Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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6. Sonntag nach Ostern, Exaudi
4.6.2000
Jeremia 31, 31-34

Wolfgang Winter

Der neue Bund

Siehe, Tage werden kommen - so spricht Gott -, da schließe ich mit dem Haus Israel einen neuen Bund. Nicht wird dieser Bund sein wie der, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen. Sie waren es, die meinen Bund brachen, während ich doch Herr über sie war - so spricht Gott. Doch dies soll der Bund sein, den ich mit dem Haus Israel schließe nach jenen Tagen - so spricht Gott. Ich lege meine Tora in ihr Inneres und schreibe sie ihnen ins Herz. Und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. Und es wird nicht mehr einer den anderen und keiner seinen Bruder belehren: erkenne Gott, sondern sie alle werden mich erkennen, vom Kleinsten bis zum Größten - so spricht Gott -, denn ich werde ihre Schuld vergeben und ihrer Sünde nie mehr gedenken.

Liebe Gemeinde!

Vor einiger Zeit bekam ich Besuch von Zeugen Jehovas. 2 junge Männer, ordentlich in Schlips und Kragen, stellten sich vor und baten um ein Gespräch mit mir. Ich führte sie in mein Zimmer, und nach einigen Höflichkeiten zu Beginn kamen sie schnell zur Sache. Sie sagten, sie wollten mich zur Entscheidung rufen. Der Kampf Gottes gegen den Satan sei in vollem Gange. Die Kriege auf der Welt, die Gewalt, die Zerstörung, Ausbeutung von Mensch und Natur - dahinter stecke der Satan. Aber Gott werde bald ein Ende machen und Feuer und Schwefel über die Bösen regnen lassen. Er werde sich mit Macht durchsetzen und die Bösen ausrotten. Millionen würden zugrunde gehen - aber ich könne mich jetzt noch für Gottes siegreiche Seite entscheiden.

Ich merkte, daß ich unterdessen unruhig wurde. Ich fing an, mich zu ärgern. Dann sagte ich sehr scharf: "Wie können Sie und Ihr Gott das Leben von Millionen Menschen so kaltherzig verloren geben!"

Ich hatte das Gefühl, einen unverdaulichen Brocken geschluckt zu haben, den ich unbedingt wieder los werden wollte. Die Atmosphäre war nun gespannt und feindselig geworden.

Und dann geschah etwas Merkwürdiges: ich sah hinter den verschlossenen und harten Gesichtszügen der beiden Männer weiche und offene Gesichtszüge junger Leute aufleuchten. Zwei Menschenbrüder. Es war, als ob ich Teil einer anderen Geschichte geworden wäre - einer Geschichte, in der der verstehende und liebevolle Blick nicht bricht unter dem Ansturm des Negativen, sondern standhält. Gottes Blick auf uns Menschen, und Gottes Geschichte mit uns Menschen: der Herr läßt leuchten sein Angesicht über uns.

Der Rest des Gesprächs ist kurz erzählt: ich gewann meine Fassung wieder, die Atmosphäre entspannte sich und die Verschiedenheit unseres Frömmigkeitsstils konnte zunächst einmal, jedenfalls von mir, akzeptiert werden.

Auch in unserem Text geht es um den Durchbruch durch eine gewohnte und vertraute Sichtweise und die Eröffnung einer ganz neuen Perspektive.

Sehen wir näher hin. Der Text setzt die Katastrophe Jerusalems zu Beginn des 6. Jahrhunderts voraus. Die Stadt ist von den Truppen Nebukadnezars erobert worden. Das kleine Reich Juda ist vom Großreich Babylon annektiert worden. Viele Menschen werden nach Babylon deportiert. Alles politische Geschick hat nichts genutzt. Alle religiösen Anstrengungen, aller Einsatz der Propheten - vergeblich. Nur wenige haben die Situation realistisch eingeschätzt und mit dem Sieg der Babylonier gerechnet. Zu ihnen gehört der Prophet Jeremia. "Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch sagen: Ihr werdet nicht untertan sein müssen dem König von Babel! Denn sie weissagen euch Lüge!" Für diese Worte war Jeremia angefeindet und isoliert worden. Man hatte ihn des Defätismus bezichtigt und verhaftet. Seine Spur verliert sich im Chaos des Krieges.

