Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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6. Sonntag nach Trinitatis
30.7.2000
Apostelgeschichte 8,26-39

Anna-Katharina Szagun

Bei der Suche nach der Quelle begleiten...

Wir haben eine Tauferzählung mit drei Akteuren vor uns: Zwei konkrete Personen gibt es da und den unsichtbar Regie führenden Geist Gottes. Die beiden Personen begegnen sich ganz punktuell. Der eine hat die Quelle seines Lebens gefunden. Der andere ist auf der Suche danach. Beginnen wir bei letzterem.

Ein Hofbeamter, Schatzmeister, also Finanzminister der Königin Kandake ist auf der Suche. Hat der nicht schon alles? Wissen, Ansehen und Macht, hohes Einkommen, einflussreiche Freunde, offenbar auch Gesundheit – ist das nicht alles? Ist der Mann unersättlich?

ES MUSS IM LEBEN MEHR ALS ALLES GEBEN ist eine Geschichte von Maurice Sendak überschrieben: "Einst hatte Jennie alles. Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem viereckigen Kissen im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei verschiedenen Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer und einen roten Wollpullover für kaltes Wetter. Sie hatte zwei Fenster zum Hinausschauen und zwei Schüsseln für ihr Futter. Und sie hatte einen Herrn, der sie liebte. Doch das kümmerte Jennie wenig. Um Mitternacht packte sie alles, was sie besaß, in eine schwarze Ledertasche mit einer goldenen Schnalle und blickte zum letzten Mal zu ihrem Lieblingsfenster hinaus.
„Du hast alles“, sagte die Topfpflanze, die zum selben Fenster hinaus sah. Jennie knabberte an einem Blatt.
„Du hast zwei Fenster“, sagte die Pflanze. „Ich habe nur eines.“ Jennie seufzte und biss ein weiteres Blatt ab.
Die Pflanze fuhr fort: „Zwei Kissen, zwei Schüsseln, einen roten Wollpullover, Augentropfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und ein Thermometer. Vor allem aber liebt er dich.“
„Das ist wahr“, sagte Jennie und kaute noch mehr Blätter.
„Du hast alles“, wiederholte die Pflanze.
Jennie nickte nur, die Schnauze voller Blätter.
„Warum gehst du dann fort?“
„Weil ich unzufrieden bin“, sagte Jennie und biss den Stängel mit der Blüte ab. „Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben noch mehr als alles geben!“
Die Pflanze sagte nichts mehr. Es war ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie etwas hätte sagen können."

„Ich wünsche mit etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben mehr als alles geben!“ Jennie weiß nicht, was ihr fehlt. Aber sie spürt, dass es eine leere Stelle gibt, der sie aufsitzt, die unruhig macht, immer wieder. Die besitzbürgerliche Behaglichkeit ihres kleinen Hundelebens, das kann doch nicht alles sein. Dieses Unruhegefühl ist nicht rational begründet. Die Pflanze – Verkörperung einer stationären Vernunft – ist auf ihrer Ebene der Argumente nicht zu schlagen. Sie hat ja Recht: Jennie hat alles. Aber das hilft ihr nichts, und die rationalen Argumente auch nicht. Die kann man zerkauen und „runterschlucken“, - sie nähren einen nicht. Die leere Stelle bleibt und schmerzt. Das treibt Jennie zum Aufbruch.

Ob es dem Schatzmeister ähnlich ging? Ob am Anfang jeder existentiellen Suchbewegung so eine Jennie steht? Nach unserer Erzählung gibt es auch bei dem Schatzmeister eine „leere“ Stelle. Da, wo eben „Hofmeister“ vorgelesen wurde, steht im Urtext „Eunuch“. Ein Kastrierter ist er also, kastriert wie alle Hofbeamten damals, weil man so der Gefahr illegitimen königlichen Nachwuchses vorbeugen wollte.

