Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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12. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2000
Predigt über Apostelgeschichte 3, 1-10,
verfaßt von Christoph Lang

Liebe Gemeinde in N.,

das ist schon ein verrücktes Ding, das ich da erlebt habe. Und nun soll ich Ihnen davon erzählen. Ich will’s versuchen. Naja, ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht sicher, ob ich nicht vielleicht geträumt habe. Ich bin Tempeldiener, und manchmal wird mir schwindelig, und dann muß ich mich schnell hinsetzen. Ach so, Entschuldigung, Jonathan ist mein Name. Ja, seit vielen Jahren schon tue ich meinen Dienst, und da erlebt man so allerhand. Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen... Aber Sie wollen ja meine Geschichte hören, und ich habe wohl nur eine Viertelstunde Zeit, hat man mir gesagt.

Also, das, liebe Leute, das war doch irgendwie etwas ganz Außergewöhnliches, so etwas habe ich noch nie erlebt! Ich hatte gerade meinen Dienst beendet, wir wechseln uns im Schichtdienst ab. Um 14 Uhr endet meine Frühschicht. Wir haben das erste Brandopfer bei Morgenröte darzubringen, und dann gibt es allerhand zu tun im Tempel, bis die Ablösung kommt. Die Spätschicht übernimmt dann das zweite tägliche Brandopfer, wissen Sie, das einjährige Lamm wird da geopfert, immer um drei Uhr mittags. Und um die Zeit stehen wir – die Tempeldiener von der Frühschicht – meist noch so ein wenig herum, man trifft sich und diskutiert über Gott und die Welt.

Manchmal kommen dann auch Fremde dazu, und die bringen meistens interessante Neuigkeiten. Reisende aus aller Welt, die in der Stadt Jerusalem anbeten wollen. Die machen gerne mal einen kleinen Handel vorher, oder man hört von den neuesten Plänen der Herren Politiker. Und natürlich sieht man auch allerhand kleines Volk, Arme, Bettler, Obdachlose... Glanz und Elend so nah nebeneinander, da wünscht man sich manchmal schon eine kleine Revolution. Unser einer lebt ja nicht schlecht als Tempeldiener, doch es gibt zu viele, denen es so dreckig geht, um die sich keiner kümmert in diesen Tagen.

Jedenfalls unterhielt ich mich gerade mit meinen Kollegen von der Frühschicht, als zwei Wanderprediger plötzlich für Aufruhr sorgten. Das gibt es ja immer wieder im Tempelbezirk, und es war schon das erste Wunder, daß die Tempelwache nicht sofort eingegriffen hat. Aber die waren auch wie gelähmt, die Tempelpolizisten, als sie sahen, was da geschah.

Am sog. "Schönen Tor", das von Osten her, vom Vorhof der Heiden in den Frauenvorhof führt, an diesem "schönen Tor" saß ein stadtbekannter Bettler, eine jämmerliche Gestalt, gelähmt seit seiner Geburt. Wir nannten ihn immer nur den "Heuler", zugegeben ein böser Spitzname, aber es stimmte: er sah zum Heulen aus, und er jammerte tagein tagaus. Mit ihm gaben sich plötzlich zwei Fremde eine ganze Zeit lang ab. Einer von den beiden gab ihm die rechte Hand. Und richtete ihn auf. Menschen standen drum herum. Die Tempelpolizei blickte argwöhnisch hinüber, griff aber nicht ein. Jubel machte sich breit, Geschrei und fröhliches Singen.

Und dann sahen wir alle das Wunder: Der "Heuler", der Gelähmte hüpfte umher wie ein junges Reh, er tanzte, klatschte in die Hände, und das Volk, das dabei stand, klatschte und jubelte. Und dann zogen sie gemeinsam, diese beiden Wanderprediger, und der "Heuler", der geheilt war von seiner Lähmung, hinein in Richtung Tempel, um bei der Darbringung des Mittagsopfers mitzubeten.

Auch wir liefen hinterher, neugierig, was da gerade abgeht: Ein Mensch, der seit seiner Geburt gelähmt war, konnte gehen, stehen, tanzen und springen! Mir wurde wieder schwindelig, aber ich war hell wach. Wir gingen dahin, wo jetzt alle zusammenliefen, und fragten andere: Sagt mal, was wird hier eigentlich gespielt?