Unser Text, entstanden nach der Katastrophe, knüpft hier an und eröffnet den Geschlagenen eine großartige neue Aussicht: Tage werden kommen, da schließe ich mit euch einen neuen Bund. Wer ihr auch seid - gebrochen und verzweifelt oder trotzig; oder traurig; oder mit Schuldzuweisungen beschäftigt - wer ihr auch seid, Gott jedenfalls kündigt seine Treue zu euch nicht. Im Gegenteil: er wird sich noch enger mit euch verbinden. Einen neuen Bund wird er mit euch schließen.

Dieser neue Bund wird so eng, so intensiv sein, daß zwischen Menschen und Gott nichts Trennendes und Zerstörerisches mehr Platz hat. Gott - eingeschrieben in das menschliche Herz.

Wenn man diesen Text auf sich wirken läßt, ist es vielleicht die großartige Einfachheit der Bilder, die anrührt. Gott kommt zu den Menschen. Nichts wird uns trennen von seiner Gemeinschaft.

Was jeder Mensch, was wir sind, das sind wir durch Gott. Wir müssen nur nach innen blicken, um diese andere Dimension des Lebens zu sehen. Der Blick sieht dann hinter der lebensgeschichtlich gewordenen Landschaft eines menschlichen Gesichtes noch eine andere Landschaft: Gottes Angesicht, wie es über den Menschen leuchtet. Diese Perspektive hat etwas Sperriges und Widerspenstiges gegenüber dem gerade heute wachsenden Zwang, menschliches Leben auf Leistung und Nützlichkeit zu gründen. Es gibt wirklich jemanden, der den Blick nicht von uns abwendet - komme, was wolle.
Ich will euer Gott sein - ihr sollt mein Volk sein.

Nicht nur ich bin gemeint, sondern die anderen auch. Auch die anderen sind in den Bund einbezogen. So werden sie zu meinen Menschenbrüdern und Menschenschwestern. In aller Unterschiedlichkeit und oft Konflikthaftigkeit von menschlichen Beziehungen gibt es auch diese andere Dimension: unsere Verbundenheit untereinander durch Gottes Zuwendung zu uns. Gottesliebe und Nächstenliebe gehören so zusammen, daß wir im anderen Menschen mehr sehen, als auf der Oberfläche des Verhaltens zu sehen ist: den von Gott geliebten Mensch.

Wir haben wohl alle genügend Lebenserfahrung, daß wir wissen: wir können tun oder lassen was wir wollen - ohne Liebe wird alles langsam aber sicher hohl. Ich meine mit Liebe nicht sentimentale Gefühle, sondern den Respekt und die Achtung vor dem Menschenbruder und der Menschenschwester.

Das gilt auch und gerade von den Menschen, die uns unangenehm sind. Martin Luther hat einmal die Blickrichtung Gottes im Unterschied zur Blickrichtung des natürlichen Menschen so beschrieben: "Menschen wollen in die Tiefe nicht sehen. Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon." Gott aber sieht die an, die in der Tiefe sind. Die menschliche Blickrichtung muß sich immer wieder umkehren, um Gottes Blick auf den Menschen zu entsprechen.

Liebe Gemeinde, es ist schwer, Gottes Bund mit uns durch die Oberfläche des Alltags hindurch sehen zu lernen - als tragenden Grund unseres Lebens. Die tragende Dimension der Wirklichkeit entzieht sich immer wieder unseren Blicken. Die Wirklichkeit des lebendigen Gottes in der Wirklichkeit des bloß Faktischen von Ereignissen und von Gefühlen und von Normen sehen zu lernen - das läßt sich nicht machen und bewerkstelligen.

Die neue Schöpfung - Gott, eingeschrieben in das menschliche Herz - steht noch aus. Aber es gibt schon jetzt Momente im Leben, die auf diese Zukunft verweisen. Offenheit für solche Momente im Leben läßt sich vielleicht lernen - alles andere ist dann Geschenk.

Marie-Luise Kaschnitz redet davon so:

Manchmal stehen wir auf
stehen wir zur Auferstehung auf
mitten am Tage
mit unserem lebendigen Haar
mit unserer atmenden Haut.

Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.

Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

Wolfgang Winter, Studienseminar der Ev.-luth Landeskirche, Von-Bar-Str. 2/4, 37075 Göttingen, Tel.: 0551-49990-31
E-Mail: stg@gwdg.de


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