Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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10. Sonntag nach Trinitatis
27.8.2000
Jesaja 62,6-12

Ulrich Wiesjahn

Liebe Gemeinde,

wer durch die Welt reist, der findet sich manchmal in lärmenden Städten wieder, manchmal aber auch an sehr stillen, verlassenen und zerstörten Ruinen alter Kulturen. Bei denen steht man dann selbst still und sinnt über den Gang der Geschichte und des Lebens nach. Denn, wo jetzt nur Trümmer und Reste und Stille zu finden sind, da war doch einst blühendes und wunderbares Leben. So sind uns solche Ruinenstätten ernste Lehrmeister über das Bestehen und Vergehen. Nachdenklich fragen wir: Was bleibt? Was vergeht? Was ist ewig?

Für mich ist das Geschick Israels eine Lehre dafür, wie Gott diese Fragen der Menschen beantwortet. Die Einzelheiten sind als geschichtliche Tatsachen aufbewahrt worden: als Wort, als Verheißung, als Trost, als ewige Gegenwart. So lesen wir nach über zweieinhalbtausend Jahren Sätze, die uns Trauriges und Hoffnungsvolles erzählen. In beiden ist Wahrheit. Es ist wahr, daß menschliche Verhältnisse sehr traurig, sehr enttäuschend, sehr entmutigend sein können. Aber es ist auch wahr, daß Gott die Menschen auf seine Weise und mit seiner Kraft aufrichtet, erneuert und in eine gute Zukunft führt.

Beides erlebte Israel, das Gott sich auserwählt hat. Die Babylonische Gefangenschaft war so etwas wie das Ende, wie die Entwurzelung und wie das Verdorren eines Baumes. Zurück blieb in der Heimat eine öde Trümmerlandschaft. Da ertönt in der Dunkelheit die Stimme des Propheten, die Stimme Gottes und sie sagt:

"O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
Der Herr hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du soviel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den Herrn rühmen und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Siehe, der Herr läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
Man wird sie nennen "Heiliges Volk", "Erlöste des Herrn", und dich wird man nennen "Gesuchte" und "Nicht mehr verlassene Stadt". (Jesaja 62, 6-12)

Gott anzurufen, geht das? Finden wir überhaupt den Weg zu dem, von dem wir sagen: „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“? Ich hoffe, daß wir in den Stunden unserer Not, unserer Schmerzen, unserer Enttäuschungen hören können. Denn auch uns bleibt nicht erspart, was dem Volk Gottes nicht erspart geblieben ist.

Damals hörten nur wenige zu, und der Prophet Deuterojesaja fand sein Grab bei den Verachteten. Doch einige haben seine Worte bewahrt – und sie glänzten immer mehr auf, je mehr sie sich bewahrheiteten Gott ließ tatsächlich Jerusalem mit dem Heiligtum neu erstehen. Die Wege wurden geebnet und gebahnt. Die Mauern wurden wieder fest. Das Leben konnte sich erholen und stark werden.

Dazu kommt wieder ein besonderer Hinweis: Dieses alles geschieht zum Zeichen für alle Völker. Gottes Wirken hat einen doppelten Sinn: Es ist Selbstzweck; dem Armen wird geholfen. Und es ist Hinweis für alle Welt: Seht, Gott schafft Heil, betet ihn an!

So ist Israel für alle Zeiten ein Beispiel für Gottes Wirken am menschlichen Geschick. Wenn Israel noch so viele Katastrophen heute erlebte, so soll das alles uns ein Gottesbeweis sein. Als Friedrich der Große einmal spöttisch nach einem Gottesbeweis fragte, da antwortete ihm ein frommer General: „Majestät, die Juden!“

Was hören und sehen wir, die wir auf den Trümmerfeldern des Lebens und der Geschichte stehen? Wir hören, daß Gott Engel, - Wächter -, über den Trümmern bestellt hat, damit diese unablässig Gott anrufen, damit er Jerusalem neu erstehen lassen. Die Anrufung Gottes ist so unabdingbar, daß sie nicht Menschen überlassen bleiben darf, Engel müssen Gott anrufen. Wenn dann Leben wieder möglich ist, soll es anschließend den Menschen zum Lobpreis dienen. Loben steht vor allem. Loben und Preisen steht noch vor dem Bitten und Flehen. So wird auch Jesus später die Prioritäten setzen: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles andere auch zufallen“ (Matthäus 6,33).

An dieser Stelle frage ich mich und Sie, liebe Gemeinde, ob uns dieses bewußt ist: Im tiefsten Leid sollen wir unablässig Gott anrufen, um ihn zu loben, zu preisen und zu verherrlichen? Finden wir diesen Weg zu dem, von dem wir sagen: „denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“? Ich hoffe, daß wir hören können in den Stunden unserer Not, unserer Schmerzen, unserer Enttäuschungen, denn auch uns bleibt nicht erspart, was dem Volk Gottes nicht erspart geblieben ist.

Auf uns hier, liebe Gemeinde, übertragen bedeutet das alles: Wer in den Ruinen und Schmerzen und Enttäuschungen seines Lebens Gottes Zuruf hört, ihm trotz allem die Ehre gibt und die Gewißheit, nicht verloren zu sein, in sich spürt – der ist ein Beispiel und Vorbild für andere. Seien wir nur gewiß, daß die Menschen um uns her sich nach solchen tapferen Vorbildern sehnen.

(Evtl. nochmalige Verlesung von Jesaja 62, 6-12)

Amen

Pastor Ulrich Wiesjahn
Obere Kirchstr. 4
38640 Goslar
Tel. 05321 - 22647


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