Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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7. Sonntag nach Trinitatis
6.8.2000
Philipper 2, 1-4

Jürgen Ziemer

Anmerkungen

Philipper 2, 1-4
Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als siich selbst, und ein jeglicher sehe nicht aus das Seine, sondern auf das, was dem andern dient.

Liebe Gemeinde!

Die Christen in Philippi, einer heute versunkenen Stadt in Kleinasien, bildeten eine wirklich „gute Gemeinde“, wenn man das so sagen darf. „Ich danke Gott, sooft ich eurer gedenke“ (1,3), bekannte Paulus gleich zu Beginn seines Briefes an sie. Die Gemeinde war nicht eben groß, und Philippi war nicht gerade der Nabel der Welt. Aber das Gemeindeleben stimmte. Es war hier etwas lebendig von dem, was das Wesen des Glaubens ausmacht: Das Wort Jesu wurde gehört, die Praxis einer von ihm ausgehenden Liebe war spürbar. Paulus war sicher: Hier wehte der Geist Gottes. Und darüber hinaus klappte es auch auf organisatorischem Gebiet - bis hin zum Gemeindehaushalt. Das gab es damals! Paulus fühlte sich der Gemeinde zu Philippi sehr verbunden. Von ihr nahm er, was ihm sonst nicht leicht fiel, sogar Gaben an; da gab es nicht die Gefahr von Mißverständnissen. Der Gedanke an Philipp erwärmte dem Apostel das Herz - jetzt da er sich in der Gefangenschaft befand. So zieht Paulus die Gemeinde ins Vertrauen, berichtet vom Verlauf und Ergehen der Evangeliumsverkündigung und verbirgt dabei seine eigenen Gefühle nicht.

Eine „gute“ Gemeinde. Das gibt es. Auch bei uns sind nicht alle Gemeinden gleich. Nicht immer entsprechen sich freilich wirtschaftliche und geistliche Lage einer Gemeinde.. Wenn man als „Gastprediger“ etwas herumkommt in den Gemeinden, spürt man Unterschiede. Es macht einfach Freude zu Gast zu sein, wenn einem eine Atmosphäre der Offenheit und Herzlichkeit entgegenkommt, von der man den Eindruck hat: das ist echt, das ruht auf einem Fundament, das trägt. Eine „gute“ Gemeinde ist allerdings keine Idealgemeinde, kein himmlisches Jerusalem. Woher auch! Selbst in Philippi gab es, modern gesprochen, Wachstumsreserven. Paulus sagt schlicht und deutlich: „Ihr könnt meine Freude vollkommen machen.“ Die Punkte, die Paulus aufführt, mögen uns aus den ersten Blick blass und dürftig erscheinen, aber sie haben es in sich. Vor allem geht es ihm um zwei Verhaltensweisen, zwei Tugenden, von denen er wünscht, das Leben der Gemeinde und ihrer einzelnen Glieder möge von ihnen ganz durchdrungen sein: Eintracht und Demut. Beide „Tugenden“ haben viel mit Christus zu tun, auf dessen Bekenntnis und Lob unser Text zusteuert. Beide haben auch mit uns heute zu tun, so veraltet sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Es lohnt sich nachzudenken über Eintracht und Demut, damals wie heute.

