Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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13. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2000
Predigt über Genesis 4, 1-16a,
verfaßt von Paul Kluge

Zur Gottesdienst-Vorbereitung

Liebe Gemeinde!

„Ist es nicht so: Wer recht handelt, darf frei aufschauen. Wenn aber einer nicht recht handelt, dann lauert die Sünde vor der Tür und will ihn verführen. Du aber sollst Herr werden über die Sünde!“

So, liebe Geschwister, hatte Gott zu Kain geredet. Denn Kain hielt mit finsterer Miene den Blick gesenkt. In seinem Inneren rumorte es. Wieder einmal war er zurückgesetzt, war sein kleiner Bruder vorgezogen worden. Das war schon immer so gewesen, und irgendwann einmal reicht es. Was lange gärt, wird endlich Wut. Und die will ´raus, will zuschlagen, will zerstören.

Kain, der Erstgeborene, der ganze Stolz seiner Eltern. Umsorgt und gehegt, gehätschelt und verwöhnt. Alles drehte sich nur um ihn. Ein Mucks, und die Mutter nahm ihn zu sich, hielt ihn warm und weich im Arm, legte ihn an die Brust. War er satt und trocken, nahm der Vater ihn, und er sog den Geruch von Erde und Sonne, den Geruch von Stärke und Zuverlässigkeit tief in sich hinein. Kain, der Erstgeborene, fühlte sich rundum sicher und geborgen, er wurde geliebt. So wurde er ein heiter-zuversichtliches Kind, das seine Umgebung mutig entdeckte. Und wenn er sich einmal am Kopf eine Beule stieß, sich einen Dorn in den Fuß trat: Vater und Mutter waren immer für ihn da, trösteten ihn, machten ihn wieder lachen. Sie waren stolz auf ihn, und so war auch er stolz auf sich, den Einzigen, den Sonnenschein, den Wonneproppen. Wenn er von seinen kleinen Streifzügen eine Blume mitbrachte, einen Käfer, einen Stein: Die Eltern freuten sich und nahmen die Gaben dankbar an. Die Mutter küßte ihn dann, und der Vater streichelte ihm übers Haar. Das tat so richtig gut.

Eines Tages kam er mit Gejohle angerannt, in der Hand ein Nest mit jungen Mäusen. Das streckte er dem Vater stolz entgegen. „Ruhe!“ befahl der unwirsch. Kain war verwirrt, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Hatte er etwas falsch gemacht, war das Geschenk nicht gut genug, mochte der Vater ihn plötzlich nicht mehr? Er schluckte, und dann hörte er ein ihm fremdes Geräusch. Der Vater nahm ihn an die Hand, legte den Finger auf die Lippen und schlich auf Zehenspitzen in Richtung Geräuschquelle. Da lag etwas zerknittertes Rosiges, sah fast aus wie ein kleiner Mensch. „Dein Bruder!“ flüsterte der Vater voller Stolz. Nebenan lag die Mutter und schlief. Doch als dieser Winzling noch einmal muckste, schlug sie die Augen auf, nahm dieses Etwas vorsichtig auf und legte es sich an die Brust, legte es an seinen Lieblingsplatz. Kain riß sich von der Hand des Vaters los, lief ins Freie. Tränen standen ihm in den Augen, Tränen der Enttäuschung, der Verlassenheit, und er bekam das Gefühl, seinen Eltern nicht gut genug zu sein – hätten sie sich sonst ein neues Kind geholt?

Sein Gefühl, nicht gut genug zu sein, setzte sich fest. Bekam täglich neue Nahrung. Seine Mutter und auch sein Vater hatten kaum noch Zeit für ihn, er fühlte sich vernachlässigt, zurückgesetzt, ausgestoßen, fühlte sich wie aus dem Paradies vertrieben: Alles, was bisher für ihn da war, hatte nun sein Bruder, für Kain war es tabu und verloren. Er wollte es aber wiederhaben, wollte die ganze Zuwendung und Liebe seiner Eltern zurückerobern.