Eine junge Frau antwortete: "Kennt Ihr nicht Petrus und Johannes, die beiden Wundertäter, die dem Nazarener nachfolgen?" Gehört hatte ich von diesen "Christen", aber daß die auch Wunder tun, das war mir neu. Ich wußte nur, daß Jesus von Nazareth gekreuzigt worden war, und daß seine Jünger glaubten, er sei auferstanden.

Aber die Menge hier schien eher an Petrus und Johannes zu glauben. Und auch ich gestehe, daß mich diese beiden Wundertäter faszinierten. Ein anderer erzählte: "Habt Ihr das gesehen? Petrus und Johannes haben den "Heuler" geheilt! Petrus hat ihm die rechte Hand hingestreckt, ihn auf die Füße gestellt und aufgerichtet. Er, der zeit seines Lebens Gelähmte ist geheilt! Das gibt es doch gar nicht!"

Auch ich dachte zuerst bei mir: Das gibt es nicht. Da muß ein Trick dabei sein. Doch eine andere Frau sagte: "So hat es Petrus gesagt: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Das hat er gesagt!"

Im Namen Jesu Christi von Nazareth... In diesem Namen mußte eine besondere Kraft stecken, ein Geheimnis. Und ich dachte bei mir: Vielleicht können die auch mich heilen mit meinen Schwindelanfällen. Mich, den alten Jonathan, Tempeldiener seit über dreißig Jahren, ob sie für mich auch einen Handschlag übrig hätten?

Doch ich kam gar nicht dazu, mich ihnen vorzustellen. Das zusammen gelaufene Volk scharte sich um die beiden Helden, und ich hatte keine Chance. Allerdings hörte ich dann etwas, was mein Leben doch verändert hat. Petrus, einer der beiden Wanderprediger, fing plötzlich mitten im Getümmel an zu predigen. Das, liebe Leute, hat mich wirklich umgehauen. Es hat mein Leben radikal neu gemacht. Neben Petrus stand der "Heuler", der geheilt war, mit einem Strahlen im Gesicht, wie es kein Mensch für möglich gehalten hätte. Petrus deutete in wenigen Worten, was da eben gerade geschehen war. Und das Volk wurde mucksmäuschenstill. "Ihr Israeliten", fing er in ruhigem Ton an, "was wundert Ihr euch über die Heilung? Was starrt Ihr uns beide an, als ob wir mit eigener Zauberkraft oder geistiger Gewalt bewirkt hätten, daß der Gelähmte wieder gehen kann?

Vielmehr hat der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, seinem Sohn Jesus Macht von seiner Macht und Glanz von seinem Glanz verliehen. Ihr kennt ihn", sprach Petrus behutsam weiter, "Ihr habt ihn einst den Römern ausgeliefert und Euch von ihm losgesagt, als gehörte er nicht zu Euch, während Ihr vor Pilatus standet, als Pilatus gerecht über ihn urteilte und ihn freilassen wollte. Ihr aber wolltet den Heiligen und Gerechten nicht haben und batet den Pilatus, er möge euch einen Mörder schenken, Barrabas."

Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Wie recht Petrus hatte – es war eine Schande gewesen, und wir waren alle wie gelähmt in diesem Prozeß des Jesus von Nazareth. Doch Petrus fuhr fort: "Den Urheber des Lebens habt Ihr umgebracht, Jesus Christus, doch Gott war es, der ihn lebendig machte. Dafür stehen wir hier als Zeugen."

Mein Schwindelgefühl nahm wieder zu. Ich spürte: Hier ist etwas ganz Besonderes passiert. Diese beiden Männer heilen nicht in ihrem eigenen Namen. Diese beiden sind im Auftrag des auferstandenen Jesus unterwegs. Und Petrus fügte dem allem hinzu: "Dieser Gelähmte, den Ihr seht und kennt, wurde geheilt im Namen Jesu Christi. Christus selbst, der Auferstandene, hat diesem die Kraft gegeben, sich aufzurichten, wieder aufrecht zu stehen und wieder gehen zu können."

Petrus redete noch weiter, aber bei mir war der Groschen längst gefallen. In mir hörte ich eine Stimme sagen: Jonathan! Im Namen Jesu Christi, des Auferstandenen, ist Heil und Rettung. Dieser Jesus lebt und hat Kraft, Menschen das Heil zu bringen. Er ist der verheißene Messias! Ich wurde ergriffen von einer tiefen Freude und einem inneren Frieden. Ich ging in den Tempel und dankte Gott. Ich bat Gott auch, daß er mir im Namen Jesu Christi diesen unberechenbaren Schwindel wegnehmen möge.