Eintracht in der Gemeinde - das scheint Paulus sehr wichtig zu sein. Gleich viermal wiederholt er seinen Wunsch: „dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid.“ (V.2). Das ist deutlich. Und es scheint nicht selbstverständlich zu sein - in einer „guten“ Gemeinde sowenig wie z.B. in einer „guten“ Familie. Eine tiefe Verbundenheit im Glauben kann auch Reibungsflächen schaffen. Da gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie streng und konsequent die Sätze der Bibel oder die Regeln des Glaubens aufzufassen seien. Dürfen schon kleine Kinder am Abendmahl teilnehmen? Geht es an, dass gleichgeschlechtliche Paare in der Kirche gesegnet werden? Kann man nicht auf einzelne Passagen des Glaubensbekenntnisses - z.B. „geboren von der Jungfrau Maria“ verzichten? Paulus hatte in seinem apostolischen Dienst ständig mit Fragen dieser Art zu tun. Es gab „Starke“ und „Schwache“, also solche, die sich bei der Befolgung überlieferter Gebote aus ihrem Glauben heraus mehr Freiheiten nahmen als andere, denen eine derartige Praxis viel zu weit ging. Und es waren da Gemeindeglieder, die sich mit ihrer Frömmigkeit anderen überlegen dünkten. In Philippi, wie gesagt, hielten sich die Differenzen in Grenzen. Aber: „einmütig“, „eines Sinnes“? Paulus spricht hier etwas an, was durch die Zeiten hindurch christliche Gemeinden beschäftigt. Oft sind es ja gar nicht die „großen“ Fragen. Nicht selten geht es um sehr irdische Probleme, die nur indirekt mit dem Glauben zu tun haben: die geplante Kirchenrenovierung, eine gerechte Verteilung der anstehenden Arbeiten, rechtzeitige Terminabsprachen, verdeckter Konkurrenzkampf zwischen den Mitarbeitern usw.. Oft sind die Streitpunkte am heftigsten unter denen, die mit besonders viel Herzblut an der Gemeinde hängen.

Paulus mahnt zur Eintracht.
Er tut es weder pathetisch drohend: „Seid einig, einig, einig“ - mit dem Unterton: „wie stehen wir sonst vor den andern, vor der „Welt“ da?“ noch tut er es leicht moralisierend nach dem Muster einer leicht verzweifelten Mutter, die ihre Kinder anfleht: „tut mir die Liebe und streitet euch nicht mehr!“.

Paulus mahnt auf eine nüchterne, menschliche Weise. Er erinnert die Philipper an ihre Möglichkeiten und rät ihnen, sich auf das zu besinnen, was ihnen gegeben ist. Um Paulus ganz zu verstehen, muß man auf die Fortsetzung unseres Textes achten mit dem berühmten Christuslied: „Seid unter euch so gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Christus ist Maß und Garant für die Eintracht in der Gemeinde. Es ist eine befreiende Entdeckung, wenn wir es begreifen: Unsere Eintracht beruht letztlich nicht auf gegenseitigen Sympathiegefühlen oder gar persönlicher Geistes und Seelenverwandtschaft, sondern in etwas Drittem, auf das wir gemeinsam bezogen sind. Unsere Eintracht gründet in der Person und Sache Jesu Christi. Wo uns diese Einheit bewußt ist, können Differenzen, auch theologische oder liturgische Differenzen, Unterschiede des Geschmacks oder des Moralempfindens nicht wirklich trennen. Es wäre niemals zu einer „Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre“ gekommen, wenn nicht Lutheraner und Katholiken sich vor und während aller notwendigen dogmatischen Kleinarbeit neu ihrer fundamentalen Gemeinschaft in Christus bewußt geworden wären. Der Weg zur Eintracht ist, so gesehen, einfach, aber er muß entdeckt und wirklich gewollt sein. Paulus liegt viel daran: „macht meine Freude vollkommen“.

Das zweite Denkwort, das uns der Text gibt, lautet. Demut. Das uns heute eher skeptisch stimmende Wort Demut lautet im Griechischen: Niedig-gesinnt-Sein (tapeinophrosyne).Solch eine Niedriggesinnung spielte für das Selbstverständnis der Christen in der Anfangszeit eine herausragende Rolle. Demut war in gewisser Weise Erkennungszeichen für gläubig gewordene Menschen. Können wir heute dieses Wort noch als Leitbegriff für die Glaubensexistenz gebrauchen? Demut - dieses Wort ist manchen geradezu Symbol für die Karikatur des Christseins: gebeugte Nacken, eingezogene Köpfe, Sklavengesinnung, eine Haltung der Unterwürfigkeit: immer schön „demütig“ sein. Für viele, vermutlich auch unter uns, rollt da ein ganzer Film ab.

