Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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3. Sonntag nach Trinitatis
9.7.2000
1. Johannes 1,5-2,6

Paul Kluge

Liedvorschläge, Gebete und Anmerkungen

Der alte Mann und die Schuld

Nichts ist mehr so, wie es früher war, dachte er oft, wenn er mit seinen 80 Jahren an die Gegenwart dachte. Seine beiden Urenkel z. B. - süße Kinder, zugegeben - hatten keine richtigen Eltern: Die Mutter des einen, seine Enkeltochter, lebte unverheiratet mit einem Mann zusammen; sein Enkelsohn ging nicht zur Arbeit, sondern war Hausmann, und seine Frau ging ihrem Beruf nach. Schon mit seinem Nachfolger war der Alte nicht einverstanden gewesen, doch was heute geschah, war einfach nicht in Ordnung. Einem jungen Kollegen hatte er seine Fachbücher schenken wollen, doch der hatte abgelehnt: „Historisch sicher ganz interessant, aber heute nicht mehr zu gebrauchen“, hatte der gesagt. Als ob heute falsch sein konnte, was damals richtig war. Nein, er sah es deutlich: Früher war es besser und heute vieles falsch. Das sagte er allen, ob sie es hören wollten oder nicht, und er ließ es durch sein Verhalten alle spüren. Doch anstatt auf ihn zu hören, kümmerten sie sich immer weniger um ihn und taten, was sie wollten.

So saß er oft in seinem Zimmer, saß zwischen seinen Möbeln und Bildern auf seinem geliebten Sessel, blätterte in seinen Büchern, vor allem aber in seinen Alben mit Fotos und Zeitungsausschnitten, und dachte zurück an früher. Kam dabei immer wieder an Punkte, an denen er innehielt und neu überlegen, seine Erinnerung zurechtrücken mußte.

Etwa, als er im Hungerwinter 1919 nachts in die Küche geschlichen war und sich ein Stück Brot geklaut hatte. Hatte er es denn wirklich gestohlen, oder hatte er sich nur genommen, was er brauchte? Ja, so war es gewesen: Er hatte Hunger gehabt und halt etwas gegessen. Seine Mutter hatte am nächsten Morgen geweint - aber das tat sie öfter zu der Zeit und gewiß nicht seinetwegen. Ein Kind hat ein Recht auf Essen, sagte er sich heute, das war in Ordnung damals. Und auch, daß er den Fußball behalten hatte, der eines Tages im Garten lag. Er hatte sich oft einen Fußball gewünscht, und nun lag da einer im Garten. Der gehörte zwar dem Jungen von nebenan, aber wenn der den Ball über die Hecke schoß ... Er hatte den Fußball in sein Zimmer getragen, dort versteckt. und ihn immer wieder beguckt und angefaßt. Als der Nachbarjunge ihn nach dem Fußball fragte, hatte er mit einem gezielten Schlag auf die Nase reagiert. Das hatte gereicht. Hätte sein Vater ihm einen Fußball geschenkt, wäre das nicht nötig gewesen; sein Vater hatte ihn gewissermaßen dazu gezwungen, den Ball zu behalten.

Später, als Student, hatte er ein Mädchen kennengelernt. Hübsch, aber aus einfachen Verhältnissen. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander, doch ausgerechnet, als er seine spätere Frau kennengelernt hatte, war dies Mädchen schwanger geworden. Er hatte dann die üblichen Alimente gezahlt. Daß dies Mädchen später zu trinken begann, lag wohl eher in deren Familie als an ihm. Und hatte sie ihn, den unerfahrenen Studenten, nicht geradezu verführt, ihn quasi einzufangen versucht? Sie hätte doch wissen müssen, daß sie nie die Richtige für ihn sein konnte.

Nach seinem Examen trat er in die NSDAP ein, beteiligte sich zwar nicht an der Reichskristallnacht, mied aber jeden Kontakt mit Juden. Dann kam der Krieg, und er wurde Soldat. Töte oder stirb, war die Devise, und er wollte leben. Also tötete er. Erhielt das Eiserne Kreuz für Tapferkeit vor dem Feind. Im Krieg herrschen eben andere Gesetze.

Als er von einem seiner Kameraden erfuhr, daß der schwul war, meldete er den gehorsamst seinem Vorgesetzten. Der Kamerad starb später in Buchenwald. Selber schuld; warum war der denn auch nicht normal.

Nach dem Krieg: Russische Gefangenschaft. Zwangsarbeit und Hunger. Ein Mitgefangener hatte eine Hand voll Kartoffelschalen ergattert. Andere schlugen ihn dafür tot. Er sah teilnahmslos zu. So war das halt damals..

Dann kam er zurück, fand Frau und Kinder wieder und baute sich eine neue Existenz auf. War cleverer als die anderen, die er ausbootete. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Er wagte halt mehr als die anderen, die nach und nach Konkurs gingen. Aber was hatte das mit ihm zu tun!