Er kannte sie gut genug um zu wissen, womit er sie erfreuen, sie wieder stolz auf ihn machen konnte. Doch wie er sich auch anstrengte: Er schaffte es nicht mehr. Einmal hatte er vor den Augen seiner Eltern ein Lamm aus einem Bach gerettet. Doch die sprachen nur davon, daß der Kleine an dem Tag seine ersten Schritte getan hatte. Lief er, Kain, nicht wie ein Wiesel? Ein paar Jahre später zog er allein den Pflug über das Feld, zog gerade und tiefe Furchen, wie sein Vater das nie geschafft hatte. Sein Bruder half einer Kuh beim Kalben, und das war das Ereignis des Tages. Solche Erlebnisse, solche Erfahrungen kränkten ihn jedes mal, demütigten ihn – und weckten seinen Trotz: Er würde es seinen Eltern schon noch zeigen, wer er war. Er baute sich ein Haus und begann, eigenes Land zu beackern, probierte erfolgreich neue Anbaumethoden aus, hatte ein Händchen für alles, was in der Erde war und aus ihr kam. Sein Bruder trieb sich bei den Herden herum, ließ Schafe und Rinder sich vermehren und vertrieb ab und zu mal ein Raubtier. Doch ein verjagter Wolf zählte bei den Eltern offenbar mehr als eine gute Getreideernte.

An einem sonnigen Tag im Frühherbst hatte Kain einen Korb geflochten und ihn gefüllt: Duftende, saftige Orangen, Weintrauben, dick und süß wie nie zuvor, leuchtend gelbe Honigmelonen, knackige rote Äpfel, leckere Birnen und was sein Feld sonst noch alles hergab. Das Ganze dekorierte er mit den buntesten Blumen, dann nahm er den Korb auf die Schultern und ging zu seinen Eltern. In einiger Entfernung sah er seinen Bruder gehen, auf den Schultern ein Lamm. Durchschnittsware. Als er das Elternhaus erreichte, waren sein Bruder und sein Vater dabei, das Lamm zu schlachten, die Mutter emsig mit Essensvorbereitungen beschäftigt. Keiner hatte ein Auge für ihn und seinen schönen Korb. Er stellte ihn vor dem Haus ab, stellte ihn in die Sonne: Da würden sie ihn schon sehen, dachte er und verzog sich.

Als er nach geraumer Zeit zurückkam, saßen die drei fröhlich beim Essen. Der Korb stand immer noch in der Sonne: Die Blumen verwelkt, Wespen hatten sich auf das Obst gestürzt, und gerade hob ein Hund sein Bein gegen den Korb.

„Komm mal mit, ich muß mit dir reden!“ sagte er zu seinem Bruder, dabei dachte er: „Ich bring ihn um!“ Der Gedanke faszinierte ihn, und als der Bruder nach einem tiefen Schluck Wein herauskam, konnte Kain ihm nicht in die Augen sehen.

Schweigend gingen die beiden nebeneinander her. Kain hielt mit finsterer Miene den Blick gesenkt. In seinem Inneren rumorte es. Wären alle seine Probleme gelöst, wenn er den Bruder erschlüge? Immerhin wäre er dann wieder der Einzige, und niemand könnte ihn zurücksetzen, ihn demütigen. Doch würde er die Liebe seiner Eltern durch einen Mord zurückgewinnen? Aber er konnte diesen Kerl nicht mehr ertragen, er mußte es tun. Das spürte er immer deutlicher.

„Du wolltest mit mir reden?“ fragte der Bruder. „Ja, wollte ich. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe einen besseren Plan.“ Kain schwieg wieder, den finsteren Blick gesenkt.