Freilich, die Bilder, die so erscheinen, haben nichts mit dem zu tun, was Paulus meint, wenn er von „Demut“ spricht. Der große Theologe der Alten Kirche, Augustin von Hippo (gest. 454), verstand unter der Demut eine Gesinnung, mit welcher sich der Mensch als Mensch erkenne. Demütig zu sein bedeutet im Grunde nichts anderes als sich selbst als Mensch in seiner eigenen Menschlichkeit zu erkennen und anzunehmen. Demut ist das Ende der Zwänge zur Selbstidealisierung und zur unrealistischen Selbstrepräsentation nach dem Muster: Wer ist der Größte, wer kann mehr! So verstanden ist Demut kein Sklavenwort, sondern ein Freiheitssymbol: Ich darf und soll Mensch sein. Ich bin demütig, indem ich mir als Mensch treu bleibe und den Versuchungen widerstehe, aus mir mehr zu machen oder mehr machen zu lassen, als ich in Wahrheit bin.
Was Demut konkret bedeutet, lässt sich an den Grundbezügen meines Lebens ganz gut veranschaulichen.

Demütig sein gegenüber Gott. Gott ist Gott. Ich bin es - Gott sei Dank! - nicht und muß es nicht sein. Demütig zu sein bedeutet anzuerkennen, dass ich auf Gott angewiesen bin - auf sein Wort, auf seine Gnade, auf seine Gaben des Lebens. Johann Sebastian Bach, dessen Jubiläum wir gerade begangen haben, schrieb unter jedes seiner Werke die drei Buchstaben: SDG, Soli Deo Gloria, Gott allein die Ehre. Demut eines nach menschlichen Maßstäben wirklich Großen!

Ein Gottesdienst kann in diesem Sinne zu einer Art „Schule der Demut“ werden, also zum Gegenteil eines Jahrmarkts der Eitelkeiten für rhetorische, liturgische oder künstlerische Selbstrepräsentationsbedürfnisse. Da steht der Bankdirektor neben der Azubi am Tisch des Herrn mit der gleichen Geste des Empfangens. Gottesdienst zu feiern ohne die eitle Pose der Selbstdarstellung - das ist Praxis der Demut, zugleich der Beginn einer wirklichen Geschwisterschaft in Christus und vor Gott.

Demütig sein gegenüber der Natur. Ich gestehe, davon schreibt Paulus an die Philipper nicht direkt etwas.- Aber wenn wir heute von Demut sprechen - eben davon sich als Mensch zu erkennen - dann muß unser Verhältnis zur Natur angesprochen werden. Sich als kleiner Mensch vor der Brandung des Meeres oder der bizarren Kulisse einer Gebirgslandschaft zu erleben - das rückt die Maßstäbe zu recht. „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst“ (Psalm 8). Gewiß Menschen haben der Natur viele ihrer Geheimnisse entlockt, bis hin zum genetischen Code des Menschen. Aber wenn wir leben wollen, wenn wir als Menschen menschlich bleiben wollen, dann dürfen wir uns nicht zu Herrn und Gewalttätern über die Natur aufschwingen. Die ökologische Weisheit - „Wir brauchen die Natur, die Natur braucht uns nicht“ - rückt die Verhältnisse zu Recht. Wir werden nur eine menschliche Zukunft haben, wenn wir wieder die Demut lernen, uns als Menschen zu begreifen, die auf die Natur angewiesen sind.

