele Pfarrhäuser. Hans hatte mit den Jahren sein festes Revier, zog von einem Pfarrhaus zum andere. Ein, zwei Wochen wohnt er dort, brachte im Frühjahr und im Herbst die Gärten in Ordnung, half im Sommer auch mal bei Bauern in der Ernte. Schlimm war es im Winter, wenn es wenig zu tun gab. Dann konnte er sich für gewährte Unterkunft und Verpflegung nicht revanchieren. Und das zu können, war ihm wichtig.

Die Pfarrhäuser waren Zufluchten für ihn, boten ihm Schutz nicht nur vor Wind und Wetter, vor Hunger und Kälte. Pfarrhäuser, das waren für ihn Orte, an denen er sich besonders geborgen fühlte - soweit er das überhaupt konnte. Und den Pfarrern konnte er auch mal das eine oder andere aus seiner Vergangenheit erzählen. Sie waren ja zum Schweigen verpflichtet. Das Beichtgeheimnis schützte ihn.

Doch lange hielt er es an einem Ort nie aus, immer wieder trieb es ihn fort, trieb es ihn weiter. Es waren nicht die Pfarrgärten, die auf ihn warteten. Das sagte er zwar, glaubte es aber selber nicht. Es war die Erinnerung, die ihn einholte und vor der er dann floh. Jedesmal, wenn er anfing, sich ein wenig zu Hause zu fühlen, kam sie, die Erinnerung, überfiel ihn mal bei der Arbeit, mal beim Fernsehen, mal im Schlaf. Und dann konnte er nicht anders als seine Sachen zu packen und sich auf den Weg zu machen.

Hans war auffällig klein, hielt sich leicht geduckt, den Blick gesenkt. Traf sein Blick - zufällig - den Blick eines anderen Menschen, schloß er sofort seine Augen, duckte sich noch mehr. Als wolle er sich unsichtbar machen, um nicht gesehen, nicht erkannt zu werden. Wie damals, als alles anfing.

Hans war in einem Dorf im Thüringischen aufgewachsen. Sein Vater war im Krieg geblieben, seine Mutter brachte sich und die fünf Kinder mit Gelegenheitsarbeiten mühsam durchs Leben. Hans, der Älteste, konnte ihr wenig helfen, er war zu klein, zu schwach. Darunter litt er auch in der Schule. Seine Klassenkameraden hänselten ihn, quälten ihn auch. Der Lehrer war ihnen darin ein Vorbild. Hans lernte, sich zu ducken, den Blick zu senken.

Einen Schulkameraden fürchtete er besonders. Der war groß, kräftig, lernte schnell und gut, wurde vom Lehrer bevorzugt. Dieser Schulkamerad hatte eine besondere Freude daran, Hans zu verhöhnen, ihn zu quälen - am liebsten vor den Augen der anderen, die ihn dann anfeuerten und wegen seiner Stärke bewunderten.

Nach der Schule fand Hans eine Arbeit in der Landwirtschaft, der Schulkamerad ging zur Polizei. Kam dann als Polizist in sein Heimatdorf zurück, trug voller Stolz seine Uniform. Hans hatte nur lumpige Klamotten, die zudem nach Stall rochen.

Bei einer Maifeier hatte Hans es mit viel Mut und roten Ohren gewagt, ein Mädchen anzusprechen, das er schon lange aus der Ferne bewunderte. Da kam der Vopo und holte sie zum Tanz, tanzte den ganzen Abend mit ihr, knutschte in den Tanzpausen mit ihr herum. Hans trank Bier und Korn, machte sich schließlich auf den Weg nach Hause.

Plötzlich fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter, drehte sich um und bekam einen Schlag ins Gesicht. Der Polizist stand vor ihm, grinsend, und das Mädchen daneben. „Laß mich,“ bat Hans, doch der Polizist gab ihm einen Stoß, daß er umfiel. Das Mädchen kicherte. Hans griff in seine Hosentasche, zog sein Messer und rammte es dem Polizisten in den Leib. Dann rannte er los. Rannte in die Nacht, bis er hinfiel und einschlief.

Am nächsten Morgen orientierte er sich an der Sonne und ging Richtung Westen, Richtung Grenze. In einem Dorf wollte er sich etwas zu essen kaufen. Ein paar Hausfrauen unterhielten sich, sprachen von einem Mord an einem Polizisten in Hans Heimatort. Hastig verließ er den Laden, lief in den nahen Wald und versteckte sich bis zum Abend. Schlug sich irgendwie bis zur Grenze durch, die noch nicht mit Selbstschußanlagen befestigt war, und gelangte nach Hessen. Suchte und fand Arbeit bei einem Bauern, bekam einen Paß. Doch schon bald hielt er es nicht mehr aus: Sein Heimatdorf lag so nahe, daß man wohl auch hier in Hessen von dem Polizistenmord hören würde. Er bestieg das Fahrrad des Bauern und fuhr los, diesmal Richtung Norden.

Als er eines Tages mit seinen Kräften am Ende war, klingelte er an einem Pfarrhaus, fand Aufnahme. Kümmerte sich am nächsten Tag ein wenig um den Garten, dann trieb es ihn weiter, trieb ihn in Richtung Meer, in Richtung Freiheit. Unterwegs versuchte er nun immer öfter, in Pfarrhäusern Unterkunft zu finden. Ein, zwei Tage, dann war die Angst wieder da, die Angst, erkannt zu werden. Und die Schuld war wieder da, die Schuld am Tod eines Menschen. So hetzte er von Ort zu Ort. Wenn er einmal kein Quartier fand und im Freien campieren mußte, konnte er vor Angst nicht schlafen, sah immer wieder das grinsende Gesicht des Polizisten, hörte das Gekicher des Mädchens, fühlte das Messer in seiner Hand und wie er zustach.

