Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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10. Sonntag nach Trinitatis
27.8.2000
Römer 9,1-5.31 - 10,4

Heinz Behrends

Homiletische Überlegungen

Liebe Gemeinde!

Wenn ich sagte, ich will heute über Israel und die Kirche sprechen, werde ich Ihr Interesse vermutlich nicht wecken können. Wenn ich Sie aber frage: Kommen Sie klar mit Ihrem großen Bruder? werden Sie gewiß neugierig. Nichts ist so interessant wie Beziehungen im engsten Kreis der Familien. Nichts ist so aufregend wie die Geschichten von Menschen, die eng zueinander gehören. Die Geschichte der Beziehung von Juden und Christen in den letzten 2000 Jahren ist so eine Geschichte, die einen benommen machen kann. Denn die Juden sind so etwas wie unsere großen, unsere älteren Brüder.

Der Apostel Paulus steckt mitten drin in so einer Beziehungsgeschichte. Er ist groß geworden in der Religion, im Glauben seiner Väter, er kennt die Texte, die Feste, die Rituale. Plötzlich lernt er die Gedanken des Mannes kennen, der das alles neu deutet. Er ist davon fasziniert. Und da er anders als die Fischer, Petrus und seine Freunde, ein Intellektueller ist, muß er die Verknüpfung des Glaubens seiner Väter mit der neuen Auslegung durch Jesus von Nazareth mit seinem Kopf bewältigen. Ihn reibt das sehr auf. Es ist so als wenn sich jemand von seiner Familie mit seinem Denken löst, sie aber nicht verlieren will. Er will nicht gegenüber seinen Brüdern als Verräter dastehen, aber doch zu seinen neuen Erkenntnisses stehen. In seinen Briefen klingt seine Auseinandersetzung immer wieder durch. Die reifste und umfassendste steht im Brief an die Gemeinde in Rom, in den Kapiteln 9 bis 11. Wenn man sich vor seinen Eltern und Brüdern rechtfertigt, dann geht das nicht anders als daß es emotional und auch überpointiert formuliert ist. So ist das auch im Römerbrief. Ich lese daraus nur einen kleinen Abschnitt.

Textlesung

Da ringt er mit seiner Vergangenheit und seinem neuen Glauben. "Ich lüge nicht. Mein Gewissen. Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß. Ich selber wünsche, verflucht und getrennt zu sein. Stein des Anstoßes. Ich flehe zu Gott. Ich bezeuge. Sie haben keine Einsicht." Auf der anderen Seite haben die Juden vor allen anderen alle Gaben, die Gott zu verschenken hat: die Kindschaft, den Bund, die guten Weisungen, den Schatz des Gottesdienstes, die Verheißungen, die Geschichten der Väter.

Paulus läßt uns in seinen inneren Kampf hineinschauen. So sehr ich mich auch abstrampele, gerecht sprechen kann mich allein Gott. Das ist seine große Erkenntnis, die ihn frei macht. Das kann wohl nur der verstehen, der meint, er müsse immer schön und gut und perfekt sein und dem man sagt: Das ist doch alles nicht nötig, ich mag dich auch so. Für diese Erkenntnis will er seine großen Brüder gewinnen.

Aber das ist gründlich daneben gegangen. Die Wirkungsgeschichte dieses Textes und vergleichbarer anderer Gedanken zum Thema im Neuen Testament über die folgenden 1900 Jahre ist verheerend. Alles was dem Glauben der großen Brüder, der Juden, anhängt, wird ausgeschlossen, verbrannt, verhext und ermordet. Ungeheuerlich, mit welcher Arroganz die Juden im Namen Jesu diffamiert wurden. "Die haben Christus umgebracht", wurde getönt. Es kümmerte sie nicht, daß sie gleichzeitig das Kreuz Christi als das Opfer verstanden, das Gott für die Versöhnung der Welt bringt. Selbst ein kluger Mann wie Luther konnte sich in seinem Denken und Reden verrennen und den Tod der Juden fordern. Das Bild der Juden wurde über Jahrhunderte von Menschen der Kirche so tief geprägt, daß Ausschwitz möglich wurde und nur wenige widersprachen.