Sich so zentral verkrüppeln zu lassen – ein großes Opfer für eine Karriere. Und wir? Kennen wir das nicht auch, dieses Gefühl des Beschnitten-Seins, - das Gefühl, irgendwie um das Wesentliche gebracht zu sein? Das kann doch nicht alles gewesen sein... Sie meldet sich immer wieder, unsere leere Stelle, manchmal vielleicht ganz verschlüsselt...

Man kann ganz verschieden damit umgehen: Die Unruhe-Stimmme versuchen zu überdecken mit Betriebsamkeiten, Anstrengungen, sich mit Reisen und Konsum ablenken, - vielleicht auch in Abenteuer oder Rausch flüchten – oder aber hinspüren, sich auf die Suche machen.

Der Schatzmeister ist aufgebrochen. Vermutlich lag der Anfang seiner Suchbewegung in einer Art innerem Nebel. Vage Ahnungen, wo das Fehlende zu suchen sei, gibt es vielleicht und Anstöße von außen. Wir kennen das aus eigenen Phasen des Aufbruchs, der Suche. Die Antennen sind sozusagen ausgefahren: Gedichte, Begegnungen, ein irgendwo aufgeschnappter Satz, alles kann zur Orientierungshilfe werden. Und manche Sackgasse, mancher Umweg wird gegangen, muss wohl auch gegangen werden. Für den Schatzmeister war Jerusalem ein Ort der Hoffnung, - sonst wäre er wohl nicht zehntausend Kilometer gereist, um dort anzubeten. Er fand dort offenbar noch nicht das, was seine leere Stelle füllte. Aber er bekam neue Anstöße, wo und wie die Quelle vielleicht zu finden sei: Eine Jesajarolle. Hieß es nicht, dort gebe es zukunftseröffnende Verheißungen auch für solche, die religiös sonst abgeschrieben waren, für Beschnittene wie ihn? Würde die Suche überhaupt irgendwann in Erfüllung enden? Ein bisschen wie Topfschlagen ist das mit existentiellen Suchbewegungen: Blind tasten wir nach dem noch unbekannten Schatz. Irgendwann mag es schon ganz heiß gewesen sein. Aber wie dicht man schon dran war, weiß man selbst nicht (bzw. erst aus der Rückschau).

Unser Schatzmeister ist nahe dran, als er sich da auf dem Wagen mit einem unverständlichen Text abmüht. Nur der letzte Stups fehlt ihm noch zur Entdeckung DAS IST ES JETZT FÜR MICH. Ich brauche bei meinen Suchbewegungen Hilfe durch andere, - durch Personen, die etwas wahrnehmen da, wo ich selbst noch blind bin. Aber HEISS oder KALT schreien so viele. Wem kann ich trauen?

Unsere Geschichte verrät uns wenig über Philippus. Was machte ihn vertrauenswürdig für den Schatzmeister? War es (und das wäre für uns kirchliche MitarbeiterInnen bzw. Religionslehrkräfte, aber auch für Eltern und Paten ja höchst bedenkenswert) vielleicht die Geduld und Unaufdringlichkeit, mit der Philippus dem Suchenden hinterher geht? Nicht vorweg schreitet in zielorientierter Belehrsamkeit, sondern hinterher geht, schweigend präsent. Wir erfahren auch nicht, wie lange diese stille Begleitung dauerte. Nur, dass Philippus, geistgeführt, im entscheidenden Moment zur Stelle ist, dann nämlich, als das innere Fragen des Schatzmeisters sich so zuspitzt, dass es nur noch dieser einen Begegnung bedarf.

Wie können wir uns Philippus vorstellen? Wir wissen immerhin, dass er das Wasser des Lebens für sich gefunden hat und dass er – erfüllt von diesem Wasser – offenbar überzeugend wirkt in der Begegnung. Er scheint transparent zu sein für die Wirklichkeit Gottes: Sie strömt durch ihn hindurch und erreicht das Gegenüber. Ein schönes Bild: Aber was stellen wir uns darunter vor? Solche „Wasser-Bilder“ von Menschen finden wir ja häufiger in der Bibel. Als erstes fällt mir ein Johanneswort dazu ein: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh.7, 38).