„Wir haben seit Jahren nicht mehr richtig miteinander gesprochen,“ bemerkte der Bruder schließlich, „eigentlich noch nie. Ich habe das Gefühl, du verachtest mich, den Jüngeren, den Schwächeren, das Muttersöhnchen. Und ich habe dich immer bewundert: Alles, was ich noch nicht konnte, konntest du schon, was ich noch nicht durfte, durftest du schon. Ich hätte viel von dir lernen können, doch du hast dich mir immer entzogen. Statt bei Muttern zu hocken, wäre ich viel lieber mit dir herumgestrolcht. Aber sie ließ mich nicht, hatte Angst um mich. Und Vater hat immer gesagt: ´Sieh dir den Kain an, mein Junge, ein richtiger Kerl ist das, stark und mutig’. Doch ich war nicht so stark, nicht so mutig wie du als der Ältere. Konnte es auch gar nicht werden. Vaters Worte und wie Mutter mich behütete, das machte und das hält mich schwach und ängstlich. Am liebsten ginge ich weg, weit weg, um endlich auf eigene Füße zu kommen. Und wenn ich dabei vor die Hunde ginge. Oder nach Jahren abgewrackt zurückkommen müßte. Du hast es geschafft. Hast dein Haus, dein Land, bist ein guter Ackerbauer, und Vater ist stolz auf dich. Weißt du das? Doch mir traut er nichts zu, und wenn ich mal aus sicherer Entfernung einen Wolf mit Steinwürfen vertreibe, dann macht er ein schon fast peinliches Aufhebens davon. – Sag mal, Kain, hilfst du mir wegzukommen, und sei es als Knecht bei dir? Ich halte das nicht länger aus!“

Der Bruder schwieg, und Kain schwieg auch. In ihm rumorte es. Was er da gehört hatte, war völlig neu für ihn, warf ein völlig neues Licht auf den Bruder. Und auf die Eltern. Hatte er, Kain, vielleicht zu sehr auf sich gesehen und zu wenig auf seinen Bruder? Doch hatten die Eltern ihm nicht reichlich Anlaß gegeben, auf seinen Bruder eifersüchtig zu sein? Und was wußte der Bruder davon?

„Nun hör du mir mal zu,“ forderte Kain. Dann erzählte er seinem Bruder von den erlittenen Zurücksetzungen und Demütigungen, von den vergeblichen Versuchen, die Liebe der Mutter, den Stolz des Vaters zu behalten, wiederzuerlangen. Erzählte von den vielen Enttäuschungen, erzählte vom Obstkorb, dessen Früchte nun wohl schon faulen würden, dessen Blumen wohl schon Heu wären in der Hitze. „Und deshalb hasse ich dich,“ schloß Kain und schwieg.

Der Bruder schwieg auch. Beide schwiegen lange, bedachten das Gehörte, das Gesagte. Begannen allmählich, einander ein wenig zu verstehen. „Wir sollten öfter miteinander reden,“ schlug der Bruder vor, „über uns, über unsere Kindheit, wie unterschiedlich wir sie und uns und die Eltern erlebt haben, und wie aus verschiedenem Erleben Mißverständnisse und Vorurteile, Eifersucht und Haß entstanden sind.“ Kain schwieg. In seinem Inneren rumorte es.

Ihr Weg, auf den sie nicht geachtet hatten, hatte sie in die Nähe von Kains Haus geführt. „Laß mich bei dir bleiben, und sei es als dein Knecht!“ bat der Bruder, doch Kain lehnte ab: „Geh zu den Eltern zurück, laß dir wie ich einen Teil deines Erbes auszahlen und stell dich endlich auf deine eigenen Füße. Dann können wir Brüder sein.“

Für einen Moment leuchtete es in den Augen des Bruders auf, doch dann zeigte sein Gesicht eine Mischung aus Angst und Trauer: „Vater wird verärgert sein, wenn ich ihn um meinen Anteil bitte, und Mutter wird weinen, wenn ich gehe. Bitte, Kain, nimm mich mit!“ Er faßte seinen Bruder am Arm, klammert sich fest.

In Kains Ohren rauschte es, vor seinen Augen flimmerte es dunkel, dann schlug er zu, schlug immer wieder zu, bis sein Bruder am Boden lag. Mit einem schweren Stein gab er ihm den Rest. Kains Atem ging schwer, und innerlich war er völlig leer. Wie in Trance ging er nach Haus, packte ein paar Sachen zusammen und ging davon. Fing bald an zu laufen, bis er nicht mehr konnte, fiel in einen unruhigen Schlaf, zog am nächsten Morgen weiter.