Vielleicht ist es der tiefe Schock dieses Unfaßbaren, daß vor etwa 30 Jahren die ersten Versuche eines Dialogs zwischen Juden und Christen möglich wurden. Gemeinsamkeiten wurden bewußt: Wir teilen das Alte Testament als gemeinsame Bibel. In den Psalmen haben wir gemeinsame Gebete. Christus war ein Jude und nichts anderes. Im Rahmen des jüdischen Denkens hat er gelebt. Als Jude ist er gestorben. Wir teilen die Zehn Gebote als gemeinsamen Kodex. Wie unwissend Menschen sind, spüre ich, wenn manche sich distanziert gegenüber allem Jüdischen zeigen, aber behaupten, die Zehn Gebote seien die Quintessenz alles Christlichen. Die Gebote sind eindeutig Worte der Thora, des Gesetzes der Juden. Selbst die Forderung der Nächstenliebe ist Teil der Thora und nicht Erfindung der Christen.

Aber langsam wächst das Gespräch von Christen und Juden. Es ist so interessant wie das Gespräch zweier Brüder über ihren Vater. Für manchen steht am Ende dieses Dialogs eine Faszination allen Jüdischen. Wenn in der Marktkirche Hannovers der christliche Stadtsuperintendent und der jüdische Landesrabbiner ihren jährlichen Dialog über Thema des Glaubens der Juden und der Christen führten, fühlte sich mancher christliche Zuhörer dem jüdischen Denken sehr nahe. Die Ordnung des Lebens durch Regelungen erscheint jedem sinnvoll. Die Geschichten des jüdischen Glaubens im Alten Testament sind kraftvoll und eindeutig. Die Lehren über Christus, von Versöhnung und Erlösung, Tod und Auferstehung erscheinen weniger verständlich und vernünftig. Mancher Zuhörer empfand sich in theologischer Sicht nach den Dialogen mehr als Jude denn als Christ.

Es wächst ein Respekt vor dem Glauben des anderen. Am Ende entdeckt man die gemeinsamen existentiellen Fragen, die eine lediglich unterschiedliche Antwort erhalten. Es ist die Frage, wie wir in Gerechtigkeit und Würde miteinander leben können. Wie wir vor Gott bestehen können. Wie wir einander gerecht werden, indem wir die Weisungen Gottes in unser Leben aufnehmen. Darum will ich über alle konfessionellen Grenzen hinweg im zweiten Teil meiner Predigt in das Leben eines Mannes schauen, dem sich diese Frage stellt.

Er war ein rechtschaffener Mann, solide, stand fest im Glauben und war hilfsbereit. Wenn Streit aufbrach, reichte er als erster die Hand. Andere diffamierten Penner und Verbrecher, er betreute entlassene Strafgefangene. Andere beschimpften die vergammelte Jugend, er organisierte eine Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige. Sein Gebet war intensiv: "Lieber Gott, ich danke dir für alle Kraft, die du mir schenkst, danke dir für meine intakte Familie. Ich weiß, das alles ist nicht mein Verdienst. Segne alle meine Vorhaben. Ich nur suche allein deine Ehre."

Als sein Gebet bei Gott ankam, waren sich alle maßgebenden Kreise im Himmel einig: "Den, Gott, mußt du hören. Wenn es einer verdient, dann dieser Mann." - "Wenn ich das tue, landet er in der Hölle," antwortet Gott. Entsetzen macht sich breit in der himmlischenVersammlung. "Wir wissen, daß du unfaßbar bist, Gott, " wagt sich ein Engel vor, "aber so ein Mann ist doch selbst unter Christen selten. Du mußt ihn segnen." Gott sieht die schweigende Versammlung an. "Das ist es ja, daß ich es tun muß. Aber seht seine Frau und seine Kinder an."

Die Kinder. Er erscheint ihnen so vorbildlich, daß sie sich getrieben fühlen, gleich zu werden. Er schimpft nie, aber begegnet ihnen wie ein lebendiger Vorwurf.
Seine Frau. Er ist so herzensgut, denkt sie, aber ich traue mich nie, einmal in seiner Nähe etwas für mich zu beanspruchen.
Und seine Mitarbeiter im Betrieb. Er ist so anständig, aber ohne Humor, obwohl er unsere Schwächen versteht.