Wirklich ein schönes Bild mit einer großen Zusage. Aber ich fürchte, auch mit einer riesigen Illusion und Überforderung: Ströme lebendigen Wassers sollen da fließen! „Klingt so: Hast du Jesus, sind alle Probleme gelöst!“, meinten ein paar junge Leute, die zu einem Schattenspiel zu diesem Text grübelten und dann aufgaben. Und bei mir kommen zu diesem Bild Sätze hoch wie „Ein Christ ist immer im Dienst“ oder „Geben ist seliger als Nehmen“, auch Bilder von sich pausenlos freudig verströmenden Diakonissen. Heißt Glauben – von der Quelle her leben – nie mehr müde, nie mehr bedürftig zu sein, sondern zu unerschöpflicher Nächstenliebe und Aktivität befähigt oder auch verdammt zu sein? Können oder müssen Christen so leben? Vom Schatzmeister hieß es: „Und er zog seine Straße fröhlich“. Geht das überhaupt mit so einer Dauerüberforderung?

Mir fällt ein weiteres Wasser-Bild ein. In Jes. 58, 11 heißt es: „Du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt“.

Quelle und Garten sein: Waren Sie schon mal ein Garten? Vor einer Weile sollte ich einen spielen und war zunächst ganz hilflos: Wie spielt man einen Garten? In Form einer Pflanze, die langsam wächst? Oder als Erde, die den Boden gibt für alles, was wachsen will? Wie kann man ein Garten sein? Im Ausprobieren merkte ich: Alles Hektische, alles Bewegen und Machen musste abfallen – gar nicht so einfach, aber dann unendlich befreiend: Garten sein. Da gibt es Zeiten des Keimens, des Wachsens, des Reifens, der Ernte und auch der Ruhe. Garten sein: Im Rhythmus aufnehmen, verwandeln, abgeben, ruhen: Gelassenheit. Andere ernten, - nicht der Garten selbst. Andere holen sich nach ihren Bedürfnissen etwas von mir ab, wenn ich Garten bin. Und sie können nur das erwarten und holen, was mein Rhythmus zulässt und anbietet an Lebens-Mitteln. Garten zu sein heißt: Ich kann und muss nicht dauernd überquellen. Auch Herbst und Winter gehören zu mir.

Aber Garten zu sein mit der Taufzusage heißt auch: Ich darf mich auch in Zeiten des Zweifels, der Erschöpfung, der Mutlosigkeit auf meine Quelle der Tiefe verlassen. Luther soll in dunklen Stunden seines Lebens mit Kreide auf seinen Tisch geschrieben haben: „Ich bin getauft“. Ich darf mich darauf verlassen, dass mich die Quelle der Tiefe neu speist, - dass ich gereinigt und genährt werde in vielerlei Weise, - auch durch Menschen, die mit mir auf dem Wege sind.

Durchlässig sein für die Wirklichkeit Gottes als Garten, dem immer wieder neue Kraft aus der Tiefe zuströmt, heißt vielleicht auch, sich aus erfahrener Annahme heraus in Gelassenheit und Beständigkeit der Wirklichkeit neu stellen und selbst Annahme leben können. Bei Erich Fried finde ich das so ausgedrückt:

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist ein Unglück
sagt die Berechnung
es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst

Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Annahme erfahren trotz zentraler Verkrüppelung in Gelassenheit und Beständigkeit – lebendiges Wasser spüren: Da zieht einer fröhlich seiner Straße. Und wer weiß, wem er – geistgeführt – begegnen noch wird...

Prof. Dr. Anna-Katharina Szagun
Theologische Fakultät Rostock
Schröderplatz 3-4, 18051 Rostock
E-Mail: anna-katharina.szagun@theologie.uni-rostock.de


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