Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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Worte vom Kreuz
Predigtreihe für die Passionszeit 2000
6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum

16.4.2000
Lukas 23,46

Christian-Erdmann Schott

Text: Lk. 23,46: „Und Jesus rief laut und sprach: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“. Und als er das gesagt, verschied er.“

Liebe Gemeinde!

Unter den Evangelisten ist Lukas nicht nur der bedeutendste Erzähler. Er ist auch der bedeutendste Seelsorger, das heißt: Er ist der Evangelist, der mit der Gestaltung des Evangeliums die Menschen vor allem aufrichten und trösten, ihre Lebenskraft, ihre Seele stärken will.

Zu keiner Zeit haben wir diese Stärkung so nötig wie in der Stunde unseres Todes. Dann, wenn wir uns aus allen Bezügen dieses Lebens herausnehmen, alles loslassen müssen und allein, ungesichert und ungeschützt dem Fremden, Dunklen, das nach uns greift, gegenüberstehen, dann ist es eine ungeheure Stärkung, wenn wir wissen: Wir dürfen Vertrauen haben. Wir dürfen uns, unser Leben, unsere Angst, unsere Schmerzen, unseren Abschied, unsere Hoffnung, alles in „die Hände des Vaters“ legen; an ihn zurückgeben, der uns mit der einen Hand das Leben gab und es mit der anderen wieder an sich nimmt. Am Sterben Jesu können wir lernen, wie wir sterben können. Er zeigt es uns. Er macht es uns vor. Er geht voran. In der Gestaltung des Lukas ist dieses letzte Wort an den Vater nicht allein ein Wort seines persönlichen Glaubens, seines individuellen Vertrauensverhältnisses zu Gott. Es ist auch ein Vermächtnis an die Gemeinde, die schon am Fuße des Kreuzes andeutungsweise erkennbar ist und in deren Überlieferung wir bis heute stehen.

So zeigt uns diese letzte Stunde Jesu: Christus stirbt als Christ – ohne Bitterkeit, in überwundener Angst, getrost. Er möchte uns Mut machen, auch so zu sterben. Paul Gerhardt hat das dann in das Gebet gefaßt: „Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und laß mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl!“ (EG 85, 9)

Und so ist Jesus Christus gestorben: Nachdem er laut gerufen hatte, „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“, konnte er sich aufgeben und ganz in Gott fallen lassen: „Und als er das gesagt, verschied er“.

Mit diesem nach Lukas letzten Wort Jesu wird unsere Lage angesichts des Todes, aber auch angesichts unserer Schuld und angesichts unserer letzten, uns nicht immer bewußten, meistens verdrängten, aber immer vorhandenen Einsamkeit geklärt. Denn es wird deutlich, daß es zuletzt nur einen Ansprechpartner für uns Menschen gibt. Alle anderen Mächte, auch alle anderen Menschen, sind dann nicht mehr wichtig. Nur Gott bleibt. Er ist der Herr, größer als alles, auch größer als unsere Schuld, als die Macht des Todes und nimmt unsere Einsamkeit auf in seine Gemeinschaft.

Diese Klarstellung könnte uns lange vor dem Tod helfen, die Dinge richtig einzuordnen und zu gewichten, ohne sie zu verachten.

Zu dieser Ausrichtung wollte uns Jesus Christus ermutigen. In der Todesstunde ist die letzte Möglichkeit dafür gegeben. Den Gewinn, den wir davon haben – Frieden, Freude aus dem Glauben, Leben – könnten wir schon früher haben. Dann nämlich, wenn wir anfangen, ernsthaft und ehrlich mit Gott zu sprechen, immer wieder, so daß es zu einer Gewohnheit wird. Jesus hat das offensichtlich getan. Es wird öfter in den Evangelien berichtet, daß er sich zurückgezogen und für sich gebetet hat.

So hat er auch dieses Wort, das er nach Lukas in seiner Todesstunde gesprochen hat, dem großen Gebetbuch seines Volkes, der Bibel, den Psalmen entnommen. Hier ist es Psalm 31, Vers 6. Jesus Christus lebte mit seiner Bibel. Das hat ihm Kraft und Ausdauer im Gottvertrauen gegeben. Mit der heute modischen Verachtung des Auswendiglernens von Bibelworten oder Gebeten (Psalmen, Gesangbuchversen) wird man sich auf Jesus Christus nicht berufen können. Im Gegenteil. Er zeigt uns, daß wir häufig nur das inwendig haben, was wir auswendig gelernt haben.

Zu den schönen Folgen der Ausrichtung unseres Lebens auf Gott schon vor der letzten Stunde gehört die innere Unabhängigkeit Zeiterscheinungen, Dingen, Moden und Methoden gegenüber und eine Spur von Heiterkeit im Umgang und im Blick auf Zurücksetzungen oder Verletzungen. In der Stunde des Todes kann sie sich letztgültig zeigen: Sie kann hervortreten als Kraft zum Segnen. Der Christ am Kreuz bietet dem Betrachter weder die geballte Faust noch die Beschimpfung der Gegner.

Er bietet die ausgestreckte, segnende Hand dessen, der mit der Welt und seinem eigenen Leben seinen Frieden gemacht hat und aus diesem Frieden heraus die stärkt, die noch kämpfen müssen und noch nicht so weit sind wie er; ihn aber sehen, sich an ihm orientieren und wissen: So schwach das Kreuz aussieht und daherkommt, ist es gar nicht. Die Kraft, die von ihm ausgeht, ist tiefer und stärker als alle Kraftquellen der Welt.

Bis heute glaubt die christliche Gemeinde, daß Gott das Gebet Jesu am Kreuz erhört und ihn in sein Reich aufgenommen, zu sich erhöht hat. Auferstehung, Himmelfahrt, „Sitzen zur Rechten des Vaters“ (sessio ad dexteram) wollen das aussagen. Sie halten aber immer auch fest, daß es sich bei Erhörung um Erhöhung, nicht um eine Entrückung oder um ein Verlassen der Gemeinde handelt; vielmehr um eine neue Art ihrer Begleitung durch Teilnahme an der Herrschaft Gottes, als Mitregent Gottes. Darum ist mit Erhöhung eine andere, neue Art des Bei-Uns-Seins gemeint. Es kann die Gemeinde stärken auf ihrem Weg durch die Geschichte, wenn sie an ihm festhält, sich von seinem Wort nicht abdrängen und von seiner Stimme nicht weglocken läßt in unwegsames Gelände: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins“ (Joh. 10,27-30).

Da haben wir sie wieder, diese beiden Bilder von der Hand und vom Vater. Hier gelten sie zunächst der Gemeinde als ganzer, dem wandernden Gottesvolk. Aber sie gelten mit ihren Zusagen auch für den Einzelnen als Teil dieser Gemeinschaft der Glaubenden. Denn auch als Individuum bin ich von Gott gesehen und gekannt. Ich kann ihm vertrauen, weil ich weiß, auch meine persönliche Lebens-„Zeit steht in Gottes Händen“ (Psalm 31,16).

Das Wort von den „Händen Gottes“ ist ein sehr altes und trotzdem nicht verbrauchtes Bild. Jesus war es wichtig. Die Gemeinde hat durch drei Jahrtausende mit ihm gelebt. Wenn wir es groß machen in unseren Herzen und vor unserem geistigen Auge, spüren wir, wie durch die Kraft dieses Wortes alles andere auf seine natürlichen Maße zurückfällt.

Amen

Dr. Christian-Erdmann Schott
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