Es wird still in der himmlischen Versammlung. "Seht Ihr, niemand liebt ihn, den perfekten Mann. Und er selber? Ich kenne seine Seele. Warum verlangst du so viel von mir, Gott, ist sein geheimer Gedanke. Er haßt sich und hält es nicht aus im Gefängnis seiner Vorbildlichkeit. Er möchte erlöst werden vom Zwang zur guten Tat. Er liebt sich nicht. Darum wird er auch mich nicht lieben können."

Die Engel sind ganz still geworden. "Dann mußt du ihn erst recht erhören." - "Ja, ich werde es tun, aber sein Widerstand wird groß sein, bis seine Selbstgerechtigkeit zerbricht."

Sie eifern für Gott, aber ohne Einsicht, schreibt Paulus. Sie suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten.

Ich weiß nicht, ob der Mann in der Legende ein Jude oder ein Christ war. Er könnte beides gewesen sein. Denn die Haltung der Anständigkeit und Selbstgerechtigkeit lebt in den Menschen unabhängig von ihrer Konfession oder Religion. Meistens ist es die Lebenskrise oder eine einbrechende Erfahrung, die auf einen anderen Weg der Gerechtigkeit führt. Es sind die Brüche, in denen ein Mensch spürt, daß er selbst sein Leben nicht planen und optimieren kann. Gott liebt uns nicht, weil wir brav sind, sondern weil er uns geschaffen hat, weil wir leben, atmen, neugierig sind, lieben und hassen, lachen und weinen. Die Gerechtigkeit Gottes versteht, wer zu seinen Brüchen steht. Die Gemeinsamkeiten in den Grundfragen der Existenz wiederentdecken, das ist für die kommende Zeit die vordringliche Aufgabe von Juden und Christen.

Vielleicht sind ja die beiden Skulpturen im Dom in Bamberg dafür ein eindeutiges Zeichen. Am Chorumgang im Süden stehen die beiden mittelalterlichen, in Stein gehauene Frauengestalten: Synagoge und Ekklesia. Die Synagoge, eine Frauengestalt mit leicht geschwungener Körperhaltung in leichtem Gewand, in der Hand der gebrochene Aaronsstab, ihre Augen sind verbunden. Sie sieht nicht. Daneben die Ekklesia, die Kirche, eine Frau, aufrecht stehend, majestätisch, eine Krone auf dem Kopf, herrschend, machtvoll, klarer Blick über die Menschen hinweg. Der Künstler, aber auch die Zeit haben den scheinbaren großen Unterschied der beiden ausgewogen: Die Gestalt der Synagoge ist viel hübscher, anmutiger und fraulicher als die Kirche. Die Gestalt der Ekklesia hatte einmal Kreuz und Kelch in ihren Händen. Aber ihre Hände sind abgeschlagen.

So müssen beide mir ihren Brüchen leben und sind allein angewiesen auf die Güte Gottes, der gerecht spricht.

Amen

Homiletische Überlegungen

Paulus müht sich mit Herz und Verstand in seinem Brief nach Rom um eine Rechtfertigung seiner christlichen Existenz aus den Wurzeln seines jüdischen Glaubens. Die Perikopenordnung schnippelt aus den drei Kapiteln seines Briefes einen verwegenen Zuschnitt. Der Prediger muß den ganzen Gedankenbogen des Apostels zur Kenntnis nehmen und sich für die Ausarbeitung eines Aspektes entscheiden. Er kann predigen über die Rechtfertigung, über die Verstockung Israels, über die Kraft der Thora, über das Verhältnis von Kirche und Synagoge.

Ich entscheide mich für das Thema Israel und die Kirche und kann darüber nach 2000 Jahren Geschichte nur mit Respekt und großer Demut reden. Die tiefe Verbundenheit von Juden und Christen durch die gemeinsame Wurzel will ich betonen. Da aber das Thema im engeren Sinne die Gemeinde nicht besonders interessieren wird, versuche ich, die im Text angeschlagene Thematik der Gerechtigkeit vor Gott als ein Thema menschlicher Existenz über die Grenzen der Konfession hinaus zu entfalten.

Pastor Heinz Behrends
Distelweg 8, 37077 Göttingen
Tel/fax 0551/21222
email: Heinz.Behrends@Nikolausberg.de


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