Als ich gegen fünf Uhr aus dem Tempel kam, war niemand mehr zu sehen. Einer der Tempelpolizisten, den ich kannte, erzählte mir, daß sie Petrus und Johannes verhaftet hatten. Also doch, dachte ich. Und mein Schwindelgefühl war auch noch da. War alles nur ein Traum? War das alles nur Einbildung, daß da einer, der sein Leben lang gelähmt war, plötzlich ein neues Leben anfangen konnte? Ich war ziemlich durcheinander.

Auf dem Vorhof der Heiden fand ich dann andere Christen, die mich in ihre Hausgemeinde einluden. Einfache und Gebildete, Arme und Reiche. Alle sind sie unterwegs, um Jesus Christus nachzufolgen. Hier gilt kein Ansehen der Person. Natürlich haben alle ihre Ecken und Kanten. Aber: Sie alle leben aus der Vergebung der Liebe Gottes. Das hat mich besonders beeindruckt.

Ich bin seitdem regelmäßig mit ihnen zusammen, wir studieren die alten Schriften und entdecken darin die Verheißungen Gottes, wie sie in Jesus von Nazareth erfüllt sind. Wir beten auch für den Dienst der Apostel, und: wir teilen alles, so gut es geht, miteinander. Unser Geld, unser Essen, die Freude und das Leid werden geteilt. Ich tue weiter meinen Dienst im Tempel, und mein Schwindel ist noch nicht ganz verschwunden.

Aber ich habe jetzt gefunden, wonach ich solange gesucht habe: Mein Leben hat eine neue Mitte, eine Basis, ein Ziel. Ich vertraue Jesus Christus. Und bin immer noch Tempeldiener. Und bin es gerne. Ich ehre den Gott Abrahams, Isaaks, und Jakobs, den Gott der Väter, daß er uns in Jesus Christus das Leben geschenkt hat.

Und Ihr, liebe Leute, wie steht’s mit Euch? Was könnte meine Geschichte für Euch bedeuten?

Mir ist immer noch lebhaft in Erinnerung, daß die Heilung des Gelähmten nur durch einen Händedruck geschah. Ein einziger Händedruck veränderte das Leben des "Heulers". Ein einziger Händedruck kann auch heute Heilung bringen, Menschen verändern, Versöhnung ermöglichen. Darum erzähle ich diese Geschichte bis heute.

Mir fällt auf, daß Ihr und Eure Kirche manchmal wie gelähmt wirkt. Mir fällt auf, daß heute wie damals Christen oft genug nicht weiter wissen. "Silber und Gold habe ich nicht!" Ein höchst aktueller Satz auch in Euren Kirchen! Wir wissen an vielen Stellen nicht weiter, wahrlich. Denn gerade das, was wir der Welt als das wirkliche und einzige Heilmittel anbieten können, das können wir eben nur anbieten, wir können nicht darüber verfügen. Gott allein tut Wunder – wir können sie nicht machen. Dennoch: Die Kirche gleicht dem lahmen Menschen, zu dem das Wort Gottes gekommen ist. Das Wort Gottes kommt zu dem lahmen Menschen, ihn aufzurichten, zu tragen, in Bewegung zu setzen, ihn zu seinem Eigentum zu machen. Das Wort mit dem Lahmen, das ist die Kirche – mit dem Lahmen, der kein Held, kein Weiser, kein Großer ist; aber der gehen kann, der Gott loben kann und es auch tut.

Wir wissen nicht weiter. Petrus sagt es am Ende seiner Predigt so: "Tut Buße und bekehrt euch!"

Ich, Jonathan, habe diese Geschichte erzählt, damit Ihr umkehrt, Hoffnung und Mut bekommt für Euer Leben und für Eure Kirche. Manchmal reicht ein längst fälliger Händedruck in Deiner Nachbarschaft aus, damit ein Wunder geschieht zwischen zwei Menschen. Und im Blick auf die Kirche gilt: Der Glaube an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, macht Lahme gehend. Unserer Kirche, wenn sie lahm geworden ist, weil sie zu sehr auf Gold und Silber vertraut hat, macht diese Geschichte, macht dieser Glaube Beine: "Steh auf und geh umher!"

Amen.

Pfarrvikar Christoph Lang, Tannenweg 14, 74821 Mosbach-Neckarelz
Fon 06261/35652.
eMail: LangCh@aol.com


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