Als er Norddeutschland erreicht hatte und die Landschaft so völlig anders war als daheim, konnte er ein paar Tage länger an einem Ort bleiben. Wo er unterkam, machte er sich mit Gartenarbeit nützlich. Im Laufe der Jahre hatte er im Nordwesten Niedersachsens seinen festen Kundenstamm: Pfarrhäuser, die er zwei mal jährlich aufsuchte, wo er ein, zwei Wochen blieb und half, doch immer trieb es ihn wieder weiter, immer wieder floh er vor Schuld und Erinnerung, und immer holten sie ihn wieder ein.

Eines Tages spuckte er Blut. Der Pfarrer, bei dem er sich gerade aufhielt, sorgte für ärztliche Untersuchung: Tuberkulose. Hans kam in ein Krankenhaus, der Pfarrer besuchte ihn regelmäßig, Hans erzählte nach und nach sein unstetes Leben, erzählte die kleinen Gaunereien, die er begangen hatte, Mundraub, Diebstahl, erzählte von angenehmen Gefängnisaufenthalten im Winter. Erzählte dann von seiner Angst, erkannt zu werden, erzählte schließlich von seiner Schuld, erzählte von dem Mord. Der Pfarrer hörte nur zu, er hatte nichts zu sagen. Verabschiedete sich dann mit einem langen Händedruck.

Als Hans entlassen wurde, hatte der Pfarrer einen Raum im Gemeindehaus mit ein paar gebrauchten Möbeln und einem älteren Fernseher einigermaßen wohnlich eingerichtet, und Hans zog ein. Eine ältere Frau aus der Gemeinde war gern bereit, für Hans zu kochen und sich um ihn zu kümmern: So hatte sie wieder eine Aufgabe. Bald war Hans im Dorf bekannt, half den Bauern auf dem Feld und im Stall, pflegte natürlich den Pfarrgarten und nahm vorsichtig am Dorfleben teil.

So lebte er fast ein Jahr in der neuen Umgebung, die ihm allmählich zur Heimat wurde. Eines Tages wartete die ältere Frau zum Mittagessen vergeblich auf Hans. Nahm das Essen und brachte es ihm. Der Fernseher lief, doch Hans lag tot in seinem Bett.

Das Presbyterium der Gemeinde beschloß, er solle wie jeder andere beerdigt werden, sammelte für einen Kranz, bezahlte eine Anzeige in der Zeitung. Später sollte Hans auch einen Grabstein bekommen. Zur Beerdigung kam, wie im Dorf üblich, aus jedem Haus einer, und es kamen viele Pfarrer. Es wurde eine große Beerdigung.

In seiner Beerdigungspredigt ging der Ortspfarrer wie üblich auf das Leben des Verstorbenen ein, auf seine Unruhe, seine Angst; deutete an, daß Schuld ihn getrieben, ihn immer wieder vertrieben hatte; erinnerte daran, daß Gott seine Hand auch über den hält, der Schlimmes begangen hat, und dankte der Gemeinde, daß sie diesem Flüchtling Aufnahme und Schutz gewährt hatte. Amen

Gebet:

Menschen erleiden Gewalt von Menschen, erleiden sie unschuldig oder haben sie provoziert. Guter Gott, wir bitten dich heute für alle, die Gewalt erlitten haben oder erleiden: (zwei oder drei Sprecher verlesen einige der Fürbitten für „Abel-Menschen“).

Gemeinde: Ein Kyrie aus EG 178.1 - .14

Menschen tun Menschen Gewalt an, tun es ohne erkennbaren Grund oder weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Guter Gott, wir bitten dich heute für alle Gewalttäter: (zwei oder drei Sprecher verlesen einige der Fürbitten für Kain-Menschen).

Gemeinde: Kyrie

Guter Gott, wir bitten dich: Behüte uns davor, Gewalt zu erleiden, und bewahre uns davor, gewalttätig zu werden. Laß uns Wege der Versöhnung suchen und finden; hilf uns, aufeinander zuzugehen statt gegeneinander anzugehen.

Gemeinde: Kyrie

Liedvorschläge

Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (Wochenlied) EG 343; Mir nach, spricht Christus, EG 385; O Durchbrecher aller Bande, EG 388; Nun aufwärts froh den Blick gewandt, EG 394

Zur Gottesdienst-Vorbereitung:

In einer Gemeindegruppe wird der Predigttext diskutiert, die Teilnehmer schreiben dann auf „Kainkarten“ und auf „Abelkarten“ solche Personen oder Ereignisse aus Geschichte und Gegenwart, auf die sie die beiden Figuren übertragen können, sprechen dann etwa zu dritt darüber..

In einem nächsten Schritt kann noch Gelegenheit sein, sich zu erinnern und (in Kleingruppen) einander zu berichten, wo man schon einmal Abel, wo schon einmal Kain war.

Danach werden in Kleingruppen Fürbitten für „Kain-Menschen“ und „Abel-Menschen“ formuliert, die im Gottesdienst vorgetragen werden..

Paul Kluge, Wasserstr. 3, D-39114 Magdeburg
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
E-Mail privat: Paul.Kluge@t-online.de
dienstlich: diakonie-kps@t-online.de


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