Sein geschäftlicher Erfolg hielt an. Seine Frau, seine Kinder sah er kaum noch. Er baute ein komfortables Haus, doch seine Frau zog mit den Kindern nicht ein. Wenn die seine Erfolge nicht zu schätzen wußten, mußten sie eben sehen, wo sie blieben. Als die Kinder älter wurden, meldeten sie sich wieder bei ihm. Er finanzierte ihre Ausbildung, wie es sich für einen guten Vater gehörte.

Als er 90 wurde, war sein Leben für ihn in Ordnung: Er hatte alles richtig gemacht. Nun wollte er sterben. Völlig überraschend kam seine jüngere Schwester zu Besuch. Er hatte sie - das war vor fast fünfzig Jahren gewesen - seit dem Streit um das Erbe der Eltern nicht mehr gesehen und wußte gar nicht, daß sie noch lebte. Nun war sie da. Sie sprachen über vergangene Zeiten, lachten über gemeinsame Erlebnisse und erzählten einander die eigenen Lebensläufe. Als der Alte mit seiner Version von seinem Leben geendet hatte, meinte seine Schwester: „Das hast du dir alles ganz schön so zurechtgelegt, daß du fein ‘rauskommst. Aber wenn du ehrlich zu dir bist, gibt es doch auch in deinem Leben ganz dunkle Punkte. Glaub’ mir: Du wirst erst dann Ruhe finden, wenn du dir diese dunklen Punkte eingestehst. Dann nämlich werden sie hell, und du findest Frieden mit dir!“

Er antwortete nicht, hätte sie am liebsten aufgefordert zu gehen. Doch als er abends in seinem Bett lag, dachte er: „Eigentlich hat sie ja recht, vieles war wirklich nicht ganz in Ordnung. Manches war vielleicht sogar falsch. Und ich habe Schuld auf mich geladen. Ganz normale Schuld.“ Noch einmal dachte er an das gestohlene Brot und an den Fußball des Nachbarjungen, an das Mädchen aus seiner Studentenzeit; erinnerte sich mancher Szene aus Krieg und Kriegsgefangenschaft, dachte daran, wie er Frau und Kinder vernachlässigt hatte, an den Erbenstreit mit seiner Schwester und wie er sie übervorteilt hatte. „Das alles habe ich getan!“ murmelte er vor sich hin. Ein Kloß saß in seinem Hals, und ein paar Tränen rollten über seine dünnen Wangen. „Vergib uns unsere Schuld!“ seufzte er. Dann wurde ihm ganz leicht ums Herz, und er konnte sich vorstellen, einen tiefen Atemzug zu tun und in Ruhe zu sterben.

Amen

Liedvorschläge: Wohl denen, die da wandeln, EG 295; Gott wohnt in einem Lichte, EG 379; So jemand spricht: Ich liebe Gott, EG 412; Laß mich, o Herr, in allen Dingen, EG 412.

Der Predigttext beschreibt etwas aus der Seelsorge Bekanntes: Die Unfähigkeit mancher Menschen, Schuld und Sünde einzusehen und einzugestehen. Die Folge reicht von Selbstgerechtigkeit bis zum Borderline-Syndrom. Solchen Menschen kann nicht vergeben werden (was denn auch, bei ihrer Unschuld!?), sie können Christi „Erlösung aus dem Elend“ nicht annehmen.

Der Predigttext legt mir ein ausführliches Sündenbekenntnis und eine dem entsprechende Gnadenzusage nahe. Ich nehme als Sündenbekenntnis Ps 90, 1 - 3, die Gemeinde singt ein Kyrie aus EG 178.1-.14; Ps 90, 7 - 9; - Kyrie - Ps 90, 11 + 12; - Kyrie. Dann als Gnadenzusage: Ps 32, 1 - 5; - ein Lobruf aus EG 181.1; - .8; - Ps 32, 8 + 11; - Lobruf

Fürbittengebet:

Gott, der du Licht bist: erleuchte uns, daß wir als Kinder des Lichts in deinem Licht wandeln; daß wir die Werke und Wege der Finsternis meiden; daß wir dein Wort und Gebot halten; daß wir unser gegebenes Wort halten, durch deine Gnade im Glauben zu bleiben.

Gemeinde: Sende dein Licht und deine Wahrheit, EG 172

Gott, der du Liebe bist: sei uns gnädig, daß wir als Kinder der Liebe in deiner Liebe wandeln; daß wir einander annehmen, wie du uns annimmst; daß wir deine Liebe weitergeben und Gemeinschaft untereinander halten.

Gemeinde: Sende dein Licht und deine Wahrheit, EG 172

Gott, der du Wahrheit bist: bewahre uns, daß wir in Demut vor dir und voreinander unsere Sünden bekennen; daß wir einander die Sünden vergeben; daß wir beim Namen nennen, was deiner Wahrheit widerspricht..

Gemeinde: Sende dein Licht und deine Wahrheit, EG 172

(Gebet aus: Ideenbörse Sonntagspredigt, Heft 17, Hrsg. E. Lade, mvg Verlag, 86895 Landsberg)

Paul Kluge, Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk in der Kirchenprovinz Sachsen,
Wasserstraße 3,
D-39114 Magdeburg.
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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