Irgendwann einmal versuchte er, an einem ihm unbekannten Ort zu bleiben, wollte neu anfangen, dort, wo keiner seine Schuld kannte. Doch die Schuld kannte ihn, verfolgte ihn, trieb ihn immer weiter und holte ihn immer wieder ein. Und er hatte niemanden, dem er seine Schuld bekennen konnte. Er hatte sich von seinem Gott getrennt.

Nach Jahren ruheloser Wanderung fand er einen Ort, an dem er etwas Ruhe fand und schließlich blieb. Er baute sich eine kleine Hütte, bebaute etwas Land, nur für die eigene Versorgung. An einem warmen Abend im Frühherbst - er hatte einige Früchte geerntet und wollte sie essen - überfiel ihn die Erinnerung an die begangenen Tat noch einmal, doch er mußte nicht mehr vor seiner Schuld fliehen. „Ein Mann des Todes war ich,“ dachte er, „doch ich lebe noch. Niemand hat meine Tat an mir gerächt. Der Fluch der Flucht scheint gebrochen. Sollte Gott mich - trotz allem - behütet und beschützt haben?“ Das konnte er nicht so recht glauben, und er sann lange über sein unstetes Leben nach. Je länger er nachsann, um so gewisser wurde es ihm: Er stand, trotz seiner Vergangenheit, unter Gottes Schutz. Manche Begebenheit fiel ihm ein, die ihm gefährlich hätte werden, sein Leben kosten können. Doch er lebte, und das war ihm wie ein unverdientes Geschenk. Er fühlte Dankbarkeit in sich aufsteigen, und diese Dankbarkeit formte sich zu einem Gebet ohne Worte. Das erste Gebet nach vielen, vielen Jahren, und er hatte das Empfinden, sein Dank wurde gehört. In dieser Nacht konnte er ruhig schlafen.

Amen

Gebet:

Menschen erleiden Gewalt von Menschen, erleiden sie unschuldig oder haben sie provoziert. Guter Gott, wir bitten dich heute für alle, die Gewalt erlitten haben oder erleiden: (zwei oder drei Sprecher verlesen einige der Fürbitten für „Abel-Menschen“).

Gemeinde: Ein Kyrie aus EG 178.1 - .14

Menschen tun Menschen Gewalt an, tun es ohne erkennbaren Grund oder weil sie keine andere Möglichkeit sehen. Guter Gott, wir bitten dich heute für alle Gewalttäter: (zwei oder drei Sprecher verlesen einige der Fürbitten für Kain-Menschen).

Gemeinde: Kyrie

Guter Gott, wir bitten dich: Behüte uns davor, Gewalt zu erleiden, und bewahre uns davor, gewalttätig zu werden. Laß uns Wege der Versöhnung suchen und finden; hilf uns, aufeinander zuzugehen statt gegeneinander anzugehen.

Gemeinde: Kyrie

Liedvorschläge

Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ (Wochenlied) EG 343; Mir nach, spricht Christus, EG 385; O Durchbrecher aller Bande, EG 388; Nun aufwärts froh den Blick gewandt, EG 394

Zur Gottesdienst-Vorbereitung:

In einer Gemeindegruppe wird der Predigttext diskutiert, die Teilnehmer schreiben dann auf „Kainkarten“ und auf „Abelkarten“ solche Personen oder Ereignisse aus Geschichte und Gegenwart, auf die sie die beiden Figuren übertragen können, sprechen dann etwa zu dritt darüber..

In einem nächsten Schritt kann noch Gelegenheit sein, sich zu erinnern und (in Kleingruppen) einander zu berichten, wo man schon einmal Abel, wo schon einmal Kain war.

Danach werden in Kleingruppen Fürbitten für „Kain-Menschen“ und „Abel-Menschen“ formuliert, die im Gottesdienst vorgetragen werden..

Paul Kluge, Wasserstr. 3, D-39114 Magdeburg
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen
E-Mail privat: Paul.Kluge@t-online.de
dienstlich: diakonie-kps@t-online.de


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