Schließlich: Demut gegenüber unseren Mitmenschen: „in Demut achte einer den andern höher als sich selbst“ (V.3). Demütig sein heißt menschlich werden und menschlich handeln. Es bedeutet nicht, den Kopf gesenkt zu halten und auf alles Recht zu verzichten. Demut bedeutet vielmehr: erhobenen Hauptes und mit geöffneten Augen auf den anderen zuzugehen. Nur so kann ich auf den anderen schauen, nur so ist die soziale Aufmerksamkeit möglich, um die es Paulus hier geht: Sie nicht aus das eigene, sondern „auf das, was dem andern dient“. (V.4). die deutsche Herkunft des Wortes Demut hat auch mit dem Dienen zu tun: dienender Mut - das ist Demut. Sie ist so das Gegenteil aller Neidhaltungen, sie lenkt meine Sinne auf das, was die oder der andere entbehren muß.

Während ich diese Predigt schreibe, sind viele Einwohner Leipzigs bewegt von dem Tode des zweijährigen Dominic. Monatelang hatte ihn die heroinabhängige Mutter völlig vernachlässigt. Nachbarn vernahmen die Schreie des Kindes. Ein Hinweis bei den Behörden brachte kein Ergebnis. Letzte Woche ist Dominic verhungert - schlicht verhungert, weil tagelang unversorgt. Gab es zu wenig Aufmerksamkeit, zu viel Wegschauen und Weghören? Ich fühle mich als Prediger keineswegs zu Schuldsprüchen berufen.. So etwas fällt immer leicht, wenn man weit genug weg ist. Der Pfarrer, der die Beerdigung hielt, konnte nur durch den Hinweis trösten, nun sei Dominic dort, wo er es besser hat. So ist es. Aber was sagt das über uns? Das Schicksal des kleinen Dominic ist ein Signal. Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Menschen mit jener Demut, die Paulus meint: „Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was dem andern dient.“(V.4)

Der Weg zur Demut ist der Königsweg der Liebe. Er kann lang und beschwerlich werden. Und manchmal brauchen wir dringend der Führung und der Hilfe. Paulus war sich dessen wohl bewußt. Aber was er den Philippern dafür empfahl, war nicht eine neue diakonische, therapeutische oder spirituelle Methode. Vielmehr eröffnete er ihnen gerade in diesem Zusammenhang den Blick auf den, der in einzigartiger und grundlegende Weise in Demut lebt; der Mensch wurde und als sich als Mensch zu erkennen gab. Darum schreibt Paulus.

Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.
Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich, und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Eintracht und Demut - Christus ist das Ziel, aber er ist auch der Weg. Steht uns sein Bild vor Augen, bestehen Chancen, eine wirklich „gute“ Gemeinde zu werden.

Amen.

Anmerkungen: Der kurze Text aus dem Brief des Paulus an eine Gemeinde, der er sich innerlich besonders verbunden wußte, stellt eine recht allgemein gehaltene Paränese dar. Es gab offensichtlich in Philippi keine aktuellen Konflikte von besonderer Bedeutung, wie wir sie aus anderen Briefen kennen. Das macht die Verkündigungsaufgabe nicht leichter. Ich fokussiere die Paränese des Textes auf zwei Begriffe, die in ihm eine besondere Rolle spielen: Eintracht und Demut. Beide Wörter sind für heutige Hörerinnen und Hörer gleichzeitig sowohl verständlich wie fremd. Das läßt sie als Strukturbegriffe für die Predigt geeignet erscheinen. In der Auslegung des Demut-Begriffs wird die Textgrenze bewußt überschritten.

Die inhaltliche Ausrichtung der Predigt wird durch den nachfolgenden Christus-Hymnus, auf den der kleine Text ja bewußt zusteuert, bestimmt. In der Predigt wird er zum Schluß nur zitiert, nachdem freilich zuvor schon mehrfach versucht wird, auf ihn vorzubereiten.

Prof.Dr.Jürgen Ziemer
Bernhard-Göring-Str.14
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Tel. 0341-9615531
E-Mail: ziemer@rz.uni-leipzig.de


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