Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch
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5. Sonntag der Passionszeit, Judika
9.4.2000
4. Mose (Numeri) 21,4-9

Peter Kusenberg

Liebe Gemeinde,

Der Predigttext für den heutigen Sonntag, den wir eben gehört haben, berichtet von einem Zwischenfall während der so genannten Wüstenwanderung der Israeliten. Zur Erinnerung: Mose hatte das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreit und an seiner Spitze den Weg in das Gelobte Land angetreten. Aber dieser Weg in das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen sollten, hatte sie zunächst in die Wüste geführt. Statt Überfluss zunächst Entbehrungen und Strapazen. Statt der erhofften Freiheit ein Katalog von 10 Geboten, den Mose auf 2 Tafeln von seiner Begegnung auf dem Gottesberg zurück brachte.

Sicher, es war auf wunderbare Weise immer wieder weiter gegangen, so aussichtslos die Lage manchmal auch erschienen war. Wasser war plötzlich aus den Felsen gesprudelt, als ihr Vorrat zu Ende war, und Nahrung lieferte ihnen das wundersame Manna, jene Körnerspeise, deren Ursprung sie sich nicht erklären konnten.

Doch auf Dauer verlieren auch Wunder ihren Reiz, wenn sie zur täglichen Gewohnheit werden. Denn eine lange Zeit waren sie schon unterwegs - von fast 40 Jahren sprechen die Überlieferungen. Selbst wenn man die Erzählfreude der Orientalen und ihren Hang zu Übertreibungen berücksichtigt, so ist doch gewiss, dass es sich um eine sehr lange Zeitspanne gehandelt haben muss.

Jeden Tag Manna - da vergoldet die Erinnerung sogar die Zeit der Zwangsarbeit für den ägyptischen Pharao. „Zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens!“ wieder einmal wird der Ruf laut, der stets in solchen Situationen zu hören war. „Warum habt ihr uns hierher geführt“, murren die Unzufriedenen, und sie fragen Gott und Mose gleichermaßen, „sollen wir in der Wüste sterben?“

Verdrängt haben sie die Schikanen der Aufseher Pharaos, vergessen sind die Schindereien und die Willkür jener Zeit. Sicher, es war manchmal hart, sagen viele, aber man wusste doch wenigstens, woran man war. Aber hier - diese nicht enden wollende Wanderung durch die Wüste in der zweifelhaften Hoffnung auf eine bessere Zukunft?

Ihre Geduld war - wieder einmal - am Ende. Sie sahen den Sinn des ganzen Unternehmens nicht mehr ein. Mose schwieg zu ihren Vorwürfen. Er hatte so eine Ahnung, dass bald etwas geschehen würde. Im Laufe der Zeit hatte er sozusagen eine Art sechsten Sinn dafür bekommen. Und jetzt sagte ihm sein Gefühl: bald wird etwas passieren!

Er hatte sich nicht getäuscht. Diesmal ist es eine Schlangenplage, die die Israeliten mitten in ihren Grundsatzdiskussionen und Debatten überrascht. Und sogleich dreht sich die Stimmung im Lager um 180 Grad. Kaum dass die ersten Toten zu beklagen sind, die an Schlangenbissen starben, kommen sie in Scharen. „Mose, du musst uns helfen. Du hast doch ein besonderes Verhältnis zu unserem Gott. Du musst für uns beten. Es tut uns ja alles so leid.“

Und Mose? Ergreift er die Gelegenheit, eine flammende Bußpredigt zu halten? Entlädt er gar seinen Zorn über ihren Kleinglauben in furchtbarem Strafgericht wie seinerzeit, als sie um das Goldene Kalb getanzt waren?

Nein. Mose tut, worum sie ihn bitten. Er betet für das Volk. Er hat in den Jahren in der Wüste wohl gelernt, diese Menschen zu verstehen. Vielleicht hat er auch bei sich selbst Zweifel entdeckt, die denen gleichen, die die anderen plagen. Vielleicht hat er dabei gespürt, dass der Zweifel allein nicht schon Sünde sein muss. Im Gegenteil, dass dieser Gott, der immer unsichtbar und doch stets nahe ist, auch den Zweifel zulässt.

Deshalb betet er jetzt für das Volk. Und Gott gibt ihm Antwort. Eine klare Anweisung. Mose soll ein Symbol der tödlichen Bedrohung anfertigen, ein Schlangenbild aus Eisen, und er soll es vor aller Augen aufstellen. Wer davor die Augen verschließt, die Gefahr nicht wahr haben will, dem ist nicht zu helfen. Die Menschen aus dem Volk, die weiterhin entweder in nostalgischem Selbstbetrug oder in Träumen vom künftigen Schlaraffenland leben, können mit dem Bildnis nichts anfangen.

Die anderen aber, die das Bildnis der Schlange ansehen, sind auf die drohende Gefahr vorbereitet. Selbst wenn sie gebissen wurden, heißt es, blieben sie am Leben. Sie versuchten nicht, die Bedrohung aus ihrem Leben zu verdrängen, sondern erkannten, dass Leiden, Krankheit und Tod ebenso Bestandteile der menschlichen Existenz sind wie Glück, Freude und Gesundheit. Und sie sahen daran, dass der Gott, der sie befreit hatte, nicht nur ein Gott für die angenehmen Seiten des Daseins war. Sondern ein Gott, der auch in der Bedrohung und im Leid nahe ist.

Die Geschichte mit dem Bildnis der eisernen Schlange hat mich an ein anderes Bildnis erinnert. Es ist auch ein Zeichen, das mit dem Tod zu tun hat, und das dennoch immer wieder Menschen zum Leben aufrichtet. Es ist das Bild des gekreuzigten Jesus. Und ich erinnere mich an die Frage: wie kommt ihr Christen eigentlich dazu, euch so ein grausames und tödliches Bild in die Stätten eurer Andacht zu stellen? Die Darstellung eines Menschen, der hingerichtet ist, als Symbol der Gottesverehrung? Auf dem Altar? Oder in Klassenzimmern, aus denen es manche am liebsten für immer verbannt sähen?

Die Antwort?

Weil unser Gott den ganzen Menschen kennt. Nicht nur seine guten Seiten, sondern auch das Dunkle, das er in sich trägt. Er stellt mir Forderungen, aber er kennt auch meine Grenzen. Die Kluft zwischen Gottes Anspruch auf mein Leben und meinen eigenen Unzulänglichkeiten hat Jesus Christus in seiner Passion, in seinem stellvertretenden Leiden und Sterben überwunden. Sonst hätten wir eine Welt voller gescheiterter, verlorener Menschen, weil sie dem Anspruch Gottes nicht genügten, so sehr sie sich auch bemühten.

Christen dagegen leben aus der Vergebung. Sie brauchen nicht mehr zu scheitern an der Erfahrung, dass sie bei aller eigenen Mühe doch immer wieder verzagt, ungläubig und kraftlos werden. Das Kreuz ist das Zeichen des Vertrauens darauf, dass der, der gekreuzigt wurde, mir vergibt und mich so immer wieder neu stärken und mir Kraft und Hoffnung geben will.

Amen.

Peter Kusenberg, E-Mail: peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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